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Das sind die deutschen Regionen mit den besten Zukunftsaussichten

Der Prognos-Zukunftsatlas zeigt: Die ärmsten deutschen Regionen holen auf, die Bevölkerung wächst wieder. Der rasanteste Aufsteiger kommt aus dem Osten.

  • Wie zukunftsfähig sind die 401 deutschen Regionen und Landkreise? Dieser Frage geht das Forschungsinstitut Prognos in seinem Zukunftsatlas 2019 nach. Das Handelsblatt veröffentlicht die Ergebnisse exklusiv.

  • Demnach wird der Abstand zwischen zukunftsfähigen und nicht-zukunftsfähigen Regionen in Deutschland immer kleiner – auch die Provinz holt auf.

  • Damit stehen jahrzehntealte Gewissheiten in Frage: Das Land entvölkert sich, den Großstädten gehört die Zukunft – doch wer sagt eigentlich, dass es zwangsläufig so kommen muss?

  • Im Interview erklärt Prognos-Chef Christian Böllhoff die Ursachen für den aktuellen Trend.

Als Ulrich Hörning den Kollegen bei der Weltbank von seinem neuen Arbeitsort erzählte, bekam er zu hören: „Oh, Leipzig, the cool place near Berlin?“

Die lässige Stadt in der Nähe von Berlin. Leipzig, das hatte sich bis zu den Washingtoner Fluren der Weltbank herumgesprochen, war wie die deutsche Hauptstadt in den 90er-Jahren. Billige Altbauwohnungen, Aufbruchstimmung in leer stehenden Fabriketagen, viel Kunst – und noch mehr Party.

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Hörning hatte vor diesem Zeitpunkt seinen Master in Harvard gemacht und unter anderem einige Jahre als Unternehmensberater bei Booz & Company gearbeitet. Als der Senior Economist bei der Weltbank das Angebot bekam, in Leipzig eine Stelle als Bürgermeister und Verwaltungsdezernent zu übernehmen, war es für ihn und seine Familie nicht nur ein Schritt zurück ins Heimatland.

Sondern auch eine Erfahrung, die ihn „demütig“ gemacht habe: „Diese Stadt hat zwischen 1995 und 2005 fast 100.000 Einwohner verloren. Und doch herrscht hier seit 1990 ein beeindruckender Wille, in den Kreis der bedeutendsten Städte Deutschlands zurückzukehren.“ Leipzig, findet Hörning, sei weit mehr als der coole Ort bei Berlin, sondern könne gut und gerne für sich selbst stehen.

Ulrich Hörning ist nur einer von vielen Neubürgern der Stadt. Nirgendwo in der Bundesrepublik ist die Bevölkerung in den vergangenen Jahren so schnell gewachsen wie hier, um 14 Prozent seit 2011. Vor allem junge Erwachsene entdecken Leipzig als Wahlheimat.

Dass es ihnen längst nicht mehr nur um Party und billige Mieten geht, zeigt eindrucksvoll die neueste Ausgabe des „Zukunftsatlas“: In dieser aufwendigen Regionalstudie ermittelt das Forschungsinstitut Prognos seit 2004 alle drei Jahre anhand von insgesamt 29 statistischen Indikatoren die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte.

Die Bevölkerungsentwicklung fließt ebenso ein wie die Kriminalitätsrate oder die Zahl der Unternehmensgründungen. Auf Basis dieser Daten erstellt Prognos ein Ranking und ordnet die Region in eine von acht Kategorien ein, von „besten Zukunftschancen“ bis „sehr hohen Zukunftsrisiken“. Erstmals erhebt Prognos zusätzlich das Verhältnis von Wohnungsangebot zu -Nachfrage in einem eigenen Immobilienatlas (siehe Grafik).

Das Handelsblatt berichtet exklusiv über die Ergebnisse der Ausgabe 2019 des Zukunftsatlas. Spitzenreiter ist einmal mehr die Region München, wobei die bayerische Landeshauptstadt erstmals vor dem Landkreis liegt, der sie umgibt. Doch Leipzig legte den spektakulärsten Aufstieg hin.

2004 lag die Stadt noch auf Platz 334 in der Schlussgruppe des Prognos-Ranking, es überwogen die Zukunftsrisiken. Vor sechs Jahren schaffte es die Stadt auf Platz 218, das ist die Kategorie, in der sich Chancen und Risiken die Wage halten. Und in der neuesten Ausgabe des Regionalrankings kommt Leipzig auf Platz 104. Nun überwiegen dort die Zukunftschancen (siehe Karte).

Deutschland wächst zusammen

Der Weg Leipzigs vom Schmuddelkind zum Wunderkind ist bezeichnend für eine Trendwende, die sich im Zukunftsatlas 2019 zeigt: Über zwei Jahrzehnte hinweg sah es so aus, als wären die Zukunftschancen in Deutschland zunehmend ungleich verteilt. Doch der Abgesang auf Ostdeutschland, das Ruhrgebiet und viele ländliche Landkreise in den alten Bundesländern wurde womöglich zu früh angestimmt.

Denn nun rücken Deutschlands Regionen wieder näher aneinander. „In früheren Ausgaben des Zukunftsatlas betrug der Unterschied zwischen der erst- und der letztplatzierten Region maximal 32 Indexpunkte, jetzt sind es noch 29 Indexpunkte“, sagt Prognos-Chef Christian Böllhof im Handelsblatt-Interview. „Dieser Effekt ist nicht riesig, aber eindeutig vorhanden.“

So ist etwa die Arbeitslosigkeit flächendeckend auf dem Rückzug. Zwischen 2016 und 2018 kam es in fast allen Regionen zu einem Rückgang der Arbeitslosenquote. Lediglich im Landkreis Marburg-Biedenkopf ist sie geringfügig angestiegen. In 98 Prozent aller Kreise und kreisfreien Städte ist im selben Zeitraum auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gewachsen.

Sicher, noch immer liegen im Wohlstandsniveau und in der wirtschaftlichen Dynamik Welten zwischen der Stadt München als Spitzenreiter und dem Kreis Stendhal bei Magdeburg als Schlusslicht im Ranking. Aber die Prognos-Studie deutet darauf hin, dass der Unterschied in Zukunft eher kleiner als größer werden könnte – zumindest so lange die fundamentalen Trends anhalten, die Deutschland in den vergangenen Jahren geprägt haben: das stabile Wirtschaftswachstum und die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten.

Diese Effekte kamen zunächst vor allem den Metropolen zugute, doch inzwischen erreicht das Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung auch die Provinz. Experten sprechen von Spill-over- und Tripple-down-Effekten. Böllhoff: „Das Wachstum, das in der Metropole keinen Platz mehr findet, schwappt immer weiter in die Umgebung, in Form von Zuzüglern und Gewerbeansiedlungen. Das sehen Sie besonders deutlich am Speckgürtel um München und Berlin.“

Tatsächlich ist Leipzig zwar der beeindruckendste Langfrist-Aufsteiger im Zukunftsatlas. Doch in der Drei-Jahres-Betrachtung hat ein Landkreis im Berliner Umland die rasanteste Performance hingelegt: Nirgendwo in Deutschland haben sich die wirtschaftlichen Zukunftschancen derart schnell verbessert wie in Teltow-Fläming. Für den Kreis südlich von Berlin ging es seit 2016 um 115 Plätze nach oben, er liegt nun auf Platz 170 des Rankings.

Die Landkreise um Berlin sind ringförmig um die Hauptstadt herum angeordnet, sodass es in jedem Landkreis einen Teil gibt, der direkt an Berlin angrenzt und von Zuzug und Gewerbeansiedlungen aus der nahen Metropole profitiert. Die Berlin abgewandten Seiten der Landkreise haben hingegen mit Wegzug und Leerstand zu kämpfen.

Doch der Speckgürtel um die Hauptstadt wird breiter. Mittlerweile steigen auch im direkten Berliner Umland die Baulandpreise stark an, sodass viele Menschen immer tiefer hineinziehen nach Teltow-Fläming. Auch Firmen auf der Suche nach preiswerten Gewerbeflächen siedeln sich zunehmend im Umland an. Deren Mitarbeiter können wiederum noch weiter hinaus nach Brandenburg ziehen, ohne dass die Pendlerentfernungen zu lang werden.

Böllhoff analysiert: „Nach und nach erreicht der Aufschwung von den Metropolen über deren Umgebung auch die ganz abgelegenen Regionen.“ Er ist zuversichtlich, dass es sich dabei nicht nur um eine Momentaufnahme handelt: „Solange die positive ökonomische und demografische Gesamtentwicklung in Deutschland anhält, werden sich auch die Regionen weiter aneinander annähern.“ In einer längeren Phase ohne Wachstum oder mit gebremstem Zuzug könne sich die Entwicklung hingegen umkehren.

Während Deutschland also über die ökologischen Grenzen des Wachstums diskutiert, über Sinn und Unsinn von immer neuen Gewerbegebieten und Einfamilienhaussiedlungen auf der grünen Wiese, verändert der mittlerweile zehn Jahre währende Wirtschaftsboom schleichend die Republik.

Es sind jahrzehntealte Trends und Wahrheiten, die sich da vielleicht noch nicht in ihr Gegenteil verkehren, aber zumindest infrage gestellt werden müssen: Das Land entvölkert sich, den Großstädten gehört die Zukunft – wer sagt eigentlich, dass es zwangsläufig so kommen muss?

Wie einst im Wirtschaftswunder

Karl-Heinz Paqué ist zumindest alt genug, um sich daran zu erinnern, dass es nicht immer so war. Den Volkswirtschafts-Professor an der Universität Magdeburg und Vorsitzenden der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung erinnert die gegenwärtige Wirtschaftslage an seine Jugend.

Er wuchs im ländlichen Norden des Saarlands in den 60er- und frühen 70er-Jahren auf. Damals bauten Industrieunternehmen aus dem Rhein-Main-Gebiet neue Werke im abgelegenen Umland des Hunsrücks, „weil es in den Großstädten einfach keine Arbeitskräfte mehr gab“, erinnert sich der 62-jährige Wissenschaftler und FDP-Politiker. Durch die Jahre des Wirtschaftswunders seien viele entlegene Regionen in Westdeutschland im Lebensstandard mit nach oben gezogen worden.

„Mit den zwei Ölkrisen 1973 und 1980 endete dieser Prozess“, sagt Paqué. „Das Wachstum schwächte sich ab, gleichzeitig drängten die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation auf den Arbeitsmarkt. Es gab keinen Arbeitskräftemangel mehr, und die Unternehmen orientierten sich zurück zu den Ballungszentren.“ Der Trend habe sich noch verstärkt, nachdem 1990 die ostdeutschen Länder mit Millionen von Arbeitskräften als „neue Peripherie“ zur Bundesrepublik hinzugekommen seien.

Nun beobachtet Paqué in seiner neuen Heimat Magdeburg und im Osten insgesamt, wie sich dieser jahrzehntelange Trend allmählich erneut umkehren könnte. „Das wird nicht so stark sein wie in den 60er-Jahren, weil die heute dominierenden Dienstleistungsberufe immer eine Tendenz in die Ballungszentren haben.“ Aber für immer mehr Unternehmen würden die großen Metropolen mittlerweile zu eng und zu teuer. „Die siedeln sich dann zum Beispiel in Städten wie Magdeburg an, die wiederum in ihr Umland hineinstrahlen werden.“

Wenn sich Paqué vor Augen führen will, wie es in Deutschland einmal aussehen könnte, dann zieht er in seinem Büro bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin einen Wirtschaftsatlas aus dem Jahr 1928 aus dem Regal. Einige Karten faszinieren den Volkswirt ganz besonders. Sie zeigen die Industrieproduktion und die Handelsströme in der Weimarer Republik.

Vor knapp hundert Jahren war Deutschland auf zwei große Industriezentren ausgerichtet gewesen: im Westen das Rheinland mit dem Ruhrgebiet, im Osten Berlin mit Mitteldeutschland. Die heutige Hightech-Metropole München spielte hingegen kaum eine Rolle. Im Osten liefen dabei die Handelsströme sternförmig auf die Hauptstadt zu.

So war es, so könnte es wieder werden, meint Paqué: „Kein Landrat oder Oberbürgermeister hört gerne, dass er ökonomisch von einem riesigen Ballungsraum abhängt, aber für viele Regionen in Ostdeutschland ist das Wachstum von Berlin die beste Entwicklungschance.“

Er sieht keinen Grund, warum die alte und neue Hauptstadt Berlin bis Mitte des Jahrhunderts nicht wieder eine Metropole mit fünf bis sechs Millionen Menschen sein sollte, auch dank „einer dynamischen Gründerkultur sowie dreier großer Universitäten.“ Derzeit hat Berlin rund 3,6 Millionen Einwohner, Tendenz: rasch steigend.

Das größte Risiko sieht Paqué für entlegene ländliche Regionen vor allem im gesellschaftlichen Bereich. Er warnt vor einem „Zusammenbruch der Bürgergesellschaft“, der solche Regionen endgültig veröden lasse. „Zuerst wandern immer die mobilen, gut gebildeten Frauen ab“, hat er beobachtet.

„Zurück bleiben die frustrierten Männer, die keinen Partner mehr für eine Familiengründung finden. Dann müssen Schulen geschlossen werden, was kleine Orte endgültig unattraktiv für junge Familien macht.“

Klar, solche Dörfer und Kleinstädte brauchen Lehrer, Ärzte und schnelles Internet. Paqué rät aber auch dazu, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken.

Auf Veranstaltungen in kleinen ostdeutschen Orten hat der ehemalige Finanzminister von Sachsen-Anhalt häufig die Erfahrung gemacht: „Wenn die Bürger erst einmal das Gefühl haben, dass alles von anonymen Instanzen über ihren Kopf hinweg entschieden wird, entsteht schnell ein Gefühl des Ausgeliefertseins, das nebenbei auch einen Nährboden für die AfD bietet.“


Das Aussterben ist abgesagt

Noch immer schrumpft die Bevölkerung in vielen ländlichen Regionen Ostdeutschlands, ebenso in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Teilen Bayerns. Doch immerhin: In drei Viertel aller Landkreise und kreisfreien Städte ist die Bevölkerung zwischen 2011 und 2017 gestiegen. Auch das ist Zeichen einer grundlegenden Trendwende.

Seit Ende der 60er-Jahre die Geburtenrate unter die durchschnittliche Marke von zwei Kindern pro Frau sank, galt die Bundesrepublik als schrumpfendes und alterndes Land. Heerscharen von meist männlichen Intellektuellen arbeiteten sich an der Frage ab, ob die deutschen Frauen zu egoistisch zum Kinderkriegen geworden und die Deutschen nun vom Aussterben bedroht seien.

Bewahrheitet hat sich von diesen Befürchtungen bislang keine. Vom Tiefpunkt in den 90er-Jahren, als pro Frau nur noch rund 1,3 Kinder zur Welt kamen, ist die Geburtenrate auf derzeit 1,57 Kinder angestiegen. Zusammen mit der anhaltenden Zuwanderung nach Deutschland sorgt diese Entwicklung dafür, dass die Einwohnerzahl der Bundesrepublik nicht wie lange prognostiziert sinkt, sondern steigt.

Jede zehnte Region schafft sogar einen sogenannten natürlichen Geburtenüberschuss. Das heißt: Die Zahl der Geburten lag hier zwischen 2014 und 2017 höher als die der Sterbefälle, die Bevölkerung wächst auch ohne Zuwanderer. Dieses kleine Geburtenwunder gelang besonders häufig in Großstädten: Sie ziehen viele junge Manschen an, die die Familiengründung noch vor sich haben. Aber auch eine ländliche Gegend zwischen Bremen und Osnabrück widerlegt seit Jahren das Vorurteil von der zwangsläufig aussterbenden Provinz.

Viele Hühner, viele Schweine, viel Land. Das sind die Vorurteile, mit denen sie im Landkreis Vechta immer wieder konfrontiert werden. Nicht ganz zu Unrecht: Hier im Westen Niedersachsens werden mehr als elf Millionen Hühner und 1,6 Millionen Schweine gehalten, die Landwirtschaft beackert rund zwei Drittel der gesamten Fläche. „Aber wir sind mittlerweile so viel mehr“, sagt Landrat Herbert Winkel. Außer der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie haben sich auch andere Wirtschaftszweige angesiedelt, etwa die Kunststoffverarbeitung oder Autozulieferer.

Doch Winkels größter Trumpf ist die Geburtenentwicklung. Seit Jahren werden in Vechta mehr Kinder geboren als Menschen sterben. Lebten im Kreis Vechta in den Siebzigern noch rund 90 000 Bürger, sind es heute mehr als 140 000, Tendenz weiter steigend. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 3,4 Prozent, weit unter Bundesdurchschnitt. Viele weltweit aktive Familienunternehmen sind seit Jahrzehnten in der Region verwurzelt.

Die Gewerbeeinnahmen sprudeln, die Gemeinden sind reich. Der Freiwilligen Feuerwehr von Vechta mal eben eine hochmoderne Zentrale für 5,5 Millionen Euro hochziehen? Kein Problem. Das Vereinswesen blüht, die Kirche ist hier noch zentraler Anlaufpunkt – Vechta ist katholische Enklave im protestantisch geprägten Niedersachsen, das schweißt zusammen. Die CDU holte bei der letzten Kreistagswahl 2016 knapp 60 Prozent. In den kleineren Gemeinden, etwa in Bakum, besteht der Gemeinderat zu mehr als 80 Prozent aus CDU-Politikern.

Trotz allem rutscht der Landkreis im Vergleich zum Zukunftsatlas 2016 um 60 Plätze ab – und gilt nun nicht mehr als Region mit hohen, sondern als eine mit „leichten Chancen“. Als schwach bewertet Prognos unter anderem die steigende Zahl von Einwohnern, die in Bedarfsgemeinschaften leben, auch die niedrige Akademikerquote und der geringe Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungssektor fallen negativ auf. „Neue Medien, Robotik, autonomes Fahren – bei diesen Dingen haben wir noch viel Luft nach oben“, gibt auch Landrat Winkel zu.

Spricht man mit Unternehmern und Bürgern vor Ort, sind es zwei andere Dinge, die zunehmend Probleme bereiten: fehlendes Bauland und zu wenig flexible Kinderbetreuung. Das Einfamilienhaus mit Garten – jahrzehntelang war das im Kreis Vechta der Standard.

Zwar entsteht derzeit ein Neubaugebiet nach dem anderen, aber es reicht für die wachsende Bevölkerung trotzdem nicht. Auch bei den Kindertagesstätten wird aufgestockt und ausgebaut. Doch die meisten Einrichtungen schließen ihre Pforten schon am frühen Nachmittag – und haben in den Ferien wochenlang zu.

Die meisten Familien entscheiden sich notgedrungen für das klassische Modell: Der Mann schafft das Geld ran, die Frau geht höchstens halbtags arbeiten. Immerhin, die Unternehmen beginnen umzudenken, ermöglichen flexible Arbeitszeitmodelle oder Homeoffice. Allerdings ist das auch aus der Not geboren: Fast alle Betriebe haben offene Stellen – und wollen weiter wachsen. Von provinzieller Trostlosigkeit ist in Vechta wenig zu spüren.

Wachstumsfaktor Wohnraum

Immer mehr Regionen in Deutschland werden nicht mehr von Stagnation oder Niedergang geplagt, sondern von Wachstumsschmerzen. Das zeigt sich neben dem Arbeitskräftemangel, der in vielen Regionen längst nicht mehr nur Fachkräfte, sondern auch Jobs für An- oder Ungelernte betrifft. Auch am fehlenden Wohnraum in immer mehr Gegenden macht sich das bemerkbar.

Prognos hat daher im Rahmen des Zukunftsatlas erstmals auch die sogenannte Wohnungsbaulücke in den einzelnen Regionen ermittelt. Sie ergibt sich aus der Differenz zwischen der Entwicklung der Zahl der Haushalte sowie des Wohnungsbestands im Zeitraum 2011 bis 2017. Bundesweit fehlen demnach rund 720.000 Wohnungen oder 1,7 Prozent des Gesamtbestands, weil die Zahl der Haushalte schneller wächst, als neuer Wohnraum gebaut wird.

Hinter dieser Durchschnittszahl verbirgt sich jedoch, dass es weiterhin Regionen mit hohem Leerstand gibt und gleichzeitig Ballungsräume, in denen sich für Familien mit durchschnittlichem Einkommen kaum noch eine bezahlbare Wohnung ergattern lässt (siehe Grafik).

Es ist auch diese Wohnungsbaulücke, die die Spill-over-Effekte, das Überschwappen des Wachstums aus den Metropolen ins Umland antreibt. „Die Wohnungspolitik wird in den nächsten Jahren einer der dominanten Faktoren dafür sein, ob in einer Stadt noch weiteres Wachstum möglich ist“, analysiert Prognos-Chef Böllhoff. Hier sieht er Hamburg als Vorbild. Der Stadtstadt setzt auf eine gezielte Erschließung von Neubaugebieten innerhalb der Stadt, etwa auf dem Gelände des bisherigen Bahnhofs Altona.

Wolfsburg, das deutsche Detroit?

Aus der Spitzengruppe der Top 20 ist Hamburg in diesem Jahr dennoch herausgefallen, es reichte nach Platz 18 im Jahr 2016 nur noch für Platz 21 der zukunftsfähigsten Regionen. „Hamburg schleppt als Stadtstaat eine wesentlich höhere Schuldenlast, einen größeren administrativen Apparat sowie mehr soziale Lasten mit sich herum als andere Metropolen“, erklärt Böllhoff.

München und Stuttgart seien zudem stärker technologieorientierte Industriestandorte als Hamburg. Der Strukturwandel in Industrie, Handel und Logistik hinterlasse in Hamburg auch einen vergleichsweise hohen Anteil von Menschen, die von Transfereinkommen abhängig sind.

Der Aufstieg in die Spitzengruppe ist hingegen Düsseldorf gelungen. Die Stadt verbesserte sich von Platz 21 auf Platz 12 und zählt damit erstmals zu den Regionen mit den „besten Zukunftschancen“. „Düsseldorf ist ein Beispiel für die enorme Bedeutung früher Grundsatzentscheidungen“, kommentiert Böllhoff. „Wenn einmal die richtigen Weichen gestellt sind, nährt der Erfolg den Erfolg.“

Düsseldorf habe sich anders als viele Ruhrgebietsstädte sehr früh für neue Dienstleistungsbranchen geöffnet: „Nachdem die Stadt früher viele japanische Unternehmen angezogen hat, kommen nun die chinesischen.“ Der IT-Konzern Huawei beispielsweise hat seine Deutschlandzentrale in Düsseldorf.

Regionalentwicklung hat einen ganz langen Atem – ein einmal eingeschlagener richtiger Entwicklungspfad kann eine Stadt sehr lange nach oben tragen. Eine verpasste Weichenstellung kann einer Stadt hingegen lange nachhängen. Böllhoff wittert „Gefahr für die eine oder andere Stadt, die derzeit noch sehr gut dasteht in Deutschland“.

Zum Beispiel Wolfsburg, derzeit auf einem hervorragenden Platz neun dank Volkswagen, dem mit Abstand wichtigsten Arbeitgeber am Ort: „Wenn es Volkswagen nicht gelingt, sich an die neue Mobilität anzupassen, haben wir in Wolfsburg ein richtiges Problem. Der Abstieg aus der Spitzengruppe könnte dann sehr schnell passieren.“ Ähnliches gelte für den Südwesten Deutschlands mit seiner Ballung aus Automobilherstellern und Autozulieferern.

Böllhoff fürchtet: „Wenn der Branche die Anpassung an neue Antriebstechnologien nicht gelingt, könnte der Region um Stuttgart oder Ingolstadt ein ähnlicher Strukturwandel ins Haus stehen wie in den vergangenen Jahrzehnten dem Ruhrgebiet oder anderen altindustriellen Regionen im Norden und Osten.“

Wenn es schlecht läuft mit der deutschen Autobranche, bilden dann Stuttgart, Böblingen und Sindelfingen womöglich in einigen Jahrzehnten das neue Ruhrgebiet – und Wolfsburg verkommt gar zum deutschen Detroit? Das Szenario klingt aus heutiger Sicht unglaublich.

Aber ähnlich unglaublich hätte sich vor 50 Jahren auch die Prognose angehört, dass Kohle und Stahl Städten wie Duisburg und Essen nicht auf Dauer ihren Wohlstand garantieren könnten. Fast so utopisch wie die Prophezeiung von Wirtschaftsforscher Paqué, dass Berlin zu einer Megametropole heranwächst, die weite Teile Ostdeutschlands mit nach oben trägt.

Die Zukunft der deutsche Regionen, das zeigt der Zukunftsatlas 2019 deutlich, ist offener, als man gemeinhin annimmt. Niemand hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass die Bevölkerung in den allermeisten deutschen Regionen jemals wieder wachsen könnte. Und erst recht nicht, dass die damalige Schrumpfstadt Leipzig als Aufsteigermetropole Nummer eins gefeiert würde.

Weltoffenheit und Wertschöpfung

Leipzig ist ein Erfolgsmodell. Auch dank Menschen wie Alexander Uhlig. Er und sein Geschäftspartner hatten 2017 die „The SQLNet Company“ noch dort gegründet, wo man Technik-Start-ups normalerweise vermutet: in München. „Doch schon damals war uns klar, dass wir hier auf dem Arbeitsmarkt echte Probleme kriegen könnten“, sagt Uhlig. Der Datenwissenschaftler hatte zuvor in den Niederlanden und England studiert und bei Volkswagen gearbeitet. Ein Jahr nach der Gründung fasste Uhlig den Entschluss, dass Leipzig der beste Standort sein soll, um SQLNet großzumachen.

Das Unternehmen arbeitet mithilfe von Künstlicher Intelligenz daran, dass Maschinen verschiedene Datenebenen miteinander kombinieren und damit arbeiten können. Bisher muss man dafür die Daten händisch zusammentragen. „Die Vorteile von Leipzig liegen auf der Hand“, sagt Uhlig.

Insbesondere am Arbeitsmarkt gebe es große Chancen, schnell qualifizierte Leute zu finden. Politik und Verwaltung würden in Leipzig viel unterstützen, auch finanziell. „Es gibt hier zahlreiche Förderprogramme. Das geht bis zu Zuschüssen für die Anschaffung von Schreibtischen.“ Uhlig ist überzeugt: „Nach Leipzig zu gehen war die beste Entscheidung, die wir je getroffen haben.“

Auch Ulrich Hörning hat das Leben in Leipzig schätzen gelernt. Sein Lieblingsort in der Stadt ist das Rosental, ein über 100 Hektar großer, parkartiger Auenwald. Ende Juni zelebrierte hier das Gewandhausorchester mit zwei Gratis-Open-Air-Konzerten den feierlichen Abschluss seiner Spielzeit. Hörning war an beiden Abenden dabei, am Freitag offiziell als Vertreter der Stadt und am Samstag mit Freunden, Frau, den beiden Kindern und einem Picknickkorb: „Wenn dann 30 000 Zuschauer auf ihren Decken friedlich italienischen Opernarien lauschen, dann ist das genau die Weltoffenheit, für die diese Stadt steht.“

„Weltoffenheit“ ist ein Wert, den die Stadt auch in ihrem Konzept „Leipzig 2030“ benennt. In dieser „klaren Fokussierung auf strategische Ziele“ sieht Hörning einen der Gründe für die Renaissance der Stadt. Als Leipzig rasant schrumpfte, vermittelte beispielsweise ein Verein leer stehende Altbauten an Künstler, Galeristen oder andere nicht kommerzielle Nutzer. Die müssen keine Miete zahlen, halten aber das Haus instand und übernehmen die Betriebskosten. Gleichzeitig sorgen diese sogenannten „Wächterhäuser“ dafür, dass Viertel trotz hohen Leerstands belebt wirken und keine Abwärtsspirale aus Verfall, sinkender Lebensqualität und weiterer Abwanderung entsteht.

Man kämpfte gleichzeitig entschlossen um große Gewerbeansiedlungen, allen voran die neuen Autofabriken von Porsche und BMW und das Frachtdrehkreuz von DHL am Flughafen Leipzig-Halle. Die Arbeitslosenquote sank von über 20 Prozent Mitte der 90er-Jahre auf unter sechs Prozent.

„Inzwischen haben wir in Leipzig kein Problem mehr mit Arbeitslosigkeit“, sagt Hörning, „wir haben eine Wertschöpfungsherausforderung.“ Gezielt sollen nun besser bezahlte Jobs mit einer höheren Wertschöpfung in der Region entwickelt werden, denn noch immer liegt die durchschnittliche Wirtschaftsleistung pro Kopf in Leipzig leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt.

Ist aus dem Weltbürger Ulrich Hörning jetzt ein Mensch geworden, der ganz in Leipzig verwurzelt ist? Auf die Frage nach seiner Heimat antwortet er nachdenklich: „Deutschland ist meine Heimat, Frankfurt am Main ist meine Geburtsstadt, und Leipzig ist mein Zuhause, wo ich etwas für meine Heimat tue.“ Vielleicht braucht es einfach noch einige Open-Air-Konzerte im Rosental, bis aus Hörning ein echter Leipziger wird.

Mitarbeit: Julian Olk, Hannah Steinharter, Christian Wermke

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