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Phänomen Vechta – Babyboom auf dem Land

In keinem anderen Landkreis ist der Geburtenüberschuss größer als in Vechta. Mit der Bevölkerung wachsen auch die Probleme: unter anderem beim Bauland.

Rekorde sind sie am St. Marienhospital gewohnt. Fast jedes Jahr gibt es einen neuen. Als Julia Schweigert hier vor elf Jahren als Assistenzärztin anfing, kam die Klinik noch auf gut 1.000 Entbindungen. „Mittlerweile sind es 1.500 pro Jahr, Tendenz weiter steigend“, sagt Schweigert. „Der Trend geht hier gerade hin zum Dritt- oder Viertkind.“

In der Tat: Jede vierte Frau im Kreis Vechta, die zwischen 1965 und 1974 geboren wurde, hat drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht. Das Krankenhaus muss dementsprechend aufstocken: Im nächsten Jahr wird der vierte Kreißsaal eingeweiht, im Herbst bekommen die zehn Hebammen drei neue Kolleginnen dazu. Plötzlich meldet sich Schweigerts Piepser. Die 39-Jährige, inzwischen Oberärztin in der Frauenklinik, läuft schnell in Richtung Kreißsaal – der nächste Einwohner des Landkreises Vechta will auf die Welt kommen.

Vechta ist ein Phänomen. Dass Städte wie München oder Hamburg ungebremst wachsen, leuchtet jedem ein. Aber warum kommen ausgerechnet in einem kleinen Landkreis im Westen Niedersachsens so viele Kinder zur Welt wie an kaum einem anderen Ort in Deutschland? Dort, wo zwei Drittel der Fläche von Landwirten beackert werden, wo es rund elf Millionen Hühner gibt – und gerade mal 140.000 Menschen? Und kann die Region das schnelle Wachstum überhaupt abfedern? Welche Probleme tauchen auf, wenn jede neue Familie ihr Einfamilienhaus bauen will?

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Der Kampf um Fachkräfte wird schwieriger

Als Matthias Lesch ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Lohne, in die zweitgrößte Stadt des Landkreises. Er ist dort aufgewachsen, zur Schule gegangen – und geblieben. Zwei Jahre lebte er mit Frau und Kindern in Amerika, baute in North Carolina das US-Werk von Pöppelmann auf, einem der größten Familienunternehmen im Kreis Vechta. Danach kam Lesch zurück nach Lohne. Heute ist er Geschäftsführer beim Kunststoffverarbeiter Pöppelmann, der unter anderem Schutzelemente für Autohersteller, Verpackungen für die Pharmaindustrie und Pflanztöpfe herstellt.

Lesch, 42 Jahre, hat die Region zwischen Bremen und Osnabrück wachsen sehen. Hat erlebt, wie sich immer neue Unternehmen ansiedelten, wie sich die öffentlichen Kassen durch Gewerbesteuereinnahmen auffüllten, wie Dörfer binnen kurzer Zeit ihre Einwohnerzahl verdoppelten. Aber er sieht auch die Probleme. „Zu den Folgen der positiven Wirtschaftsentwicklung gehört es auch, dass die Flächen für Bauland wie auch das Angebot an freien Wohnungen zunehmend knapp werden“, sagt Lesch. Gleichzeitig seien die Kosten deutlich gestiegen. Ein Einfamilienhaus mit Grundstück könne heute gut und gerne um die 400.000 Euro kosten.

Früher konnte sich im Kreis Vechta noch jeder Industriearbeiter das Eigenheim leisten, das hier in der Region fast selbstverständlich ist. Die „Südoldenburger Karriere“ nennen sie den vorgezeichneten Lebensweg: Auto, Hochzeit, erstes Kind, dann Hausbau. Die Eigenheimquote lag früher mal bei 80 Prozent. Gegenüber den Ballungszentren sei das Preisniveau selbst heute noch ein Vorteil der Region, findet Lesch. Bisher habe es bei Pöppelmann auch noch niemanden gegeben, der eine Stelle wegen der Wohnsituation am Ende nicht angetreten sei. „Aber es bleibt eine Herausforderung.“

Auch der Kampf um Fachkräfte ist schwierig. Die Arbeitslosenquote liegt bei 3,4 Prozent, Experten sprechen bei so einer niedrigen Rate schon von Vollbeschäftigung. Die meisten Unternehmen haben zig offene Stellen. Nicht nur bei Pöppelmann suchen sie händeringend nach SAP-Fachleuten und Experten im technischen Bereich. „Das wird auch künftig ein Engpass sein, den wir nicht immer über die eigene Ausbildung lösen können“, glaubt Lesch.

Der Erfolg bringt nun Probleme

Es ist paradoxerweise der Erfolg, der Vechta nun Probleme bereitet. Beispiel Niedersachsenpark: Zusammen mit Gemeinden aus dem Kreis Osnabrück, auch eine Region mit hohen Geburtenüberschüssen, wurde vor zehn Jahren ein riesiger Industrie- und Gewerbepark aus dem Boden gestampft. Gut 2.500 Arbeitsplätze sind entstanden, Adidas und Würth haben sich angesiedelt. Doch die Mitarbeiter brauchen auch Wohnraum – und der wird knapp in Neuenkirchen-Vörden, der Gemeinde mit dem Firmenboom.

Gewerbeflächen konkurrieren immer öfter mit Wohngebieten, obendrein wollen viele Bauern ihr Ackerland nicht verkaufen, weil sie auf noch höhere Grundstückspreise hoffen. Hinter vorgehaltener Hand sprechen sie im Landkreis schon vom „Flächenkampf“. Manche finden die Townhouses zu klotzig, die Vechta neben den Bahnhof gesetzt hat, sechs Stockwerke hoch, 150 Wohneinheiten samt Parkhaus – und dazu eine moderne Stahlbetonbrücke über die Schienen, die in Anlehnung an Bürgermeister Helmut Gels „Golden Gels Bridge“ genannt wird.

Im „Zukunftsatlas“ des Marktforschungsunternehmens Prognos, das alle drei Jahre die Lage in den 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten analysiert, sind die Probleme auch schon angekommen. Galt Vechta im Jahr 2016 noch als Region mit „hohen Zukunftschancen“, ist sie nun nur noch eine mit „leichten“. Um satte 60 Plätze ist der Landkreis im Ranking abgestürzt. Nach wie vor exzellent schneidet Vechta bei der Bevölkerungsentwicklung ab – neben den Städten München, Frankfurt am Main, Freiburg und Offenbach ist Vechta der einzige Landkreis in den Top fünf beim Geburtenüberschuss. Im Jahr 2017 kamen hier 1.547 Menschen zur Welt – und nur 1.131 starben. Macht ein Bevölkerungswachstum von gut 3,6 Prozent. Damit läge der Kreis selbst in Afrika in der Spitzengruppe, weit vor Ländern wie Angola oder Nigeria.

Das Vereinswesen spielt eine große Rolle in Vechta

Der Geburtenüberschuss in den Großstädten liegt vor allem daran, dass es überproportional viele junge Menschen in die Städte zieht, die ihre Familiengründung erst noch vor sich haben. In Vechta jedoch kommt die ungewöhnlich hohe Geburtenrate hinzu. Sie liegt bei knapp 1,9 Kindern pro Frau – deutlich über dem Bundesschnitt von 1,57 Kindern.

Gleichzeitig ist die Akademikerquote aber sehr gering, auch der Anteil der Beschäftigten am Dienstleistungssektor rangiert im letzten Viertel aller untersuchten Regionen. Hinzu kommt, dass der Anteil der Menschen zugenommen hat, die in Bedarfsgemeinschaften leben – also vor allem Sozialhilfe beziehen.

Die Region muss aufpassen, dass sie weiterhin attraktiv für Zuzügler bleibt. Denn um die geht es vor allem. Wer hier aufwächst, bleibt der Region ohnehin treu – oder kommt spätestens dann zurück, wenn es an die Familiengründung geht. Die Menschen fühlen sich ihrer Heimat verbunden, sie lieben die Natur, die Reiterhöfe, die Fahrradwege. Sie sind stolz, dass sich die einst bettelarme Gegend in den Jahrzehnten hochgearbeitet hat. Sie fiebern mit, wenn ihr Verein Rasta Vechta es wie zuletzt bis ins Halbfinale der Basketball-Bundesliga schafft. Und sie haben sich mit der intensiven Landwirtschaft angefreundet, mit Viehzucht, Schlachthöfen, der Fleischverarbeitung. Wenn der Nitratgestank von den gedüngten Feldern in Vechtas Innenstadt zieht, nennen sie das hier „Landluft“.

Anders als vielerorts in der Republik spielt das Vereinswesen hier noch eine große Rolle: Feuerwehr, Schützen, Caritas, Rotarier. In der Flüchtlingskrise gründeten sich direkt zwei neue Vereine, um Hilfe zu leisten. Und auch gefeiert wird viel: beim Dammer Karneval oder beim Stoppelmarkt, einem der ältesten Jahrmärkte Deutschlands.

Politisch ist die Region tiefschwarz

Politisch ist die Region tiefschwarz. In den kleineren Gemeinden des Kreises holt die CDU teilweise noch mehr als 80 Prozent der Stimmen. Und auch die Kirchen sind hier noch voller als anderswo, vor allem die katholischen: Vechta ist gemeinsam mit dem Nachbarkreis Cloppenburg eine Enklave im sonst protestantisch geprägten Niedersachsen. In Vechta hat sogar das Bischöflich Münstersche Offizialat seinen Sitz, eine regionale Kirchenbehörde des Bistums Münster. Es ist kein Zufall, dass Cloppenburg mit einer Geburtenrate von 2,0 sogar noch knapp vor Vechta liegt.

Denn bis vor Kurzem war in beiden Kreisen noch das klassische Familienmodell der Standard: Der Mann ging arbeiten, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Das ändert sich hier deutlich langsamer als im Rest der Republik.

Mehr als 71 Prozent der Frauen in Deutschland arbeiten. In Vechta lag die Quote im Jahr 2018 bei gerade mal 57 Prozent. „Darin sind alle Beschäftigungsverhältnisse enthalten, auch geringfügige und Teilzeitstellen“, erklärt Renate Hitz, die die Geschäftsstelle des Verbunds familienfreundlicher Unternehmen Oldenburger Münsterland leitet, eines regionalen Zusammenschlusses von Vechta und Cloppenburg. Die meisten Betreuungseinrichtungen hätten noch starre Zeiten, sagt Hitz. Dadurch sei es für viele Frauen unmöglich, nach der Elternzeit wieder voll zu arbeiten.

„Vor allem bei vielen kirchlichen Trägern in den kleineren Gemeinden sind die Betreuungszeiten ausbaufähig“, meint Hitz. Öffnungszeiten von acht bis zwölf Uhr seien nicht mehr zeitgemäß. In Vechta, Lohne und Damme, den drei Städten im Kreis, hat sich die Lage schon gebessert. „In den kleinen Orten ist noch Potenzial“, findet Hitz.

Tagesmütter springen in die Bresche

Wo der Kita-Ausbau nicht hinterherkommt, springen Tagesmütter in die Bresche. Aber auch dort bleiben die Randzeiten meist die Ausnahme. Bislang gibt es im gesamten Kreis nur eine betriebliche Lösung: die „Vita-Kids“. Zwei Tagesmütter arbeiten dabei mit dem St. Marienhospital zusammen, um die Schichtdienste im Klinikum möglichst abzudecken. Die Kernöffnungszeiten sind von sieben bis 16 Uhr, für jedes Kind gibt es aber individuelle Betreuungszeiten.

Hitz hofft, dass sie bald zwei weitere Unternehmen von einer betrieblichen Betreuung überzeugen kann. Aber auch die Schulen und ihre Träger sind gefragt. Denn spätestens, wenn die Kinder eingeschult werden, stehen Eltern vielerorts wieder vor dem gleichen Problem: Viele Schulen machen nach dem Mittagessen zu.

Auch die Firmen mussten umdenken, flexibler werden. So wie Grimme, 1861 gegründet, in der vierten Generation familiengeführt, Weltmarktführer bei Kartoffelerntemaschinen. „Man muss als Betrieb für die verschiedenen Lebensphasen der Mitarbeiter entsprechende flexible Arbeitszeitmodelle schaffen“, sagt Christine Grimme.

Die 61-Jährige ist eigentlich Lehrerin für Sport und Biologie, vor 16 Jahren warb ihr Mann sie von der Schule ab. Seitdem kümmert sie sich um Öffentlichkeitsarbeit und Ausbildung im Betrieb. Bei Führungskräften sei Teilzeit noch schwierig, trotzdem arbeite etwa auch die Personalchefin nur vier Wochentage. Finden neue Mitarbeiter keinen Kita-Platz, hilft Grimme nach, sie hat einen guten Draht zur Stadt Damme, in der ihr Unternehmen sitzt. Bisher konnte sie in jedem Fall helfen. „Das ist eben der Vorteil auf dem Land.“