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Deutschland in der Rezession – So gefährlich wird der Abschwung

Deutschland steckt Experten zufolge nun in einer Rezession. Und schon seit einem Jahr stagniert die Wirtschaft. Die Bundesrepublik braucht ein neues Geschäftsmodell.

Die deutsche Schlüsselbranche tut sich schwer mit dem Umstieg auf die Elektromobilität. Foto: dpa
Die deutsche Schlüsselbranche tut sich schwer mit dem Umstieg auf die Elektromobilität. Foto: dpa
  • Bereits seit einem Jahr wächst die Wirtschaft in Deutschland kaum noch. Glaubt man Experten, steckt unsere Volkswirtschaft nun in der Rezession.

  • Doch ein Abschwung fühlt sich anders an. Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die Steuereinnahmen steigen und die Börsenkurse sind stabil.

  • Wie lässt sich das Wachstum in der Bundesrepublik nachhaltig steigern? Wir haben sieben Vorschläge zusammengetragen – ohne ideologische Scheuklappen.

  • „Das ist keine Rezession, die uns in Angst und Schrecken versetzen müsste“, erklärt IfW-Präsident Gabriel Felbermayr im Interview mit dem Handelsblatt.

Das silbergraue Gefährt, das an Ketten durch die hohe Werkshalle schwebt, sieht wie ein Prototyp des Batmobils aus. Ein monströses Metallgerippe, das später mal ein SUV werden soll. Für wen die Geländewagenkarosserie gebaut wird? Geheim. Fotos? Strengstens verboten – am Eingang werden Besuchern die Smartphonekameras mit Stickern abgeklebt. Eine Halle weiter wummert eine Stahlpresse, schneidet ein Laser hinter einer Scheibe Bauteile zurecht, ziehen Schweißroboter ihre Funkenbahnen.

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Nebenan stehen fertige Kotflügel für das Coupé von Rolls-Royce. Es herrscht Hochbetrieb bei der Edag Werkzeug + Karosserie GmbH. In drei Schichten fährt der Autozulieferer seinen Betrieb, rund um die Uhr.

Das Geschäft läuft rund bei dem Unternehmen in Eisenach, dessen 250 Mitarbeiter Prototypen bauen und Baugruppen für exklusive Pkw-Kleinserien fertigen. Doch statt Zufriedenheit herrscht Sorge. „Die Elektromobilität bietet eine riesige Chance für uns Zulieferer, ist aber auch gleichzeitig ein Risiko, das so in der Breite noch nie gehändelt werden musste“, sagt Geschäftsführer Andreas Ritz.

Viele Zulieferer würden die aktuelle Gefährdung nicht wahrhaben wollen. „Aber gerade sind alle Alarmleuchten an. Wir sind erdrutschartig in eine Lage gekommen, die niemand in der Industrie für möglich gehalten hat.“

Ritz kennt sich aus in der Branche. Der studierte Betriebswirt ist seit 20 Jahren im Unternehmen. In all der Zeit mussten er und seine Kollegen noch nie Kurzarbeit einführen. Selbst 2009, als die Weltwirtschaftskrise wütete, lief das Geschäft „zufriedenstellend“. Auch für 2019 gibt es keine konkreten Planungen in Richtung Kurzarbeit. Aber: „Aktuell setzen wir uns mit der Thematik auseinander“, sagt Ritz, „um vorbereitet zu sein.“

Willkommen im vielleicht ungewöhnlichsten Abschwung, den Deutschland je erlebt hat. Bereits seit mittlerweile einem Jahr wächst die Wirtschaft kaum noch. Reihenweise korrigieren die Unternehmen ihre Gewinnprognosen nach unten und kündigen Personalabbau an. Und mit dem zu Ende gegangenen Monat Oktober befindet sich Deutschland höchstwahrscheinlich offiziell in der Rezession. Die ist definiert als zwei aufeinanderfolgende Quartale mit schrumpfender Wirtschaftsleistung (BIP).

Im zweiten Quartal war das BIP bereits um 0,1 Prozent gesunken. „Im dritten Quartal wird das Bruttoinlandsprodukt wohl noch einmal zurückgehen“, sagen die Forscher vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) in ihrer aktuellen Prognose. Das IfW erwartet ein Minus von 0,3 Prozent.

Noch sind sich die Wirtschaftsforscher einig, dass es bereits 2020 schnell wieder bergauf geht, ihre Prognosen gehen für das kommende Jahr von 0,6 bis 1,4 Prozent Wachstum aus (siehe Grafiken). Doch Vorsicht, die optimistischen Vorhersagen stammen von denselben Experten, die noch vor wenigen Monaten weitgehend ausgeschlossen haben, dass es 2019 überhaupt zu einer Rezession kommen könne.

Das eigentliche Problem benennt IfW-Chef Gabriel Felbermayr im Interview mit dem Handelsblatt, nämlich, „dass das Trendwachstum stetig zurückgeht, von etwa anderthalb auf etwas unter einem Prozent. Wirtschaftliche Schwächephasen werden damit häufiger.“

Wenn es die Bundesregierung unter Angela Merkel jetzt nicht schafft, das Trendwachstum mit entschlossenen Reformen wieder auf ein höheres Niveau zu bringen, drohen Deutschland womöglich japanische Verhältnisse: zwar keine tiefe Rezession wie 2009, aber ein jahrelanges Stop-and-go aus ökonomischem Stillstand und Miniwachstum bei anhaltenden Nullzinsen, alternder Bevölkerung und einer allmählich erlahmenden Innovationskraft.

Doch woher soll dieser politische Reformwille kommen, wenn andere Zahlen gleichzeitig Normalität verheißen: Die Börsenkurse? Stabil. Die Arbeitslosenzahlen? Ebenso. Die Steuereinnahmen? Steigen. Rezession fühlt sich eigentlich anders an. Zehn Jahre nach dem ebenso jähen wie tiefen Konjunktureinbruch von 2009 erlebt Deutschland diesmal eine Krise, die wie auf Katzenpfoten heranschleicht.

Für eine Große Koalition, die ohnehin ins Weiter-so verliebt ist, liegt es nahe, den aktuellen Abschwung als ein vorübergehendes Phänomen abzutun. Als eine überfällige Korrektur nach neun Jahren Wachstum, der längsten Aufschwungphase seit dem Wirtschaftswunder. Doch ein genauerer Blick auf die Anatomie dieser Rezession macht deutlich: Dies ist keine Signalstörung, nach der die Fahrt in Kürze fortgesetzt werden kann.

Die Krise offenbart einige grundlegende Schwächen des deutschen Geschäftsmodells: zu exportlastig, zu abhängig von einigen wenigen Branchen, zu wenig innovationsfreudig.

„The Sick Man of Europe“ („der kranke Mann Europas“): So hat die Credit Suisse Anfang Oktober eine schonungslose Analyse der deutschen Volkswirtschaft betitelt. Vom Wachstumsvorreiter, urteilen die Analysten der Schweizer Großbank, sei die Bundesrepublik zum „großen Underperformer der Euro-Zone“ geworden.

Wie konnte es so weit kommen? Die Analyse dieser Krise neuen Typs beginnt dort, wo schlechte Konjunkturnachrichten üblicherweise zuerst eintreffen: in den Zentralen der Konzerne.

1. Die Unternehmen

Es waren Schockwellen, die Martin Brudermüller Anfang Juli durch den BASF-Konzern und die gesamte deutsche Wirtschaft sendete. Der Vorstandschef des weltgrößten Chemieunternehmens, erst wenige Monate im Amt, musste bereits seine zweite Gewinnwarnung abgeben.

30 Prozent weniger Ertrag als erwartet, so kündigte Brudermüller an, werde das Unternehmen in diesem Jahr einfahren. Brexit, Handelskonflikte, Krise bei den Autokunden – dieser Mix machte die bis dahin geltende Prognose zunichte, die sowohl Wachstum bei Gewinn und Umsatz versprach.

Damals vermuteten manche Analysten noch, dass der BASF-Chef die operative Latte bewusst niedrig gehängt hatte, um am Ende bequem darüberspringen zu können. Doch heute, wenige Monate später, zeigt sich, dass Brudermüller richtig lag: Alle Hoffnungen auf eine Besserung der Konjunkturlage in der chemischen Industrie haben sich seither nicht erfüllt. „Es gibt keine Anzeichen für eine Wiederbelebung des Marktes“, sagte er Ende Oktober bei der Vorlage der Zahlen zum dritten Quartal des BASF-Geschäftsjahrs.

Große Chemieunternehmen wie BASF spüren die konjunkturellen Veränderungen sehr früh. Die Hersteller liefern Chemikalien und Kunststoffe in nahezu jede Branche und Region, ohne ihre Produkte kommt praktisch kein Unternehmen in der verarbeitenden Industrie aus.

Wenn sich die Kunden zurückhalten, sehen das die Chemiefirmen in ihren Auftragsbüchern sofort. Als „Frühzykliker“ bezeichnen Konjunkturexperten die Chemieunternehmen, weil Auf- wie Abschwung bei ihnen früher ankommen als beim Rest der Wirtschaft.

BASF, Evonik, die Bayer-Spin-offs Covestro und Lanxess, dazu Tausende mittelständische Firmen: Die Chemieindustrie zählt neben Automobil- und Maschinenbau zu den deutschen Schlüsselbranchen. In diesem Jahr wird ihre Produktion kräftig sinken, der Branchenverband VCI erwartet einen Umsatzrückgang von fünf Prozent auf 193 Milliarden Euro.

Schuld ist die Weltpolitik. Nichts fürchten Unternehmen mehr, als wenn das fein gesponnene globale Wirtschaftsgeflecht durcheinanderkommt. Zahlreiche geopolitische Konflikte mindern die Zuversicht und Risikobereitschaft der Kunden. Belastet wird das Geschäft der Chemiekonzerne insbesondere durch den Brexit und den Handelsstreit zwischen den USA und China, vor allem in China selbst, wo BASF riesige Produktionsstandorte betreibt.

Im Juli sei die Nachfrage etwa aus der Automobilindustrie abrupt eingebrochen, in Europa wie in China, berichten Chemiemanager. Das wiegt schwer, denn es ist die größte und wichtigste Kundengruppe. Rund 20 Prozent des Geschäfts von Firmen wie BASF und Covestro entfallen auf die Fahrzeughersteller.

Zugleich zeichnete sich ab, dass die letzte konjunkturelle Lokomotive ebenfalls zu schwächeln beginnt. Eine „deutliche Verlangsamung“ beobachtet Brudermüller in den USA. Beim größten US-Chemiekonzern Dow Chemical ist der Gewinn im dritten Quartal um 31 Prozent gesunken, der Umsatz gab um 13 Prozent nach.

Prognosen für das kommende Jahr scheuen die CEOs aus der Chemiebranche. Der konjunkturelle Nebel ist zu dicht, das ist auch die Meinung von Markus Steilemann, Chef des Leverkusener Kunststoffherstellers Covestro. Der Dax-Konzern ist Weltmarktführer bei Polyurethanen, das in Autositzen oder Möbeln und bei der Isolierung von Gebäuden und Kühlgeräten verwendet wird. Steilemann sieht keine Besserung.

Für eine realistische Prognose für 2020 sei es noch zu früh, sagt er. Der Branchenverband VCI wird erst Anfang Dezember seine Erwartungen für das kommende Jahr veröffentlichen. Doch schon jetzt ist zu hören, dass die Aussichten für Deutschlands drittgrößten Industriezweig als sehr gedämpft eingestuft werden.

Die Manager in der Chemie richten in einer solchen diffusen Konjunkturlage ihren Fokus auf das, was sie selbst beeinflussen können: die Kosten, die angepasst werden müssen auf das neue, schwächere Absatzniveau. Bei BASF fallen weltweit 6 000 Stellen weg, Covestro hat 900 Arbeitsplätze vor allem in der Verwaltung gestrichen.

Es ist das Ende einer deutschen Erfolgsstory, die fast zu schön war, um wahr zu sein: Als die Immobilien- und Bankenkrise die Finanzwelt an den Abgrund und die Weltwirtschaft in den kollektiven Abschwung führte, rutschte Deutschland 2009 mit einem Fünf-Prozent-Negativwachstum in seine schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte.

Doch während viele europäische Länder in einer jahrelangen Schuldenkrise verharrten, erholte sich die deutsche Wirtschaft prompt. Die Fülle an exportstarken Unternehmen, die mit ihrem starken Amerika- und Asiengeschäft nicht vom Wohl der Nachfrage aus Europa abhängig sind, ließ Deutschland zur Wachstumslokomotive des Kontinents aufsteigen.

2018 fuhr Deutschland zum dritten Mal in Folge den größten Exportüberschuss aller Staaten weltweit ein. Der deutsche Überschuss entspricht damit 7,4 Prozent der deutschen Jahreswirtschaftsleistung. In absoluten Zahlen ist das mehr als der kombinierte Überschuss der beiden Zweit- beziehungsweise Drittplatzierten, Japan und Russland.

Doch die deutsche Exportabhängigkeit wird in Zeiten von Protektionismus, Handelsbeschränkungen und einer schwächeren Weltwirtschaft zum Problem. Nach jahrelang zweistelligen Wachstumsraten sinken die Umsätze deutscher Konzerne in China erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder.

Mit einem Umsatzanteil von gut 15 Prozent, das sind jährlich knapp 200 Milliarden Euro, ist China für die Dax-Konzerne nach den USA und Deutschland der drittwichtigste Markt. Kein anderes westliches Industrieland ist so eng mit China verflochten wie die Bundesrepublik.

Die schwächere Weltkonjunktur und die internationalen Konflikte machen immer mehr deutschen Unternehmen zu schaffen, nicht nur in der Chemiebranche. Im ersten Halbjahr gaben die 308 im „Prime Standard“ der Deutschen Börse notierten Unternehmen nach Berechnungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY 54 Gewinn- oder Umsatzwarnungen heraus. Das ist gut ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum und zugleich ein neuer Höchststand seit der Rezession 2009.

Im Prime Standard notieren unter anderem alle Unternehmen aus den Indizes Dax, MDax, TecDax und SDax. Prozentual die meisten Gewinnwarnungen kommen aus der Autobranche: Fünf der zwölf börsennotierten Autobauer oder Zulieferer mussten bereits ihre Prognosen nach unten korrigieren.

Fast alle betroffenen Konzerne eint, dass sie mehr als die Hälfte ihrer Umsätze und Gewinne im Ausland erwirtschaften und deshalb besonders stark unter dem zurückgehenden Welthandel infolge der Handelskonflikte leiden. Weitverzweigte Lieferketten erhöhen die Kosten, etwa wenn China Zölle auf in Amerika produzierte SUVs von Daimler und BMW erhebt.

„Der Gegenwind nimmt zu“, beobachtet EY-Partner Martin Steinbach, „zahlreiche Unternehmen mussten schon zu Beginn des Geschäftsjahres feststellen, dass ihre ohnehin nicht übermäßig optimistischen Prognosen doch nicht erreichbar sind.“

Seit dem Sommer produzieren die Unternehmen aus 20 von 30 Industriesektoren weniger als im Vorjahr. Anstiege gab es nur noch in konjunkturunempfindlichen Bereichen wie Nahrungsmittel, Kleidung und Möbel. „Damit kann in der Industrie von einem bloßen Durchhänger schon lange keine Rede mehr sein“, kommentiert Commerzbank-Volkswirt Ralph Solveen, „vielmehr befindet sie sich in einer der schwierigsten Phasen seit der Wiedervereinigung.“

Dass in dieser seltsamen Rezession die Aktienkurse dennoch seit Wochen steigen, verdanken Anleger einem besonderen Umstand. Anleihen erwirtschaften angesichts der Nullzinspolitik und der Anleihekaufprogramme der Notenbanken schon lange keine Renditen mehr.

Die Preise für Immobilien sind kräftig gestiegen. Bleiben Aktien als vermeintlich einzige Alternative. Darüber hinaus fällt die Krise in der Realwirtschaft aus Sicht vieler Börsianer bislang schwächer aus als noch bis zur Jahreswende befürchtet. Sie mündet trotz Handelskonflikt, Protektionismus und China-Schwäche immerhin nicht in eine weltweite Rezession.

Wie weit der Abschwung allerdings in Deutschland bereits fortgeschritten ist, zeigt sich am Maschinenbau. Mit über einer Million Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mehr als 200 Milliarden Euro ist er Deutschlands wichtigste Branche.

Schon Anfang des Jahres musste der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) seine Prognose kürzen – und rechnet für 2019 nunmehr mit einem Produktionsminus von zwei Prozent. Die Aufträge liegen im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent im Rückstand. Dass sich die Lage bald bessert, erwartet niemand mehr.

Selbst beim Leitstern der Branche, bei Trumpf in Ditzingen, bereitet man sich nun auf den Abschwung vor. Zeitkonten der Mitarbeiter werden nach und nach abgebaut, Verträge von Leiharbeitern nicht verlängert. Nur von Entlassungen will die Chefin des Familienkonzerns, Nicola Leibinger-Kammüller, vorerst absehen. Für 2020 rechnet Trumpf laut Geschäftsbericht mit einem „leicht rückläufigen“ Umsatz und Ergebnis.

Doch die Lage verschlechtert sich stetig. Schon bei der Präsentation des Berichts Ende Oktober musste Leibinger-Kammüller den Wortlaut präzisieren: „Der Geschäftsbericht ist vor zwei Wochen fertiggestellt worden. Ich würde dieses ‚leicht‘ heute nicht mehr verwenden. Ich würde sagen: ‚rückläufiger Umsatz‘ – mal sehen, wie der ausfällt.“

Ähnlich wie in der Chemiebranche haben derzeit vor allem jene Maschinenbauer Probleme, die die Autoindustrie beliefern – wie zum Beispiel der Maschinen- und Anlagenbauer Aumann AG, der Fertigungslinien für Teile von Antriebssträngen produziert und bereits Ende August eine Gewinnwarnung aussprach.

Doch erst ein Blick in die Zahlen von Aumann offenbart, wo genau derzeit die größten Probleme liegen: Das Geschäft mit den Herstellern von traditionellen Fertigungslinien vor allem für die Automobilindustrie ist innerhalb eines Jahres um fast zehn Umsatzprozente gefallen.

Während das Geschäft mit Anlagen für die Produktion von E-Antrieben um 16 Prozent zugelegt hat. Von einem Ausgleich des Stammgeschäfts kann aber keine Rede sein, das Elektrogeschäft befindet sich absolut gesehen auf einem niedrigeren Niveau.

Die Autobranche zählt mit einem Anteil von rund 30 Prozent zu den wichtigsten Kunden der Maschinenbauer. Die unsichere Zukunft von Autoherstellern angesichts des Trends zur E-Mobilität wird so in rasender Geschwindigkeit zum Problem der gesamten deutschen Volkswirtschaft.

Mit einer Entlassungswelle im Maschinenbau rechnet VDMA-Konjunkturexperte Olaf Wortmann zwar nicht. „Die Maschinenbauer beschäftigen häufig speziell ausgebildetes Fachpersonal, das man auch in wirtschaftlich schweren Zeiten ungern ziehen lässt“, sagte der Ökonom dem Handelsblatt. Doch Zeitarbeit und die Beendigung von Leiharbeitsverhältnissen dürften in Zukunft häufiger zu beobachten sein, so der Experte.

Derzeit rechnet der VDMA auch für das kommende Jahr mit einem Produktionsrückgang von zwei Prozent. Die Maschinenbauer drängen daher auf eine Ausweitung der Kurzarbeiterregelung auf 24 Monate, wie sie die Bundesregierung nach der Finanzkrise 2009 schon einmal beschlossen hatte. „Damals kam Deutschland von allen Ländern am schnellsten aus der Krise. Das würde den Unternehmen helfen, die anstehende Dürreperiode zu überstehen“, so Wortmann.

Deutschlands Schlüsselbranche ruft nach der Politik. Fragt sich nur, ob die zuhört.

2. Die Politik

Bei Olaf Scholz (SPD) ist das Glas randvoll. Zumindest jenes, das neben ihm steht und das er am vergangenen Mittwoch im großen Matthias-Erzberger-Saal des Bundesfinanzministeriums nicht anrührt. Der Vizekanzler und oberste Kassenwart der Regierung hat „gute Nachrichten“ zu verkünden: „Es geht unserem Land weiter wirtschaftlich gut.“

Die Bundesregierung musste zwar gerade ihre Konjunkturprognose für 2020 erneut senken, nun von 1,5 Prozent auf 1,0 Prozent Wirtschaftswachstum. Doch die gute Nachricht des Finanzministers lautet: Die Wachstumsschwäche schlägt bisher nicht auf die Steuereinnahmen durch.

In diesem Jahr hat der Bund laut der am Mittwoch präsentierten Steuerschätzung sogar vier Milliarden Euro mehr zur Verfügung als noch bei der letzten Schätzung im Mai prognostiziert. Und im kommenden Jahr soll der Bund immerhin 328,6 Milliarden Euro einnehmen – und damit nur 0,2 Milliarden Euro weniger als bisher erwartet.

Ein Einbruch sieht anders aus. Und so bilanziert Scholz zufrieden: Es gebe keine Situation, die „irgendwelche Sonderaktionen“ notwendig mache. Das liegt vor allem am robusten Arbeitsmarkt. Die Beschäftigung steigt weiter, die Löhne auch – und damit die Steuern.

Die Wirtschaftsverbände halten nichts von Scholz’ Politik der ruhigen Hand. „Wie viele Warnhinweise will die Bundesregierung denn noch ignorieren?“, fragt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Wenn sie „weiter die dringend notwendigen Investitionen aufschiebt, dann gefährdet sie langfristig die Stabilität des Wirtschaftsstandorts Deutschland“.

Scholz tat das, was ein Kassenwart in so einer Situation immer tut: Er wehrte die Ratschläge ab. Der Bundesfinanzminister beharrt darauf, dass er bereits „expansive Haushaltspolitik“ betreibe und so die Konjunktur stütze.

In diesem Jahr habe die Fiskalpolitik für einen Wachstumsimpuls von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesorgt, rechnete Scholz vor. Der kommt unter anderem durch die Entlastungen der Bürger und Unternehmen bei Steuern und Sozialabgaben zustande. Im kommenden Jahr werde der Impuls sogar noch etwas höher liegen, so Scholz.

Die Frage ist nur: Reicht das angesichts der immer finsterer werdenden Konjunkturaussichten? Aus Sicht von Scholz und der Bundesregierung lautet die Antwortet bisher: Ja. Gleichzeitig rüstet man sich aber für den Fall der Fälle. Schon zu Beginn des Jahres ließ Scholz seine Beamten im Finanzministerium mögliche Maßnahmen zusammentragen, mit denen sich die Konjunktur stützen ließe. Die Pläne liegen seitdem griffbereit in der Schublade.

Zu ihnen gehören bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen, aber auch weitere Steuerentlastungen für die Mittelschicht. In der Unionsfraktion denkt man zudem darüber nach, den teilweisen Abbau des Solidaritätszuschlags um ein Jahr vorzuziehen auf Anfang 2020. Das könnte die Kaufkraft erhöhen und so die Konjunktur stützen.

Egal, wie lange die Krise dauert: Dem deutschen Staat wird das Geld zum Gegensteuern nicht so schnell ausgehen. Das ist auch dringend nötig, denn ein anderer Akteur fällt als Krisenfeuerwehr weitgehend aus: die Europäische Zentralbank. Deren Leitzinsen liegen bereits jetzt unterhalb des Nullpunkts. Schwer vorstellbar, wie die EZB den Abschwung mit einer noch lockereren Geldpolitik wirksam bekämpfen will.

Auch im Ministerium für Arbeit und Soziales, geführt von SPD-Minister Hubertus Heil, zeigt man sich ebenso entspannt wie bei den meisten Arbeitsmarktexperten. „Wir sind in der Mitte einer Rezession und die Beschäftigung steigt, das hat es früher nicht gegeben“, sagt Enzo Weber, Leiter des Bereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs‧forschung (IAB). „Der Arbeitsmarkt wirkt als Stabilitätsanker.“

Das IAB als Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA) geht davon aus, dass die Zahl der Erwerbstätigen trotz konjunktureller Eintrübung bis Ende kommenden Jahres auf knapp 45,4 Millionen weiter steigen wird. Bei der Arbeitslosigkeit erwarten die Forscher bislang eine Stagnation bei knapp 2,3 Millionen im Jahresdurchschnitt 2019 und 2020.

Der Arbeitsmarkt entwickelt sich noch erstaunlich robust. Nicht weiter verwunderlich, reagiert er in der Regel mit Zeitverzögerung auf konjunkturelle Schwächen. Aber es zeigen sich erste Risse im Bild. Laut der Bundesagentur für Arbeit ging die Nachfrage im Oktober nach Zeitarbeit „deutlich zurück“. Ein schlechtes Zeichen, reagiert die statistische Größe doch als erste auf einen Abschwung, Zeitarbeiter können von Unternehmen schnell abgebaut werden.

Erstmals seit gut sechs Jahren lag auch die Zahl der Arbeitslosen im Oktober nicht mehr unter dem Niveau des Vorjahrs. „Ein Prozentpunkt weniger Wirtschaftswachstum bedeutete noch in den 2000er-Jahren 0,4 Prozent weniger Beschäftigung“, sagt IAB-Experte Weber. „Heute liegen wir bei weniger als 0,2 Prozent.“ Die Exportbranchen, die nun die Rezession ausgelöst haben, arbeiten besonders kapitalintensiv.

Das heißt: Um am Standort Deutschland wettbewerbsfähig zu sein, beschäftigen die Unternehmen in Relation zum Umsatz eher wenige Mitarbeiter und setzen stattdessen Maschinen ein. Und Pflegekräfte, Erzieherinnen, Polizisten oder Lehrer werden auch gebraucht, wenn der Exportmotor gerade nicht brummt.

Unstrittig sind die geplanten Maßnahmen gegen einen Abschwung. So will Heil sich vom Bundestag eine Verordnungsermächtigung geben lassen, um bei Bedarf rasch die erweiterte Form des Kurzarbeitergelds wieder einführen zu können, die sich in der Krise 2008/09 bewährt hatte. Damals waren die Zugangsvoraussetzungen und die Bezugsdauer verlängert worden.

Zwar ist Deutschland mit im September rund 54.000 Beziehern von konjunkturellem Kurzarbeitergeld weit vom Höchststand im Mai 2009 mit fast 1,5 Millionen entfernt. Doch nach einer Umfrage des Ifo-Instituts fuhren im September 5,5 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Kurzarbeit, im Juni waren es erst 3,8 Prozent. Und 12,8 Prozent erwarten Kurzarbeit in den kommenden drei Monaten. Das Kriseninstrument des Jahres 2009 erlebt also ein Comeback, während die Politik noch immer nicht von Krise sprechen mag.

3. Die Agenda

„Wir haben derzeit keine Konjunkturkrise, sind aber in einer Schwächephase“, heißt es im Bundeswirtschaftsministerium. Das habe insbesondere mit der schwächelnden Weltwirtschaft zu tun: „Die Handelsstreitigkeiten und der immer noch nicht gelöste Brexit belasten die Weltwirtschaft, das spürt ein exportstarkes Land wie Deutschland.“

Das klingt nach höherer Gewalt – was kann Deutschland schon dafür, wenn sich Peking und Washington in die Haare kriegen? Doch tatsächlich, das konstatieren auch die Analysten der Credit Suisse in ihrer Studie über den „Sick Man of Europe“, erhält Deutschland nun die Quittung für ein seit Jahren ignoriertes Klumpenrisiko: die einseitige Abhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft vom Export einerseits und andererseits von der Automobilbranche. Von der unsicher ist, ob sie die Mobilitätswende in der derzeitigen Form überleben wird.

Aus vielen anderen Schlüsselbranchen hat sich die deutsche Wirtschaft weitgehend verabschiedet: Deutsche Banken spielen im Weltmaßstab kaum noch eine Rolle, ebenso wenig wie deutsche Pharmaunternehmen oder – mit der ewigen Ausnahme SAP – deutsche IT-Konzerne. So kommt stattdessen immer mehr vom Gleichen aus Deutschland: erstens Autos. Zweitens Maschinen, die Autos herstellen. Drittens Kunststoffe, aus denen Teile für Autos hergestellt werden.

Dass alte Unternehmen aus dem Markt verschwinden, ist dabei nicht Deutschlands vordringliches Problem. Sondern dass neue, innovative Unternehmen in Zukunftsbranchen nicht schnell genug nachwachsen. „Wir haben die Zeiten nicht genügend genutzt, in denen es uns gut geht“, konstatiert Benjamin Grosch, als Senior-Partner bei der Boston Consulting Group (BCG) zuständig für die Beratung des öffentlichen Sektors: „Die Politik hat die Zukunft verwaltet, nicht gestaltet. Das muss sich dringend ändern.“

Für Stefan Schaible, Global Managing Director der Unternehmensberatung Roland Berger, gehören vor allem Investitionen in digitale Infrastruktur auf die Agenda: „Deutschland sollte die Zeiten der Nullzinspolitik nutzen, um wichtige Investitionen für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu tätigen.“

Dazu gehörten auf jeden Fall Investitionen in moderne Infrastrukturen, in innovative Technologien wie etwa 5G, in die Digitalisierung vieler Institutionen sowie in ein modernes Bildungssystem. „Nur so kann das Land aus dieser schwachen Konjunkturphase gestärkt herauskommen“, so Schaible.

An Ideen für eine Politik, die Deutschland wieder auf einen höheren und stabileren Wachstumspfad hebt, mangelt es nicht. Wohl aber an der Umsetzung in der Großen Koalition. „Man merkt doch, wie die Union wie Mehltau über der Republik liegt“, hat Olaf Scholz in dieser Woche in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt – und damit indirekt auch die Untätigkeit jener Bundesregierung angeprangert, in der er selbst als Vizekanzler dient.

Kaum vorstellbar, dass Kanzlerin Angela Merkel im Herbst ihrer Amtszeit noch einmal zur Anführerin einer echten Reform- und Wachstumsagenda wird. Zuletzt hatte sie mit einem groß angekündigten Klimapaket enttäuscht.

Von einem Ruck, der nun angesichts der Rezession durch Deutschland gehen könnte, ist nichts zu spüren. Womöglich auch deshalb, weil es an jener Alarmstimmung fehlt, die in der Krise von 2009 so viel möglich machte. Es regiert weiter der Attentismus – und gerade der macht das Japan-Szenario für Deutschland immer wahrscheinlicher. In diesem Szenario droht Deutschland in den kommenden Jahren eine Abfolge aus Rezession, Stagnation und Phasen schwachen Wachstums.

Auch in Japan hat sich die Regierung zu echten Reformen nie durchringen können. Japanische Konzerne, die einst als technologische Speerspitze der Weltwirtschaft galten, haben sich nach und nach aus immer mehr Zukunftsbranchen zurückgezogen. Sony, der Erfinder von Walkman und Discman, hat die Internetrevolution verschlafen, so wie deutsche Autokonzerne allzu lange die Mobilitätswende ignoriert haben.

Noch hat Deutschland es in der Hand, dieses Szenario abzuwenden. Noch hat das Land genug Kraft, um sich neue Wachstrumstreiber jenseits des Dreiklangs aus Auto. Maschinenbau und Chemie zu erschließen. Und auch die deutsche Autobranche selbst kämpft darum, den Anschluss bei alternativen Antriebstechnologien zurückzugewinnen.

Dieser Wille zur Anpassung an neue Verhältnisse zeigt sich auch in Eisenach bei der Edag Werkzeug + Karosserie GmbH. Die Karosserie sei eines der Felder, die nicht wesentlich unter der Elektrowende litten, sagt Geschäftsführer Ritz. Das Eise‧nacher Werk war etwa auch bei der Prototypenentwicklung des neuen VW-Stromers ID3 beteiligt.

Ritz glaubt, dass es in seiner Branche nur eine Delle geben wird, keinen drastischen Abschwung. Aber, und das schiebt er gleich hinterher: Die Wachstumsdynamik werde sehr stark davon abhängig sein, wie gut die neuen Produkte der deutschen Autobauer ankommen werden – hierzulande genauso wie auf dem Weltmarkt.

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Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz setzen auf Gelassenheit angesichts des Konjunktureinbruchs in Deutschland. Foto: dpa
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Zuwanderung hilft der Wirtschaft – wenn die Richtigen kommen. Foto: dpa
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