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Das Reitzle-Projekt: Wie Linde zum zweitwertvollsten Dax-Konzern wurde

Nach der umstrittenen Fusion mit Praxair ist Linde zum zweitwertvollsten Dax-Konzern aufgestiegen. Trotzdem gibt es Kritik an der Strategie des Unternehmens. Ein neuer COO und der Fokus auf Wasserstoff sollen weiteres Wachstum bringen.

In Industriekreisen gilt der 56-jährige Inder als nächster Linde-Chef gesetzt. Im Januar übernimmt er zunächst den COO-Posten. Foto: dpa
In Industriekreisen gilt der 56-jährige Inder als nächster Linde-Chef gesetzt. Im Januar übernimmt er zunächst den COO-Posten. Foto: dpa

Für Wolfgang Reitzle muss es ein besonderer Triumph gewesen sein: Im November konnte der langjährige Linde-Chef und heutige Chairman des Gasekonzerns am Bildschirm verfolgen, wie die Aktie ein Allzeithoch von 221 Euro erreichte. Linde war plötzlich genauso viel wert wie SAP – lange Zeit unangefochten Deutschlands wertvollstes Unternehmen im Leitindex Dax.

Aktuell liegt Linde mit rund 110 Milliarden Euro Börsenwert auf einem soliden zweiten Platz. Leise hat sich der Konzern dorthin vorgearbeitet – und überraschend. Denn die 2018 besiegelte Fusion mit dem amerikanischen Konkurrenten Praxair war so umstritten wie kaum ein anderer Zusammenschluss in der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

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Doch mit deutlich mehr als 40 Prozent Wertzuwachs seit dem Start der neuen Linde PLC mit Sitz in Irland im Oktober 2018 ist es eine Erfolgsgeschichte. Es war Reitzles Idee und sein Projekt, und jetzt zieht der 71-Jährige zufrieden Bilanz.

„Es läuft noch besser, als ich erwartet hatte“, sagt er im Gespräch mit dem Handelsblatt. Die Integrationsphase sei weitgehend beendet. „Wir haben die Synergien nicht nur schneller geholt, sondern auch mehr als geplant.“

Ein weiteres Ziel wurde vorzeitig erreicht. Die Linde-Aktie wird in Frankfurt und an der Wall Street gehandelt. „Wir wollten nach drei Jahren bei einem Börsenwert von 100 Milliarden Dollar sein“, sagt Reitzle. Zum Zeitpunkt der Fusion waren es gut 80 Milliarden Dollar.

Aktuell liegt Linde mit mehr als 130 Milliarden Dollar deutlich darüber. „Das ist auch eine persönliche Genugtuung für mich“, sagt Reitzle. Er sieht den Zusammenschluss als eine beispielhafte Fusion unter Gleichen, und das auch noch transatlantisch.

Doch Reitzle weiß, dass sich die Linde-Führung nicht selbstzufrieden zurücklehnen darf. Es gilt, die Topposition zu verteidigen – in der Spitzengruppe des Dax und als Weltmarktführer bei Industriegasen. Die Strategie dazu liegt auf dem Tisch: Eine absehbar neue Führung und der Fokus auf Wasserstoff-Technologien sollen den Konzern weiter voranbringen.

Sanjiv Lamba könnte nächster Linde-Chef werden

Noch steht CEO Steve Angel bei Linde voll in der Verantwortung. „Wir haben inzwischen zwei Weltklasse-Unternehmen integriert und in Zeiten einer globalen Pandemie eine operative Marge auf Rekordniveau erzielt“, sagt der Amerikaner, der den Konzern aus Danbury an der US-Ostküste steuert, dem Handelsblatt. Der Gewinn werde in diesem Jahr prozentual zweistellig steigen.

Auch für 2021 ist Angel zuversichtlich. Das Geschäftsmodell sei widerstandskräftig. „Stabile Volumen vorausgesetzt, bin ich zuversichtlich, dass wir im nächsten Jahr beim Ertrag erneut zweistellig zulegen können.“

Angel gilt als Manager, der Unternehmen gnadenlos auf Effizienz trimmt. Reitzle wollte den früheren CEO von Praxair unbedingt als Chef des neuen Konzerns. Er hat dies, so wie das gesamte Fusionsprojekt, damals gegen alle Widerstände durchgeboxt.

Vom „größten Skandal in der deutschen Wirtschaftsgeschichte“ sprach im Frühjahr 2017 ein Aufsichtsrat der Arbeitnehmerseite bei einer Demonstration vor der Linde-Zentrale. „Es geht darum, Herrn Reitzle zu befriedigen“, schimpfte der damalige bayerische IG-Metall-Chef.

Zwar kritisieren Arbeitnehmervertreter heute, dass der Konzern zu sehr allein auf den Shareholder-Value – also die Interessen der Aktionäre – setze. Die Kritik ist insgesamt aber leiser geworden, da die Integration erstaunlich ruhig verlaufen ist.

Doch nach dem Umbruch ist vor dem Umbruch. In den vergangenen Jahren hatte sich Angel stark auf die Integration sowie auf die Verbesserung der Rendite konzentriert. „An den Margen kann man nicht ewig weiter drehen“, sagt ein Insider. Linde brauche nun wieder verstärkt unternehmerische Wachstumsperspektiven.

Der Umbruch in der Führungsspitze ist bereits eingeleitet. Als Nachfolger Angels steht Sanjiv Lamba bereit. Das Vorstandsmitglied übernimmt zum 1. Januar die Position des Chief Operating Officers (COO). „Er hat das Rennen gewonnen und ist jetzt verantwortlich für das weltweite operative Geschäft“, sagt Reitzle.

In Industriekreisen gilt der 56-jährige Inder als Nachfolger Angels gesetzt. Reitzle will das nicht bestätigen, sagt aber auch: „Das nächste Jahr wird für Lamba das entscheidende sein.“ Das Board werde rechtzeitig über die Nachfolge Angels entscheiden. In den Kreisen heißt es, dass Lamba etwa nach einem Jahr als COO den Vorstandsvorsitz übernehmen könnte, wenn alles gut läuft.

So war auch der Aufstieg Angels verlaufen. „Natürlich wird es den Tag geben, an dem ich nicht mehr CEO dieses Unternehmens sein werde“, sagt der Linde-Chef, „aber dafür gibt es noch keinen festgelegten Zeitplan.“ Allzu früh will der Amerikaner nicht als „Lame Duck“ enden.

Dass der langjährige Linde-Manager Lamba das Rennen machen dürfte, ist auch dem Proporz im fusionierten Unternehmen zu verdanken. Gestartet ist es mit dem Linde-Mann Reitzle als Chairman of the Board und Praxair-CEO Angel als Vorstandschef. Manche Insider hatten damit gerechnet, dass ein Praxair-Manager Angel nachfolgen wird. Schließlich wurde die Fusion von außen als versteckte Übernahme durch die Amerikaner betrachtet – zumindest, was Stil und Kultur angeht.

Doch die Personalie zeige, heißt es intern, dass die Linde-Seite im neuen Konzern eine zentrale Rolle spiele. „Wir sind keine amerikanische oder deutsche Firma, sondern eine rein globale“, sagt Reitzle. Die Kultur beschreibt er so: „Es spielt keine Rolle mehr, von welcher Seite eine Initiative kommt. Uns interessiert nur Performance.“

Im dritten Quartal 2020 steigerte Linde das bereinigte operative Ergebnis um neun Prozent auf 1,5 Milliarden Dollar. Die solide Entwicklung ist teils branchenbedingt. Im Gasegeschäft beliefert Linde die verschiedensten Industrien in aller Welt und kann dabei auf langfristige Aufträge bauen. Abschwünge spüren die Anbieter meist etwas gedämpft und mit Verzögerung.

Der Gasemarkt ist seit Jahrzehnten oligopolistisch geprägt. Größe spielt daher eine wichtige Rolle. Der französische Linde-Konkurrent Air Liquide hatte mit der Übernahme von Airgas aus den USA zwischenzeitlich die Weltmarktführung übernommen, Linde holte sie sich mit der Praxair-Fusion zurück.

Analyst Markus Mayer von der Baader Bank sieht Linde unter den großen Herstellern aktuell am besten positioniert. Auch er wertet den Zusammenschluss als Erfolg. „Das Linde-Management hat eine super Perfomance geschafft“, sagt er und meint damit nicht nur die Zahlen, sondern auch das Präsentieren vor Investoren. In der Finanzkommunikation sei es früher bei Linde eher spröde zugegangen, so Mayer. Jetzt herrsche amerikanisch geprägte Überzeugungskultur.

Arbeitnehmer kritisieren Shareholder-Value-Denken

Gesteuert wird Linde heute aus den USA. Während an den dezentralen Gasestandorten die Geschäfte normal weiterliefen, wurden während der Integration Doppelfunktionen abgebaut. Von der einstigen Hauptverwaltung in der Münchener Innenstadt ist nichts mehr geblieben.

Die Arbeitnehmervertreter stoßen sich daran noch immer. Lange hatten sie sich gegen die Fusion gewehrt. Sie fürchteten, die versprochenen Synergien könnten vor allem in Deutschland gehoben werden. Und sie sahen den Verlust der deutschen Mitbestimmung: Schließlich ist die neue Linde keine AG, sondern eine PLC mit Sitz in Irland. Einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat gibt es auf Konzernebene nicht mehr.

„Linde ist ein amerikanisches Unternehmen geworden, das merkt man an vielen Stellen“, sagt Daniele Frijia von der IG Metall. Der Konzern sei noch stärker auf den Shareholder-Value ausgerichtet. Der Stellenabbau in Deutschland, den es schon zu Zeiten der alten Linde AG gegeben hatte, setzte sich im neuen Konzern zumindest fort.

In Konzernkreisen werfen manche Angel vor, dass er sich zu sehr auf das reine Gasegeschäft konzentriere. „Manche vermissen die Vision“, meint ein Insider. Man könne den Kapitalmärkten nicht nur eine reine Margenverbesserungs-Story erzählen. Für die kommenden Jahre brauche Linde Wachstumsfantasie.

In Arbeitnehmerkreisen sieht man das ähnlich. Es bestehe die Gefahr, dass Linde in der neuen Struktur aus Rücksicht auf die Rendite zu wenig in Zukunftstechnologien investiert, die sich erst auf längere Sicht auszahlen. „Dafür braucht man Visionen, Weitblick und Mut.“

All dies soll nun das Zukunftsthema Wasserstoff auf Basis erneuerbarer Energien bringen, bei dem Linde eine größere Rolle spielen will. „Grüner Wasserstoff kann uns auf eine neue Flughöhe bringen“, erläutert Reitzle. Angel betont, Linde sei jetzt schon der größte Wasserstofferzeuger der Welt. Diese Position solle verteidigt und ausgebaut werden. „Das ist der nächste große Schritt für Linde.“

„Wasserstoff ist verlockend, aber noch sehr weit weg“

Mehr als zwei Milliarden Dollar Umsatz macht Linde bislang mit der Produktion, dem Vertrieb, der Speicherung und der Anwendung von Wasserstoff. Angel will diesen Wert vervierfachen.

Erst vor einigen Tagen kündigte der Konzern eine große Kooperation mit dem italienischen Gasnetzbetreiber Snam an. Gemeinsam wollen die beiden Unternehmen Projekte und die Infrastruktur in Europa vorantreiben. Im vergangenen Jahr war Linde bereits beim britischen Wasserstoff-Spezialisten ITM Power eingestiegen.

Das bedeutet nicht, dass andere Teile von Linde aus dem strategischen Fokus geraten. Anfangs hatten Insider erwartet, dass Angel zügig die Trennung von Lindes Anlagenbau einleitet – ein für amerikanische Industriegasespezialisten eher untypisches Geschäft. Gleiches galt für die Linde-Tochter Lincare, einen US-Medizingase-Dienstleister, der in der Corona-Pandemie seine Stärken ausspielt.

Doch Angel hat die Sparten nach anfänglicher Skepsis zu schätzen gelernt und hält an ihnen fest. „Steve hat sich offen gezeigt für alles, was für ihn neu war“, sagt Reitzle.

Wie es langfristig weitergeht, darüber muss sich vor allem Sanjiv Lamba Gedanken machen. Auf Wasserstoff allein kann er nicht setzen. „Das Thema grüner Wasserstoff ist verlockend, aber noch sehr weit weg“, sagt Analyst Mayer.

Lamba gilt bei den früheren Linde-Managern wie auch bei den Ex-Praxair-Leuten als hochangesehen. Der Inder sei ein „super Typ“ mit großem Gespür für kulturelle Themen. Als Wandler zwischen den Welten könnte er im neuen Linde-Konzern integrativ wirken.

Reitzle formuliert die Formel für einen künftigen Linde-Chef so: „Sie brauchen Performance plus kreatives Wachstum.“ Dafür sei Lamba der richtige Mann. Wenn er in den kommenden ein bis zwei Jahren CEO wird, dann dürfte Angel Chairman des Boards werden. So wollen es beide Fusionspartner.

Reitzle kann sich dann zumindest bei Linde in den Ruhestand zurückziehen. Sein Lebenswerk hat er hier vollendet. Die Frage, ob die steigenden Gewinne und die hohe Börsenbewertung ihm nicht im Nachhinein recht geben, beantwortet ein Kritiker aus dem Arbeitnehmerlager so: „Niemand weiß ja, wie sich die beiden Unternehmen einzeln entwickelt hätten.“

Doch die reinen Zahlen sprechen für Reitzle. Als er einst 2002 bei Linde anheuerte, kam der Konzern – einschließlich der längst verkauften Gabelstapler – auf neun Milliarden Euro Umsatz und einen Nettogewinn von 290 Millionen Euro.

Die Marktkapitalisierung lag damals unter drei Milliarden Euro. Heute ist Linde Weltmarktführer bei Industriegasen mit umgerechnet 21 Milliarden Euro Umsatz, 3,3 Milliarden Euro Gewinn und 108 Milliarden Euro Börsenwert.

2017 demonstrierten Arbeitnehmer gegen den Zusammenschluss von Linde mit dem US-Konzern Praxair. Sie fürchteten, dass die Amerikaner durchregieren. Foto: dpa
2017 demonstrierten Arbeitnehmer gegen den Zusammenschluss von Linde mit dem US-Konzern Praxair. Sie fürchteten, dass die Amerikaner durchregieren. Foto: dpa