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Das Peking-Paradox: Chinas unheimlicher Erfolg mit dem Staatskapitalismus

In China gelingt seit Jahrzehnten das Wirtschaftswunder per Regierungsdekret. Doch die Spannungen im Land mehren sich. Wie lange geht das noch gut?

Die örtliche Polizei muss sich mit teilweise gewalttätigen Protesten auseinandersetzen. Die Demonstranten fürchten eine engere Anbindung an China. Foto: dpa
Die örtliche Polizei muss sich mit teilweise gewalttätigen Protesten auseinandersetzen. Die Demonstranten fürchten eine engere Anbindung an China. Foto: dpa
  • Die Wirtschaft in China boomt seit Jahrzehnten, und die Marktwirtschaft produziert erstaunliche Ergebnisse. Mehr als 700 Millionen Menschen wurden seit 1978 aus der Armut geholt.

  • Doch während die Staatsmacht weiterhin versucht, jedes kleine Detail zu kontrollieren, stellen die Demonstrationen in Hongkong und der Zollstreit mit den USA die Geduld der Chinesen auf eine harte Probe.

  • „China ist ein gutes Modell“: Takehiko Nakao, Chef der Asiatischen Entwicklungsbank, spricht im Interview über die Gründe für Chinas Erfolg, den Handelskonflikt mit den USA und die Auswirkungen auf andere Staaten Asiens.

  • Chinas IT-Talente fordern endlich bessere Arbeitsbedingungen, wollen sich von Alibaba, Huawei und Co. nicht länger ausbeuten lassen. Da der IT-Jobboom ins Stocken kommt, rücken ihre Wünsche aber in weite Ferne.

Paranoia ist ein medizinischer Begriff. Im Lexikon definiert er sich als eine psychische Störung mit Wahnvorstellungen. Wer in diesen Tagen durch Peking läuft, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein ganzes Land, oder genauer: die staatlichen Institutionen unter einer akuten Paranoia leiden.

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An den U-Bahn-Stationen stehen unzählige „Aufpasser“ der paramilitärisch organisierten Polizeieinheit der Volksrepublik China – tadellose Uniform, ernste Miene, höchste Konzentration. Jedes Paket, das Boten der großen E-Commerce-Giganten Alibaba oder JD.com in diesen Tagen ausliefern, trägt einen zusätzlichen Aufkleber. „Bereits sicherheitsgeprüft“ steht da in großen Buchstaben drauf. Wer in der Luxus-Shopping-Mall Oriental Plaza, die sich nur wenige Hundert Meter vom Platz des Himmlischen Friedens befindet, einkaufen möchte, muss durch weiße Pavillons mit Metalldetektor und Taschen-Scannern. Der Feind lauert überall.

Selbst für Tauben gilt erst einmal Flugverbot. Alle Objekte, die „eine Gefährdung der Flugsicherheit“ darstellen, von Luftballons über Drohnen zu Drachen bis hin zu Vögeln eben, dürfen bis einschließlich 1. Oktober nicht in den Himmel steigen. Alles ist verdächtig – und sei es eine Taube, ausgerechnet das globale Symbol für den Frieden.

China im September 2019 – die Volksrepublik feiert das Jubiläum ihres 70-jährigen Bestehens –, und es scheint, als hätte die mächtigste aller mächtigen Staatsmächte vor allem eines: Angst. Angst vor der eigenen Bevölkerung, die nicht nur aus Sicht des Westens, sondern auch aus Sicht manches Chinesen längst paranoide Züge trägt.

Trotz eines spektakulären Wirtschaftsbooms über Jahrzehnte besteht die Macht der Regierung auf Gängelung, Intervention und Zensur. Die Marktwirtschaft produziert erstaunliche Ergebnisse, obwohl sie im Grunde nur gespielt wird. Denn die Kommunistische Partei entscheidet über alles und jedes kleine Details, den Wechselkurs, die Zinsen oder das Vermögen von Geschäftsleuten.

China ist eine Provokation für die reine Marktwirtschaftslehre. Wie kann es sein, dass der Staatskapitalismus so erfolgreich ist? Ob Straßen, Züge oder Flughäfen – die Infrastruktur des Landes ist beeindruckend. Mehr als 700 Millionen Menschen wurden seit 1978 aus der Armut geholt.

Allerdings gibt es Probleme. Die Demonstrationen in Hongkong stellen die Geduld der Chinesen auf eine harte Probe. Der Zollstreit mit den USA belastet die Wirtschaft. Derzeit gehen aufgrund der Schweinepest die Fleischpreise durch die Decke, der Zorn der Bevölkerung ist groß. Immer noch leidet China an einem eklatanten regionalen Wohlstandsgefälle.

Es fehle an Institutionen, die wie in liberalen Marktwirtschaften Ungleichheit entgegenwirken, wie etwa ein ausreichendes Sozialsystem, warnt Takehiko Nakao, Chef der Asiatischen Entwicklungsbank: „In einem sozialistischen Staat sollte die Gleichheit hoch sein, ist es aber in der Realität nicht.“

Doch von den Problemen wird am 1. Oktober 2019 nichts zu spüren sein. Hunderttausende werden Xi Jinping zum 70. Jahrestag der Volksrepublik zujubeln. Der 66-Jährige ist Staatschef und Parteichef in einem – seit dem Beschluss des Nationalen Volkskongresses im März vergangenen Jahres womöglich auf Lebenszeit.

Xi wird die Formationen der größten und pompösesten Militärparade der chinesischen Geschichte abnehmen. Er wird der Welt die modernsten Waffensysteme des Landes, die technologisch längst auf dem Stand der USA sind, zur Schau stellen. Und er wird – so heißt es in Peking – eine sehr „bedeutende Rede“ halten.

Seine Worte werden in Berlin, Paris, London und vor allem auch in Washington nachhallen. Die künftige Weltmacht spricht zu den Regierungsvorstehern der ehemaligen Weltmächte – so wird es sich in manchen westlichen Hauptstädten anfühlen. Vergangene Weltmächte, die vor allem mit sich selbst beschäftigt sind und zunehmend mit ihren weltoffenen und demokratischen Systemen zu hadern beginnen. Auch die offene Konfrontation der USA wird daran wenig ändern. „Ich glaube, in Krisenzeiten wie derzeit wirkt das Modell des Staatskapitalismus stabilisierend“, sagt China-Professor Markus Taube.

Die zwei großen Kalküle des Westens in der Chinafrage sind bislang nicht aufgegangen. Es war falsch anzunehmen, die Chinesen würden mit wachsendem Wohlstand politische Freiheiten einfordern und westliche Werte verinnerlichen. Das zweite große Fehlkalkül betrifft die Wirtschaft: Der Westen hat das ökonomische und technologische Potenzial der Volksrepublik unterschätzt – ein Stück weit auch deshalb, weil er in selbstgerechter Manier annahm, politische Freiheit sei die notwendige Voraussetzung für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg.

Welch ein Irrtum! Jetzt schaut der Westen verblüfft auf ein China, das 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs offen die Systemfrage stellt. Die Macht dazu hat Peking allemal – politisch, ökonomisch und technologisch.


Davon träumt Berlin

Was in China inzwischen möglich ist, präsentierte Xi in diesen Tagen. Nach nur vier Jahren Bauzeit eröffnete am Mittwoch der spektakuläre Flughafen Daxing 50 Kilometer südlich von Peking. Und natürlich lässt der Präsident es sich nicht nehmen, den nach Gebäudefläche größten Flughafen der Welt persönlich einzuweihen.

Xi lächelt milde. Als er an das Rednerpult tritt, bricht großer Applaus aus, die Gäste erheben sich von ihren beigen Ledersesseln und weiß bespannten Stühlen. Xi sagt nur ein paar Worte an diesem heißen Sommertag: „Hiermit erkläre ich: Der Daxing Airport ist offiziell eröffnet.“ Wieder brandet Applaus auf, live übertragen über das Staatsfernsehen in die Wohnzimmer und auf die Smartphones der Chinesen.

Einen Hinweis darauf, dass der neue Berliner Flughafen nach 13 Jahren immer noch nicht in Betrieb ist, verschwiegen uns die Medien dieses Mal. Ebenso die Tatsache, dass in Deutschland niemand wirklich glaubt, dass der nächste anberaumte Termin im Herbst 2020 eingehalten wird.

In China geht das anders: Per Fingerzeig der KP-Strategen wurden innerhalb kürzester Zeit ganze Dörfer umgepflanzt – insgesamt 20 000 Menschen umgesiedelt. Keine Planfeststellungsverfahren, keine Klagen, keine technischen Pannen. „Weil der Staat mehr Macht hat, ist er schneller in der Umsetzung von Dingen“, sagt Banker Nakao.

Zu welcher Leistung der Staatskapitalismus chinesischer Prägung fähig ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Statistiken des Landes. Das nominale Bruttoinlandsprodukt ist seit Anfang der 80er-Jahre um den Faktor 194 gewachsen. Die USA und die Europäische Union sind im gleichen Zeitraum nur um den Faktor sieben beziehungsweise fünf gestiegen.

Kaufkraftbereinigt ist das staatskapitalistische China inzwischen sogar größer als die kapitalistischen USA. China ist mit jährlichen Ausfuhren im Wert von 2,5 Billionen Dollar der mit Abstand größte Exporteur der Welt. Der Börsenwert der fünf größten chinesischen Tech-Unternehmen liegt bei 831 Milliarden Dollar, während Europa nur auf 262 Milliarden kommt.

Der Glaube an den technischen Fortschritt ist unerschütterlich. Auch das zeigt sich am Flughafen Daxing. Gesichtserkennungssoftware, Sensoren zur Erkennung von radioaktivem Material und Infrarot-Temperaturmessanlagen sollen die Zeit für Sicherheitschecks von fünf Minuten auf drei bis vier Sekunden verkürzen. Kunden der Fluglinie Southern Airlines werden mithilfe der Technik des chinesischen Hightech-Riesen Huawei künftig allein mit ihrem Gesicht einchecken können.

Nach einer Erweiterung des Airports, den die Chinesen wegen seiner sternförmigen Architektur auch „Seestern“ nennen, werden dort einmal 100 Millionen Passagiere im Jahr transportiert werden. Und wäre all das nicht genug der Superlative, soll gleich auf der Peking abgewandten Seite des Flughafens auch noch aus dem Nichts heraus eine neue Mega-Hightech-Stadt angelegt werden.

Der Plan ist alles, das Individuum nichts. Und der Flughafen ist nur das jüngste Beispiel für den chinesischen Machbarkeitswahn, um den viele westliche Unternehmer das Land beneiden. Was für ein Wandel in kürzester Zeit.

Im 16. Stock war die Staatssicherheit

Matthias Claussen ist Partner des Handelsunternehmens Melchers. Er kann sich noch genau erinnern, als er nach Peking flog, um dort das Chinageschäft des Bremer Unternehmens auszubauen. 35 Jahre ist das her, die Volksrepublik China war 35 Jahre alt. Zu dieser Zeit ging pro Woche genau ein Flugzeug von Europa nach China.

In Peking angekommen, holte ihn der Chef der Niederlassung mit seinem Fahrer vom Flughafen ab. „Als Ausländer selbst zu fahren war damals lebensgefährlich“ erklärt Claussen – so chaotisch war der Verkehr. Eineinhalb Stunden ging es damals über schlecht beleuchtete Straßen, vorbei an Eselskarren.

Von seinem Büro im 14. Stock mit der Zimmernummer 1432 aus blickte Claussen direkt über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Alle ausländischen Unternehmen mussten damals ihre Geschäfte vom „Beijing Hotel“ aus tätigen, nur ein paar Hundert Meter vom Platz des Himmlischen Friedens und der Großen Halle des Volkes entfernt.

Im 16. Stock saß die Staatssicherheit. Claussen ist sich sicher, dass jedes ihrer Gespräche mitgehört wurde. In den 80er-Jahren waren so wenige Vertreter ausländischer Firmen in China, dass sie alle in das 18-stöckige Beijing Hotel passten. Westdeutsche, Ostdeutsche, Amerikaner, Italiener, Franzosen – alle hatten sowohl ihre Büro- als auch ihre Privaträume dort. „Man kannte sich.“

Heute fährt Claussen in einer halben Stunde vom Flughafen, vorbei an Nobelkarossen, von Eselswagen weit und breit keine Spur. Die Transformation der chinesischen Wirtschaft ist atemberaubend. Sie folgt einem langfristigen und vor allem generalstabsmäßig orchestrierten Staatsplan.

„Made in China 2025“ – so nennt Xi den Plan –, und er soll die Volksrepublik bis zum Jahr 2049 zum „Weltmarktführer in zehn wichtigen Industrien“ machen – vor allem im Bereich Technologie. Das Jahr ist nicht zufällig gewählt. Pünktlich zum 100. Jahrestag der Volksrepublik soll China die führende Industrienation der Welt sein.

Beispiel Nio. Der Autobauer aus Schanghai soll neue Maßstäbe beim autonomen Fahren setzen, und gemeinsam mit Baidu Daimler, BMW und Tesla abhängen. Beispiel Huawei, der in verschiedenen Ländern des Westens wegen Spionageverdachts boykottierte Technologiekonzern aus Shenzhen, fordert den US-Giganten Apple heraus – und ist technologischer Vorreiter im so wichtigen neuen Mobilfunkstandard 5G.

Beispiel Alibaba, IT-Konzern aus Hangzhou, reicht längst an die Größe des US-Riesen Amazon heran. Und natürlich Tencent, der Internet-Allrounder ebenfalls aus Shenzen und Facebook-Konkurrent, gilt als Pionier in der Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI).

Alle profitieren vom riesigen Binnenmarkt und dem schier grenzenlosen Zugang zu den Daten der Menschen. So etwas wie einen Datenschutz westlichen Standards gibt es in China nicht. 854 Millionen Menschen in China nutzen das Internet – das sind mehr als zehnmal so viele Menschen, wie in ganz Deutschland leben. Die meisten surfen über ihr Smartphone. Egal, ob sie auf dem Elektroroller unterwegs sind oder in der U-Bahn, überall wird via Smartphone gechattet, geshoppt und gespielt. Auch das Bezahlen wird längst mit dem mobilen Endgerät erledigt.

Hilfreich sind die üppige staatliche Förderung und vor allem die Abschottung gegen Konkurrenten aus dem Westen. Twitter, Facebook, WhatsApp, Google – all diese Dienste, die europäischen Unternehmen das Leben schwermachen, sind in China unerreichbar. Wer über das chinesische Internet versucht, auf die Seiten zu kommen, sieht nur Ladebalken – doch die Seite lädt nie.

Und es half den privaten Firmen wie Alibaba, Tencent und Baidu, dass der Staat ihnen jenseits der üblichen Zensur, viele wirtschaftliche Freiheiten einräumte und sie teils auch von der Konkurrenz durch Staatsunternehmen abschirmte.

Basis des technologischen Aufschwungs allerdings sind die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Forschung. Der erste geklonte Affe erblickte in China das Licht der Welt. Die erste Maschine mit Leseverständnis entwickelte Alibaba. Und mit einem riesigen Technologiepark für Künstliche Intelligenz in Peking unterstreicht China seinen Anspruch, künftig Schlüsselmacht in dieser Schlüsseltechnologie zu sein.


Künstliche Intelligenz über alles

Menschen suchte man in dem Warenlager des chinesischen E-Commerce-Giganten JD.com in der Nähe von Schanghai vergebens. Auf der 40 000 Quadratmeter großen Fläche, wo früher 400 bis 500 Menschen Pakete gescannt und sortiert hätten, sind nur Roboter unterwegs. Die Fließbänder gleichen den komplizierten Autobahnbrückenanordnungen einer verbauten amerikanischen Metropole. Doch die Kisten stehen nie im Stau, sondern sortieren sich lückenlos und im Fluss von einem Band zum nächsten ein.

Kameras erfassen die Kistengrößen und mögliche Mängel an der Verpackung. Alles hier ist mit einem intelligenten System vernetzt, das ausrechnet, welche Ware zu welchem Lieferwagen gehen sollte, um möglichst schnell zur richtigen Region zu gelangen. Sollte JD.com durch das Bestellverhalten eine wachsende Nachfrage in einem Bereich feststellen, weiß das Warenhaus diese Produkte selbst aufzustocken und weniger Beliebte im Inventar zu reduzieren.

Unternehmen wie JD.com, Alibaba oder Tencent stecken Milliarden in die Erforschung Künstlicher Intelligenz. 2017 veröffentlichte Peking seinen „Entwicklungsplan für die Künstliche Intelligenz der nächsten Generation“. 2030 will China Weltmarktführer bei Künstlicher Intelligenz sein.

Markus Taube, Professor für Ostasienwirtschaft an der Universität Duisburg-Essen, hält das für die richtige Strategie. „Das ist eine komplett neue Basistechnologie, die über Jahrzehnte ausgerollt wird“, sagte er: „Da kann der Staat eine ziemlich sichere Wette drauf eingehen.“

Den Unternehmen hilft, dass der Staat selbst in vielen Bereichen der beste Kunde der Firmen ist. Etwa im Bereich der Videoüberwachung. Einige der wertvollsten KI-Start-ups Chinas, Sense Time, Megvii und Yitu, arbeiten an der Perfektionierung von Gesichtserkennung. Die Technologie wird vor allem vom chinesischen Staat zur Überwachung seines Volks gebraucht. Die Regierung baut derzeit ein umfassendes Kreditsystem zur Bewertung des Verhaltens seiner Bürger auf.

„Big Brother“ ist ein Chinese – und er will alles wissen. Die großzügigen Förderprogramme sind höchst willkommen in der Wirtschaft. Allein bis zum Jahr 2020 lässt sich die chinesische Regierung das Projekt „KI-Weltmacht“ 128 Milliarden Euro kosten.

Überhaupt ist die Forschungsförderung zentrales Anliegen der KP-Strategen. Innerhalb von zehn Jahren hat der Staat seine Forschungsausgaben verachtfacht – auf zuletzt 445 Milliarden Dollar. Damit erreicht China fast das Niveau der USA mit Ausgaben von 484 Milliarden Dollar.

Und auch in der Ausbildung hat das Reich der Mitte riesige Fortschritte gemacht: Inzwischen kommen nach einer aktuellen Studie des McKinsey Global Instituts inzwischen 57 Prozent aller Hochschulabsolventen in den Fächern Naturwissenschaft, Technology, Ingenieurwesen und Mathematik weltweit aus China. Im Jahr 2016 waren es 4,7 Millionen.

Auch das ein neuer Rekord: 1,4, Millionen Patente meldeten Forscher in China im Jahr 2017 an. Das sind etwa 44 Prozent aller weltweit angemeldeten Patente, so die McKinsey-Studie.

All diese günstigen Bedingungen machen China zu einer Nation der Unternehmensgründer. Etwa 28 Prozent aller globalen Unicorns, also Start-ups mit einem geschätzten Marktwert ab einer Milliarde Dollar, kommen aus China, haben die McKinsey-Experten ermittelt. Auch das ist eine Entwicklung, die man von einer Planwirtschaft nicht unbedingt erwarten konnte. Allerdings wird der Erfolg oft auf den Rücken der Mitarbeiter ausgetragen – eine bittere Ironie in einem kommunistischen Land.

Nicht alles ist reibungsfrei. Hinter den Kulissen kommt es auch immer wieder zu Konflikten zwischen Regierung und Unternehmen. Seit über einem Jahr weigern sich die Tech-Riesen Alibaba und Tencent, Kreditdaten ihrer Kunden an das von der Zentralbank ins Leben gerufene Unternehmen Baihang, eine Art Schufa, weiterzugeben, berichtet die „Financial Times“. Nach einem Mordskandal verwehrte der Mitfahrdienst Didi den Behörden den direkten Zugriff auf seine Daten.

Stattdessen druckte der Konzern alle relevanten Daten aus und legte sie stapelweise in Aktenordner den Untersuchern vor. „Peking ist von dem Erfolg einiger privater Unternehmen wie Alibaba oder Tencent mit Sicherheit auch überwältigt“, sagte Nadine Godehardt, Vizeleiterin der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Die KP versucht gegenwärtig, ihre Kontrolle über diese Unternehmen wieder auszuweiten.“

Bau deine Träume

Eigentlich müsste der öffentliche Verkehr in Shenzhen laut sein und übel riechen. 12,5 Millionen Menschen leben und arbeiten in der südchinesischen Metropole, wo unter anderem die Tech-Giganten Huawei und Tencent ihren Hauptsitz haben. Jeden Tag müssen unzählige Menschen zur und von der Arbeit befördert werden. Doch selbst während der Hauptverkehrszeiten dominiert ein diskretes Surren die Geräuschkulisse. Denn die rund 17.000 Busse dort werden alle elektrisch betrieben.

Vier Jahre lang dauerte die vollständige Umstellung der rund 900 Linien von Diesel auf Elektro. Dazu gehörte auch der Bau von 300 Ladestationen rund um die Stadt, wo die Vehikel innerhalb von zwei Stunden ihre auf dem Dach und unter dem Boden angebrachten Lithium-Eisenphosphat-Batterien befüllen können.

Und der Hersteller von den Bussen und Taxen ist immer derselbe: die in Shenzhen ansässige Firma Build Your Dreams (BYD), der mit 247.811 verkauften E-Autos noch knapp vor Tesla die globale Absatzkrone für 2018 errang. Während deutsche Autobauer diesen Bereich jahrelang vernachlässigten, hat BYD auch dank staatlicher Förderung und heimischer Nachfrage Produktionswissen und Kapazitäten aufgebaut. Im Januar verkündete das Unternehmen stolz, seinen 50.000. Elektrobus ausgeliefert zu haben; im April stellte es den mit 27 Metern längsten E-Bus der Welt vor.

Die elektromobile Planwirtschaft Chinas hat für den Westen durchaus Vorbildcharakter. Das sieht selbst VW-China-Chef Stephan Wöllenstein so. „Wenn sich eine Gesellschaft und die in ihr agierenden Unternehmen mit übergeordneten Problemen wie Ressourcenabhängigkeit und Klimaschutz auseinandersetzen und einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel vollziehen müssen, dann braucht es einen politischen Rahmen“, sagte Wöllenstein dem Handelsblatt.

Seit diesem Jahr ist das sogenannte E-Auto-Kreditsystem in Kraft getreten, das zusammen mit den Kraftstoffverbrauchsnormen Chinas CO2-Ausstoß reduzieren soll. Autohersteller sind verpflichtet, durch den Verkauf von E-Autos eine bestimmte Kreditzahl zu erreichen. Wird diese nicht erreicht, können die fehlenden Punkte auf einer Börse nachgekauft werden; bleibt das Defizit bestehen, kann sich die chinesische Regierung vorbehalten, Lizenzen für neue Modelle auszustellen. China hat im globalen Kampf gegen den Klimawandel bisher seine Versprechen zum Pariser Abkommen gehalten.

Bereits 2015 löste China die USA als größten Absatzmarkt für Elektroautos ab; 2018 stellten die dort verkauften 1,1 Millionen Fahrzeuge 55 Prozent des weltweiten Absatzes. In Europa waren es gerade mal 345.000. Bereits jetzt befinden sich rund 3,5 Millionen Elektromobile auf Chinas Straßen, und nach Berechnungen des chinesischen Verbands der Automobilhersteller (CAAM) werden es bis Ende 2020 fünf Millionen Vehikel sein.

Vor zehn Jahren startete die „Zehn Städte, 10.000 Vehikel“-Initiative. Ziel war es, den Straßenverkehr in ausgewählten Großstädten mit unterschiedlichen Anreizsystemen und Subventionen für Hersteller wie auch Verbraucher zu elektrifizieren. So erhielt zum Beispiel Autobauer BYD 435 Millionen Dollar an staatlicher Zuwendung allein zwischen 2010 bis 2015.

Anfangs war das Projekt ein Misserfolg. Die Zielvorgaben wurden verfehlt; und es kamen meist nur minderwertige E-Autos auf den Markt. Der Grund: Vor allem heimische Hersteller konnten in diesem System mit oft anspruchslosen E-Autos leicht Gewinne einfahren. Der Anreiz, wirklich attraktive Autos zu entwickeln, fehlte.

Doch die chinesische Regierung lernte: Städte wie Peking, Shenzhen und Schanghai verfeinerten das Anreizsystem – etwa durch die bevorzugte Vergabe von Kennzeichen für E-Autos. Nummernschilder sind ein begehrtes Gut. In Schanghai kann der Auktionspreis für die Fahrlizenz bei bis zu 18.000 Euro liegen. Zudem investiert die chinesische Regierung massiv in die Ladeinfrastruktur. Während in Deutschland derzeit rund 16 000 Ladestationen zu finden sind, haben chinesische Unternehmen mit staatlicher Unterstützung bereits 1,1 Millionen gebaut. 2020 soll die Zahl bei 4,3 Millionen Stromzapfsäulen liegen.

Chinas Rahmenbedingungen sind auch für Unternehmen attraktiv. So errechnete die Dachorganisation für nachhaltigen Verkehr Transport & Environment, dass ausländische Autohersteller im vergangenen Jahr Investitionen in Höhe von 21,7 Milliarden Euro für den chinesischen NEV-Sektor angekündigt hatten, während im gleichen Zeitraum die Europäische Union nur 3,2 Milliarden einstreichen konnte.


Probleme in Hongkong

Das wirkliche Geheimnis des chinesischen Wirtschaftserfolgs, so findet Sebastian Heilmann, Professor für chinesische Politik an der Universität Trier, ist die Experimentierfreude des Staates. Die zentrale Planung habe langfristige Ziele gesetzt und dann für die Findung der besten Instrumente zu ihrer Erreichung viele Pilotprojekte zugelassen.

Als Beispiel für diese Vorgehensweise führt er unter anderem die Sonderwirtschaftszonen an wie Shenzhen; oder die Zulassung und Entwicklung von Privatunternehmen und den Aufbau diverser Börsen. So wurden Letztere bereits in den 90er-Jahren in Schanghai und Shenzhen getestet und später als reguläre Institutionen anerkannt.

Die Experimentierfreude des Staates findet allerdings dort seine Grenze, wo das Freiheitsstreben der Bürger beginnt. Kritik am System wird nicht geduldet, schon gar nicht Kritik an Xi. Das erprobte Mittel im Kampf gegen das Freiheitsstreben: Repression und Propaganda.

Das macht sich besonders in diesen Tagen im Vorfeld des großen Jubiläums bemerkbar. Überall im Land sind meterhohe Aufsteller der Zahl „70“ errichtet – vor Shoppingmalls, an Straßen, auf Verkehrsinseln. In den U-Bahnen singen auf Videos Menschengruppen in allen Teilen des Landes gemeinsam ein Lied. „Meine Heimat ist China, und ich kann nicht ohne sie sein“, singen sie beseelt und glücklich lächelnd, „das Land und ich sind wie das Meer und die Wellen, ich teile meine Sorgen und mein Glück mit dem Meer.“

Drei Flugstunden entfernt in Hongkong empfindet man solche Szenen als bedrohlich. Für die chinesische Sonderverwaltungszone kann Peking nicht weit genug entfernt sein. „Resist Beijing, liberate Hongkong“ – „widersteht Peking, befreit Hongkong“ steht auf einem der Schilder, die die Demonstranten an einem der vielen Protestwochenenden im schwül-heißen Sommer in der Metropole hochhalten.

Abseits von den gewalttätigen Szenen gehen auch immer wieder Hunderttausende Menschen friedlich auf die Straße. Was als Protest gegen ein Gesetzesvorhaben der Hongkonger Regierung anfing, mit dem Verdächtige an Festlandchina hätten ausgeliefert werden können, hat sich längst zu viel mehr entwickelt. Es ist ein Aufbäumen gegen das System Pekings. Das ist einer der Gründe, warum die Proteste für das Regime so gefährlich sind, ein Überspringen der Kritik auf das Festland wäre aus Sicht der Kommunistischen Partei fatal.

„Hongkong ist das neue Berlin“, sagt der 22-jährige Joshua Wong. Der Demokratieaktivist hat das Gesicht eines 17-Jährigen mit dem ernsthaften Blick eines 40-Jährigen. Sein Vergleich braucht gerade in der deutschen Hauptstadt keine weitere Erklärung. So wie Berlin während des Kalten Krieges das Symbol für Demokratie und Freiheit inmitten der Einflusssphäre der damaligen Sowjetunion war, so ist Hongkong für Wong und seine Mitstreiter heute die Trutzburg gegen die kommunistische Diktatur Chinas.

Wongs Worte haben den gewünschten Effekt: Für einen kurzen Moment stehen die Demonstranten in Hongkong nicht mehr allein dem riesigen Machtapparat in Peking gegenüber. Hongkong ist das Fanal eines neuen kalten Krieges zwischen Freiheit und Diktatur.

Doch die Realität ist anders. Das weiß Joe Kaeser nur zu gut. Er ist 40 Jahre älter als Wong. Der Siemens-Chef neigt nicht zu melodramatischen Auftritten, sondern gilt als Pragmatiker – auch in schwierigen politischen Fragen. So berichtete er im kühlen Glas- und Betonambiente des Hauses der Deutschen Wirtschaft nüchtern von seiner Chinareise: „Besser wir reden miteinander als übereinander“, sagt Kaeser, „wir dürfen jetzt nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.“ Solche Formulierungen haben ihm in den sozialen Medien den zweifelhaften Titel „China-Freund“ eingebracht. Kaeser ärgert sich darüber, auch weil er sieht, dass im Reich der Mitte Geschäft und Moral immer weniger miteinander vereinbar sind.

Es sind ja nicht nur die Proteste der Bevölkerung in der Finanzmetropole Hongkong, es ist auch die wachsende politische Repression überall im Land, insbesondere gegenüber der ethnischen, meist muslimisch gläubigen Minderheit der Uiguren. Nach einem Bericht von Human Rights Watch werden rund eine Million Uiguren in der westlichen Provinz Xinjiang in Umerziehungslagern festgehalten.

All das macht es Managern wie Kaeser schwerer, ihren Geschäften nachzugehen. „Wir haben in Xinjiang keine Kooperation, sondern sind nur Lieferant“, wehrt sich der Siemens-Chef gegen den Vorwurf, sich zum Komplizen einer Diktatur zu machen. Der politische Grat, auf dem Pragmatiker wie Kaeser bislang in China bislang wandelten, wird immer schmaler.

Richtig wohl in seiner Haut fühlt sich der Vorsitzende des Asien-Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft (APA) beim Thema China nicht. Mulmig ist ihm vor allem auch deshalb zumute, weil China nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich zu einer Bedrohung geworden ist. Genau deshalb hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) im Januar eine strategische Wende vollzogen und China als „systemischen Wettbewerber“ bezeichnet.

„Zwischen unserem Modell einer liberalen, offenen und sozialen Marktwirtschaft und Chinas staatlich geprägter Wirtschaft entsteht ein Systemwettbewerb“, heißt es in dem Grundsatzpapier. Und genau deshalb hat auch die EU wenige Monate später China fast gleichlautend als „systemischen Rivalen“ gebrandmarkt, der „alternative Modelle der Regierungsführung“ fördere.

Er stehe zu den Einschätzungen des BDI, sagt Kaeser fast trotzig und fordert zugleich: „Die erste Aufgabe der neuen EU-Kommission muss es sein, eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik auf die Beine zu stellen.“ So will Kaeser verhindern, dass Europa im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China nicht zwischen die Fronten gerät.

Trump hilft Xi bei seinen Kritikern

Nicht immer standen China und Amerika sich feindlich gegenüber. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Mit diesem machtpolitischen Kalkül begannen die USA 1972 ihre diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik China. Wie sehr die Amerikaner damit Freund und Feind auf dem falschen Fuß erwischten, zeigt sich auch daran, dass der damalige deutsche Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger noch 1969 auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle mit den beschwörenden Worten: „Ich sage nur China, China, China“, als er vor einer neuen kommunistischen Gefahr aus Fernost warnte.

Staatschef Deng Xiaoping lockerte mit seinen Reformen die Fesseln der Ein-Parteien-Diktatur und erzeugte in dem Riesenreich damit diese atemberaubende wirtschaftliche Dynamik, von der das Land noch heute profitiert. Mit einem „Sozialismus chinesischer Prägung“ schaffte es der legendäre Deng, die ökonomischen Produktivkräfte zu befreien, ohne am politischen Führungsanspruch der Kommunistischen Partei zu rütteln.

Erst viel später, mit dem Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation WTO 2001 erfolgte auch die Integration Chinas in die moderne Weltwirtschaft mit ihren Lieferketten rund um den Globus. Die chinesische Wirtschaft wuchs seitdem mit einer historisch einmaligen Wachstumsrate von durchschnittlich fast zehn Prozent pro Jahr. Dank seiner billigen Arbeitskräfte und massiver staatlicher Anschubhilfen konnte China den Weltmarkt mit Billigexporten überfluten. Betrug der Exportanteil an der Wirtschaftsleistung 1978 noch 4,5 Prozent, waren es 2006 mehr als 36 Prozent.

Das traf andere Länder – insbesondere die USA. „Für die USA haben wir festgestellt, dass viele Regionen, die besonders hart von der chinesischen Konkurrenz betroffen waren, politisch nach rechts gedriftet sind“, sagt David Autor, Ökonom an der Eliteuniversität Massachusetts Institute for Technology (MIT). „Die Wahl von Donald Trump war ein Ergebnis dieser Entwicklung.“

Und tatsächlich lässt Trump keine Gelegenheit aus, die aufstrebende Weltmacht, wo es nur geht, zu kritisieren. Aus dem Handelskrieg, den Trump vor allem wegen der billigen Industrieimporte aus China führt, ist inzwischen ein veritabler Wirtschaftskrieg geworden. Technologien spielen darin die Hauptrolle. In seiner National Security Strategy wird China als „strategischer Rivale“ und Pekings Hightech-Offensive als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft.

Der Konflikt zwischen den USA und China – so viel steht fest – wird die geopolitische Agenda der kommenden Jahrzehnte prägen: Aus Sicht William Kirbys, Professor für chinesische Geschichte an der Harvard University, tragen beide Seiten die Verantwortung für den Streit, der teilweise auch auf Missverständnissen beruhe: „Die Wende unter Xi zu mehr Partei- und Staatskontrolle hat dem Verhältnis der beiden Länder ebenso geschadet wie die Wende unter Trump zum Rechtspopulismus und Unsicherheitsfaktor in internationalen Fragen.“

Die immer weitreichendere Kontrolle der Partei und des Staates beunruhigt nicht nur ausländische Firmen, sondern auch chinesische Privatunternehmen. „Sie sind der wahre Motor des chinesischen Wirtschaftswunders“, sagt Kirby. Aus seinen privaten Gesprächen mit Unternehmern habe er immer wieder Unbehagen über den innen- und außenpolitischen Kurs des Landes vernommen. „Ironischerweise hat aber die externe Krise, also der eskalierende Konflikt mit Trump, Xi geholfen, die Reihen unter seinen Kritikern vorerst zu schließen.“

Und so stehen sich die beiden Konfliktparteien geschlossen gegenüber. Heute, 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges mit der Sowjetunion steht die Welt am Beginn eines neuen kalten Krieges, diesmal mit China. An vier Fronten ringen alte und neue Supermacht inzwischen um die globale Vorherrschaft: Beide Seiten überziehen sich mit Strafzöllen im Außenhandel, nutzen ihre Währungen als politische Waffen, liefern sich einen Wettlauf um Zukunftstechnologien und versuchen ihre geopolitische Macht durch Aufrüstung auszudehnen.

„Im ersten Kalten Krieg konnten wir immer zeigen, dass die Demokratie auch das wirtschaftlich überlegene Modell ist. Das gilt heute so nicht mehr“, sagt Werner Hoyer, Freidemokrat und Chef der Europäischen Investitionsbank (EIB), „wir müssen begreifen, dass autokratische Systeme wie China heute zu technologischen Leistungen fähig sind, die unseren überlegen sind.“

Diese Erkenntnis hat auch in Deutschland zu fast panikartigen Reaktionen geführt. Die Bundesregierung hat Ende 2018 das Außenwirtschaftsgesetz verschärft und prüft jetzt chinesische Direktinvestitionen kritischer. Der Schwellenwert für Investitionen aus Nicht-EU-Staaten in bestimmte kritische Infrastrukturen, Rüstungsunternehmen und IT-Sicherheitsunternehmen wurde von 25 Prozent auf zehn Prozent herabgesetzt.

Außerdem will Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit einer neuen industriepolitischen Offensive dagegenhalten. So sollen in strategischen Zukunftstechnologien wie der der Künstlichen Intelligenz Unternehmen mit staatlicher Hilfe zu europäischen oder nationalen Champions aufgepäppelt werden.

Der Systemwettbewerb mit dem Staatskapitalismus chinesischer Prägung treibt also den markwirtschaftlichen Westen dazu, auch auf mehr Staat und weniger Markt zu setzen. Protektionismus, Merkantilismus und wirtschaftlicher Nationalismus sind jedoch eher Zeichen der Schwäche als der Stärke.


China hatte bislang viel Glück

Ob der Westen auch den zweiten kalten Krieg gewinnt, ist keineswegs ausgemacht. „Er ist heute wirtschaftlich schwächer, und sein sozialer Zusammenhalt ist geringer als in den 1980ern. Und auf einen chinesischen Gorbatschow sollte man nicht wetten“, warnt Historiker Ferguson. „Washington kann Peking nicht ohne Weiteres seinen Willen aufzwingen. Dafür ist China zu groß“, sagt auch David Frum, der unter US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus arbeitete.

Entscheidender für den Ausgang des neuen kalten Krieges dürfte sein, ob das Modell China wie die damalige Sowjetunion langfristig an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Trotz aller Erfolge – die ökonomischen Risiken sind beträchtlich. Da ist das massive Demografieproblem. Bis zum Jahr 2040 werde die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter um 132 Millionen sinken, erwartet McKinsey.

Das wird ohne Zweifel negativen Einfluss auf die Wachstumsdynamik haben. Schon jetzt sinken die Wachstumsraten. Das BIP wuchs im zweiten Quartal „nur“ noch um 6,2 – das mag im Vergleich zu westlichen Werten immer noch ein gigantisches Wachstum sein, Aber es ist auch der niedrigste Stand seit 30 Jahren.

Und China-Professor Markus Taube weist darauf hin, dass der „Staatskapitalismus in erster Linie in einer Periode nachholenden Wachstums“, funktioniere. Doch jetzt langsam erreiche China die Schwelle, an der der Vorteil des Staatskapitalismus für große Teile der chinesischen Wirtschaft nicht mehr gelte, sagt Taube, der auch an Universitäten in Wuhan und Changchun in China als Gastprofessor lehrt.

Aber: Jenseits der Metropolen ist das Land auch nach 40 Jahren ökonomischer Erfolgsgeschichte immer noch verarmt. Vergleicht man den nach wie vor relativen niedrigen BIP-Pro-Kopf-Wert in China von derzeit 18.110 Dollar (in Kaufkraftparitäten) mit dem der USA (62.606 Dollar) oder Europas (43.148 Dollar), zeigt sich, dass es immer noch hohen Nachholbedarf gibt – trotz Chinas Glitzerfassaden und Hochgeschwindigkeitszügen, trotz seiner globalen Großunternehmen und trotz seiner Großmachtambitionen.

China-Experte Heilmann beschreibt das Erfolgsgeheimnis der Volksrepublik so: „China hat viel gelernt vom Untergang der sozialistischen Systeme, aber auch den Erfolgen von Japan, Südkorea und Taiwan. Sie haben all diese Erfahrungen aufgezogen und selektiv angewandt.“ Wie kein anderes Land habe China seine eigene Größe zu seinem Vorteil genutzt und Marktzugang gegen Wissenstransfer eingetauscht. Doch: „Das Problem beim Staatskapitalismus ist, dass er der politischen Logik Vorrang über der Wettbewerbs- und Effizienzlogik gibt und es dann zu Verzerrungen im Markt kommt“. Soll heißen: Der große Steuermann zeigt den Weg – und alle folgen. Irrt der große Steuermann, hat das System ein Problem.

Die entscheidende Frage wird sein, ob sich Innovationsfreude, Unternehmergeist und Kreativität dauerhaft mit politischer Repression vereinbaren lassen. China habe die größte Mittelklasse in der Menschheitsgeschichte geschaffen – und das vertrage sich nicht mit einer Diktatur, glaubt der britische Historiker Niall Ferguson: „Es ist einfach nicht plausibel, dass ein Ein-Parteien-Staat, der sich auf kommunistische Institutionen aus dem 20. Jahrhundert stützt, in der vernetzten Welt von heute dauerhaft überleben kann.“

„China kann nicht ewig ein autoritäres Regime bleiben“, glaubt auch Chris Patten. Der 75-jährige Brite blickt nachdenklich auf sein Berliner Publikum im großen Auditorium der European School of Management and Technology (ESMT). Leise spricht der letzte Gouverneur von Hongkong, fast scheint es, er sei im Zwiegespräch mit sich selbst. Der Ort seiner Rede ist auch Teil seiner Botschaft: Es war das ehemalige Staatsratsgebäude des autoritären, am Ende aber doch untergegangenen DDR-Regimes.

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