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Rechtsgutachten: Berliner Paritätsgesetz wäre zulässig und geboten

Frauen sind in Parlamenten unterrepräsentiert. Berlin will mit einem Paritätsgesetz für Abhilfe sorgen. Ein Gutachten der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung bewertet die Pläne positiv.

Nur 33 Prozent der Abgeordneten im Landesparlament sind weiblich. Ein Paritätsgesetz soll künftig für mehr Gleichberechtigung sorgen. Foto: dpa
Nur 33 Prozent der Abgeordneten im Landesparlament sind weiblich. Ein Paritätsgesetz soll künftig für mehr Gleichberechtigung sorgen. Foto: dpa

In der Hauptstadt ist die Hälfte der Bevölkerung weiblich, aber nur 33 Prozent der Abgeordneten im Landesparlament. Das will die rot-rot-grüne Koalition im Land Berlin mit einem Paritätsgesetz ändern.

Wann der entsprechende Gesetzentwurf der Linken-Fraktion in das Abgeordnetenhaus eingebracht werden soll, ist derzeit noch offen. Schützenhilfe für das Vorhaben gibt es nun aber bereits durch ein Rechtsgutachten im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Das Gutachten prüft, ob sich die Regeln mit dem Gesetz vereinbaren lassen.

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Das Fazit fällt unmissverständlich aus: „Eine paritätische Änderung des Berliner Wahlgesetzes ist im Rahmen der geltenden Verfassung von Berlin und des Grundgesetzes in verfassungskonformer Weise möglich und zudem geboten!“

Noch liegt der Gesetzentwurf zwar in der Schublade. Die Details kursieren jedoch schon. Demnach soll es paritätische Regelungen für Listen und Wahlkreise geben. So sollen die Wahlvorschlagslisten für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden. Für die Direktkandidaturen in den Wahlkreisen würde die Anzahl der Wahlkreise halbiert. Die Parteien wären dann verpflichtet, jeweils ein Duo aufzustellen, das sich aus einer Kandidatin und einem Kandidaten zusammensetzt.

Die Wahlberechtigten würden über drei Stimmen verfügen – eine für die Liste und zwei für ein Wahlkreisduo. Es gäbe also eine Stimme für eine Direktkandidatin und eine Stimme für einen Direktkandidaten. Auf diese Weise könnten die Wähler in ihrem Wahlkreis ein „individuelles Duo“ wählen, also auch Kandidatinnen und Kandidaten unterschiedlicher Parteien. Es könne auch auf die Stimmabgabe im Wahlkreis verzichtet werden.

Könnte Berlin mit dem Gesetz in die Geschichte eingehen?

Nora Langenbacher von der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht mit dem Gutachten verfassungsrechtliche Bedenken ausgeräumt und meint: „Mit dem bundesweit ersten umfassenden Paritätsgesetz könnte die Bundeshauptstadt Geschichte schreiben.“ Verfasst hat die juristische Bestandsaufnahme die Kasseler Rechtsprofessorin Silke Ruth Laskowski. Sie war zuletzt schon in Bremen als Sachverständige bei einer Anhörung im Gleichstellungsausschuss zu einem möglichen Parité-Gesetz geladen.

Ein Paritätsgesetz im Land Berlin hält Laskowski in ihrer 84 Seiten starken Expertise für erforderlich und verweist auf die „seit Jahrzehnten anhaltende starke Unterrepräsentanz von wahlberechtigten Frauen in den deutschen Parlamenten – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil von gut 51 Prozent.“ Dies sei das Resultat einer „jahrzehntelangen Nominierungspraxis“ politischer Parteien, die Frauen in nur geringer Anzahl als Kandidatinnen auf Wahlvorschlagslisten und in noch geringerer Anzahl in Wahlkreisen aufstellten.

„Der erkennbaren strukturellen Benachteiligung von weiblichen Parteiangehörigen in parteiinternen Nominierungsverfahren soll mit Hilfe paritätischer Wahlgesetze, die allen Parteien eine gleichmäßige, paritätische Nominierung von Kandidatinnen und Kandidaten vorschreiben, entgegengewirkt werden“, erklärt Laskowski. Im Vordergrund stehe, Chancengleichheit für Kandidatinnen herzustellen, die „heute real nicht existiert“.



Laut Gutachten sprechen die statistischen Zahlen für parteiinterne Strukturen, die Kandidaten „faktisch und strukturell bevorzugen“. Kandidatinnen würden hingegen benachteiligt. Als Beispiel wird etwa Baden-Württemberg angeführt, wo nach der Wahl 2019 der Frauenanteil in Gemeinderäten mit 26,5 Prozent und in Kreistagen mit 22,4 Prozent „minimal“ sei.

„Die unausgeglichene Männer-Frauen-Relation wirkt sich auf die Qualität politischer Entscheidungen aus“, meint Laskowski. Die Entscheidungen würden demnach durch männlich geprägte Erfahrungen, Blickwinkel, Interessen und natürlich auch durch bestimmte Rollenerwartungen gegenüber Frauen und Männern bestimmt.

Die Rechtswissenschaftlerin weist darauf hin, dass sowohl die Wahlrechtsgrundsätze als auch die Rechte der Parteien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht absolut gelten: „Sie können durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt werden, die verfassungsrechtlich legitimierte Ziele verfolgen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.“

Freiwillige parteiinterne Maßnahmen hätten bislang eine chancengleiche demokratische Teilhabe nicht gewährleisten können. Derzeit seien auch keine freiwilligen Verhaltensänderungen der Parteien absehbar. „Daher kommen nur verbindliche gesetzliche Regelungen in Betracht“, meint die Gutachterin.

Öffnungsklausel notwendig

„Zurückzuweisen ist die Ansicht, die hier in Rede stehenden Regelungen seien als Rückfall in ständestaatliche Verhältnisse und Gruppenrepräsentanz in den Parlamenten zu werten“, schreibt Laskowski. Zudem sei nicht nachvollziehbar, warum gerade Parlamentarierinnen verdächtigt würden, nur „Gruppeninteressen“ von Frauen zu vertreten, hingegen Männer in keiner Weise verdächtigt würden, nur Gruppeninteressen von Männern zu vertreten.

Nicht relevant sei auch der Frauen- oder Männeranteil unter den Parteimitgliedern einer Partei. Maßgeblich seien allein der etwa hälftige Anteil der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger am Volk sowie ihr Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an demokratischer Mitbestimmung. „Schließlich vertreten Abgeordnete das Volk und nicht die eigenen Parteiangehörigen“, erklärt die Juristin.

Allerdings sei nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017 eine Öffnungsklausel für diverse Menschen nötig, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden könnten. Diese Menschen müssten kandidieren können, ohne sich dem Geschlecht „Frau“ oder „Mann“ zuordnen zu müssen.

Ebenfalls nötig sei eine Öffnungsklausel für parteiunabhängige Einzelkandidaturen, auch wenn diese eher selten seien und „paritätisch nicht ins Gewicht“ fielen.

Bislang wurden bundesweit zwei paritätische Wahlgesetze beschlossen: in Brandenburg und in Thüringen. Beide Gesetze wurden vor den Landesverfassungsgerichten angegriffen. In Thüringen wurde das Gesetz im Juli 2020 gekippt. Gegen das Urteil wurde inzwischen eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe erhoben. In Brandenburg wird eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts für Ende 2020 erwartet. Auch für den Deutschen Bundestag gibt es Forderungen für eine paritätische Wahlrechtsreform.

„In der juristischen Literatur wird erst seit 2018/2019 über paritätische Wahlgesetze in Deutschland stärker diskutiert“, schreibt Laskowski. „Diejenigen, die solche Gesetze als verfassungswidrig ablehnen, und diejenigen, die sie als verfassungsgemäß betrachten und befürworten, halten sich inzwischen etwa die Waage.“

Rechtsprofessorin Laskowski verweist auf das „Vorbild“ Frankreich. Dort existiert seit 2001 ein Parité-Gesetz für Wahlvorschlagslisten und Wahlkreise. „Das Beispiel Frankreich zeigt somit seit fast zwanzig Jahren, dass Parteien Frauen in ausreichender Anzahl für ihre paritätischen Listen dann finden, wenn es gesetzlich vorgeschrieben und anderenfalls eine Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen ist“, schlussfolgert die Juristin. Dies gelte unabhängig von der Größe oder ideologischen Ausrichtung der Parteien.

Die für das Land Berlin diskutierten verpflichtenden paritätischen Regelungen für Listen und Wahlkreise seien „verfassungsrechtlich zulässig“, stellt Laskowski abschließend fest. Sie dienten „der Beseitigung eines seit Jahrzehnten andauernden verfassungsrechtlichen Missstands“, der das Demokratiegebot, die Wahlfreiheit und -gleichheit sowie das Grundrecht und Gebot der Gleichberechtigung von Frauen und Männern betreffe.