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Die Präsidentschaftswahlen in Tunesien sind ein Stresstest für die fragile Demokratie

Tunesien hat als einziges Land nach dem Arabischen Frühling die Demokratie eingeführt. Doch die wirtschaftliche Lage desillusioniert inzwischen viele Tunesier.

Wenn am Abend das Verkehrschaos nachlässt, legt sich ein Duft von Jasmin über die Avenue Habib Bourguiba in Tunis. Straßenverkäufer bieten die Blumen als gebundene Mini-Sträuße an. Die vielen Cafés und Teehäuser sind voll, an diesem Montagabend flimmert in den Fernsehern das Fußball-Freundschaftsspiel Algerien gegen Benin.

Dabei läuft gleichzeitig die letzte von drei Fernsehdebatten mit den Kandidaten zur Präsidentschaftswahl an diesem Sonntag. 30 TV- und Radiosender übertragen sie live. Es ist das erste Mal, dass es ein solches Format in Tunesien gibt. Doch in dem Arbeiterviertel an der Avenue interessiert das niemanden.

Einzig das kleine Café Jasmin zeigt die Debatte – allerdings ohne Kunden. Selbst Pächter Ludvi Labibi schaut kaum hin, er ist genervt von der Politik. „Wir dachten, mit der Revolution wird alles besser, aber wir wurden enttäuscht: Es ist alles teurer geworden“, sagt er und zählt dabei die Tageseinnahmen des Cafés auf dem Tisch vor sich zusammen. „Die Politik kümmert sich nicht um die Leute, das sind alles Lügner.“

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Tunesien ist mit seinen elf Millionen Einwohnern zwar ein kleines Land. Doch es hat für Europa und den Rest der Welt eine enorme Bedeutung. Es ist das einzige Land, das nach dem Arabischen Frühling eine Demokratie eingeführt hat. Auf Tunesien ruhen deshalb die Hoffnungen des Westens, dass auch in der arabischen Welt liberale Systeme möglich sind.

Die Beweisführung wackelt derzeit allerdings: Acht Jahre nach der Jasmin-Revolution sind viele Tunesier desillusioniert. Die Wirtschaft steht schwächer das als zu Zeiten der Diktatur, das Parlament ist zerstritten und nicht in der Lage, die nötigen Reformen zu verabschieden.

Kuriose Kandidatenliste

Das bringt neue Heilsversprecher auf den Plan: Die Umfragen zur Präsidentschaftswahl am Sonntag führt ein Populist an, gefolgt von einem Islamisten und einer Kandidatin, die die Zeit des Diktators Ben Ali verherrlicht. Für das Land ist der Urnengang ein entscheidender Stresstest.

Gleich 26 Präsidentschaftskandidaten – davon über die Hälfte parteilos – buhlen um die Stimmen der Tunesier. Viele versuchen, von deren Verdrossenheit mit der politischen Klasse zu profitieren. Erhält keiner von ihnen mehr als die Hälfte der Stimmen, treten die beiden Besten in einem zweiten Wahlgang gegeneinander an. Der Ausgang gilt als völlig offen.

Die Präsidentschaftswahl ist nur der Auftakt für eine Neuordnung der tunesischen Politik. Sie musste vorgezogen werden, nachdem der 92-jährige Amtsinhaber Beji Caid Essebsi Ende Juli starb. Geplant war sie eigentlich für November und damit nach den Parlamentswahlen, die am 5. Oktober stattfinden.

Umfragefavorit ist der Populist Nabil Karoui, ein Medienunternehmer, der seinen Fernsehsender Nessma für die eigene Wahlwerbung nutzt. Der Sender berichtet über Karouis Wohltätigkeitsorganisation, die im armen Süden des Landes Häuser renoviert und Medikamente verteilt. Karoui verspricht einen Kampf gegen die Armut. Wofür er sonst politisch steht, ist unklar.

Der mögliche Wahlsieg des „tunesischen Berlusconi“ könnte ein Zeichen für die Reife der Demokratie sein, da Populisten mit einer Antisystem-Kritik in zahlreichen Demokratien Erfolge feiern. Doch in Tunesien laufen die Dinge anders: Die Justiz verhaftete Karoui am 23. August und wirft ihm Steuerhinterziehung und Geldwäsche vor.

Die Anschuldigungen stammen von der Nichtregierungsorganisation iwatch, der tunesischen Version von Transparency International. Die wurden allerdings schon im Jahr 2016 gemacht. Dass Karoui just vor der Präsidentschaftswahl hinter Gitter wandert, werten seine Anhänger als politische Manipulation der Justiz, um sich einen unbequemen Konkurrenten vom Leib zu halten. Karoui bestreitet alle Vorwürfe, und solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist, darf er kandidieren. So könnten die Tunesier einen Präsidenten erhalten, der im Gefängnis sitzt.

Entscheiden sie sich dagegen für Abir Moussi – eine von zwei Frauen in dem Rennen um die Präsidentschaft – würde damit die Sehnsucht derjenigen siegen, die meinen, dass unter Ben Ali alles besser war. Moussi war früher in der Partei von Ben Ali aktiv. Sie will zwar nicht zurück zur Diktatur, aber sie fordert eine präsidentielle Demokratie mit einer starken Exekutive.

Auch ein möglicher Sieg des Ennahda-Kandidaten Abdelfattah Mourou birgt Konfliktpotenzial: Weite Teile der Bevölkerung lehnen die Islamisten als politische Partei strikt ab. Aus dem bürgerlichen Establishment werden dem scheidenden Premierminister Youssef Chahed und seinem derzeitigen Verteidigungsminister Abdelkarim Zbidi die besten Chancen eingeräumt, in die Stichwahl zu kommen.

Experten halten es für wahrscheinlich, dass einige Kandidaten das Wahlergebnis anfechten – das Feld ist so groß, dass das Ergebnis knapp ausfallen könnte. Gelangt etwa der Populist Karoui – anders als die Umfragen nahelegen – nicht in die Stichwahl, könnte er argumentieren, daran sei sein Ausschluss vom Wahlkampf schuld.

Da er im Gefängnis sitzt, konnte er nicht an den wichtigen Fernsehdebatten teilnehmen. Die erste von insgesamt drei Debatten sahen landesweit drei der sieben Millionen wahlberechtigten Tunesier. Die Wahlbeobachterkommission der EU hat kritisiert, dass Karoui nicht an dem Wahlkampf teilnehmen kann. Karoui ist seit Mittwoch aus Prostest gegen seine Inhaftierung im Hungerstreik.

Lahmende Wirtschaft

Dass die Tunesier nach nur acht Jahren im neuen System schon so frustriert sind, dass Verführer wie Karoui populär werden, liegt vor allem an der lahmenden Wirtschaft. Sie ist die Achillesverse des Wandels. Die große Frage ist, wie lange die Geduld der Tunesier noch hält, wenn die Wirtschaft nicht bald anzieht.

Die Jugendarbeitslosigkeit, einer der Treiber für die Revolution, liegt bei 34 Prozent – und damit über den 29 Prozent im letzten Amtsjahr des Diktators Ben Ali. Die Inflation liegt bei sieben Prozent und setzt selbst dem großen tunesischen Mittelstand zu. Und die Staatsschulden schießen in die Höhe.

Gründe dafür waren die Krise in Libyen und der Einbruch des Tourismus nach den Terroranschlägen von 2015. Hinzu kamen aber auch hausgemachte Probleme. So kritisiert der Internationale Währungsfonds (IWF) die hohen Ausgaben für Energiesubventionen und Beamtengehälter.

In den vier Jahren nach der Revolution erhöhte die tunesische Regierung die Zahl der Beamten um 40 Prozent und setzte zudem mehrfach deren Gehälter herauf. Die Beamtenbezüge machen heute 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus – einer der höchsten Anteile weltweit. Das hat das Budgetdefizit und die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben. Investoren zögern angesichts der unsicheren Lage im Land.

Die rund 250 deutschen Unternehmen vor Ort sind Tunesien dagegen auch in der Krise treu geblieben. „Das sind vor allem Familienunternehmen wie der Autozulieferer Dräxelmaier, die eine langfristige Planung haben und auch mal bereit sind, schwierigere Zeiten auszuhalten“, sagt Jörn Bousselmi, Geschäftsführer der deutsch-tunesischen Auslandshandelskammer. Auch der größte private Arbeitgeber in Tunesien ist deutsch: der Autozulieferer Leoni.

Boussselmi hat bereits Ende der 90er Jahre eine Zeit lang in Tunesien gelebt und bemerkt den großen Wandel im Land. So gebe es in Tunis heute eine kreative Kulturszene und Shopping Malls mit internationalen Marken, „die so auch in Europa stehen könnten. Das gab es früher alles so nicht“, erzählt er.

Die Enttäuschung vieler Tunesier kann er zwar verstehen. Er macht aber übersteigerte Erwartungen an den Wandel dafür verantwortlich und vergleicht die emotionelle Lage in Tunesien mit der in der DDR nach der Wiedervereinigung. „Dort hat man auch gedacht, mit der Wende werde schlagartig alles besser. Aber das braucht Zeit“, sagt er.

Immerhin hat sich das Land bislang als erstaunlich stabil erwiesen. Nach Essebsis plötzlichem Tod verlief seine Interimnachfolge reibungslos. Als sich Ende 2018 ein tunesischer Journalist aus Protest gegen die prekäre Lage in Brand setzte und damit dem Beispiel des Fischverkäufers folgte, der 2010 die Jasmin-Revolution auslöste, folgte kein neuer nationaler Aufstand.

Die schlüssigste Erklärung dafür ist, dass die Tunesier trotz aller Probleme die neuen Rechte wie freie Wahlen und eine freie Presse sehr wohl zu schätzen wissen. Bei der Kandidatenwahl am Sonntag wird sich zeigen, wie groß Ihre Unzufriedenheit und damit die Gefahr für die Demokratie in ihrem Land ist.

Mehr: Warum der Westen noch lange nicht am Ende ist. Ein Buchtipp vom ehemaligen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel.