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Warum sich die Gräben zwischen den Amerikanern trotz Impfstarts weiter vertiefen

Die Corona-Impfungen starten vielversprechend. Doch Millionen Menschen stehen vor dem sozialen Absturz. Das Land wird durch die Pandemie noch tiefer gespalten.

„Einmal tief einatmen“, sagt die Krankenschwester im George-Washington-Uniklinikum in der US-Hauptstadt. Ihre Kollegin wartet mit hochgerolltem Kittel-Ärmel auf eine der ersten Corona-Impfungen. „Eins, zwei, drei, jetzt kommt ein kleiner Pikser“, sagt die Schwester und sticht zu. „Und schon vorbei.“ Wehgetan habe es nicht, meint die frisch Geimpfte und lächelt unter ihrer Maske.

In dieser Woche haben die USA mit ihrem Corona-Impfprogramm begonnen, und der Auftakt scheint vielversprechend. Binnen Stunden wurden die ersten drei Millionen Dosen aus dem Pfizer-Werk in Michigan verschifft und an mehr als 600 Standorte verteilt. Zunächst wird das Vakzin, das in Kooperation mit dem deutschen Unternehmen Biontech entwickelt wurde, in Krankenhäusern und Altenheimen gespritzt.

Am Dienstag machte ein wichtiges Gremium der Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) zusätzlich den Weg für den Impfstoff von Moderna frei. Dieser könnte schon Ende der Woche ausgeliefert werden und dann parallel zum Biontech-Vakzin gespritzt werden.

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In den ersten drei Tagen wurden bereits Zigtausende Pfleger und Ärzte geimpft. Der gelungene Start schürt Hoffnungen, dass die Pandemie bald gestoppt werden könnte.

Für die USA hängt daran auch, ob sie ihren Ruf als Versager in der Krise reparieren können. Im globalen Vergleich verzeichnet das Land die meisten Infizierten und Todesopfer, jeden Tag sterben rund 3000 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 – so viele wie bei der Terrorserie vom 11. September 2001.

„Wir sind zwei Nationen“

Zudem blamiert sich der US-Kongress, indem er ein dringend nötiges neues Hilfspaket über Monate aufgeschoben hat. 30 bis 40 Millionen Menschen droht zum Jahresende das finanzielle Aus oder eine Zwangsräumung, rechnete das Aspen Institute vor. „Menschen leiden. Zehn Millionen sind ohne Arbeit. Manche haben kein warmes Essen auf dem Tisch. Und was passiert? Nichts“, prangerte der künftige US-Präsident Joe Biden bei einer Kundgebung an.

Für den Gesundheitsexperten Stephen Morrison von der Washingtoner Denkfabrik CSIS war die politische Spaltung des Landes nie so offensichtlich wie jetzt. „Wir sind zwei Nationen. Die Impfung verbreitet Optimismus, gleichzeitig hat die Pandemie einen weiteren Höhepunkt erreicht.“ Allein in der ersten Dezemberhälfte verdoppelte sich die Zahl der US-Bürger, die mit Covid-19 in der Klinik liegen. Parallel erklärt das Weiße Haus die Pandemie bereits für überwunden.

Die Spaltung ist nicht nur politisch, die Kluft zwischen Arm und Reich existiert nach wie vor: Covid-19 trifft längst nicht alle Amerikaner und alle Teile der USA gleich. Im Gegenteil: Die Pandemie lässt die Gräben weiter wachsen.

Dem US-Landwirtschaftsministerium zufolge leiden in den USA insgesamt rund 50 Millionen Menschen an Hunger, 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Parallel steigt die Zahl der Millionäre und Milliardäre mit jedem Rekord an den Börsen weiter.


Stehen Ressourcen und Infrastruktur zur Verfügung, zeigt das Land dank des amerikanischen Pragmatismus eine bemerkenswerte Flexibilität. Auf der anderen Seite stehen Arbeitslose, Landbewohner, Alleinerziehende oder Freiberufler – und die Ärmsten der Armen.

Der ehemalige Hotspot New York hat sich schnell angepasst

So zeigt der einstige Hotspot New York, wie das Leben auch in Covid-Zeiten weitergehen kann. Zwar sind in Stadtteilen wie Staten Island und einigen ultraorthodoxen Enklaven in Brooklyn die Fallzahlen wieder gestiegen. Frühere Touristen-Magnete wie der Times Square oder die Bankenviertel rund um die Wall Street und in Midtown sind immer noch gespenstisch leer. Mehr als 300.000 New Yorker haben die Stadt verlassen.

Aber die Bilder von Leichen in Kühllastern gehören einer anderen Zeit an. In vielen Bezirken geht das Leben erstaunlich normal weiter – wenn auch verändert und mit Maske. „Wir sind schon einmal durch die Hölle gegangen und wollen nicht mehr dahin zurück“, fasste der Gouverneur des Bundesstaats, Andrew Cuomo, die Lage zusammen.

Eigentlich leidet die Gastronomie mit am stärksten unter dem Wirtschaftseinbruch. Doch in den angesagten Vierteln in Brooklyn oder auch im Greenwich Village gehören Balustraden mit voll besetzten Tischen vor den Restaurants oder Plastik-Iglus für Gruppen auch im Winter zum Straßenbild.

„Unsere Filialen in den Touristen-Gegenden oder in den Geschäftsvierteln sind leer. Aber in Wohngegenden, wo die Menschen nicht geflohen sind, lief zumindest der Sommer und Herbst fast genauso gut wie sonst“, berichtet die Mitbesitzerin einer angesagten Restaurant-Gruppe. Andere Gastronomen halten sich mit Take-out-Angeboten über Wasser.

Ansturm auf San Franciscos Food Banks

In San Francisco dagegen zeigt sich mitten im reichen Silicon Valley, dass immer mehr Menschen in die Armut rutschen, seit die großzügigen Schecks der Regierung ausgelaufen sind. „Kaum zehn Prozent unserer Bedürftigen sind obdachlos“, sagt Keely Hopkins von der Food Bank in San Francisco, die ähnlich wie die Tafel in Deutschland Bedürftige versorgt. „Der Rest sind ganz normale Bürger, die in eine Notlage gekommen sind.“

Die Zahlen in der Suppenküche sind alarmierend. Vor der Pandemie haben im Schnitt 32.000 Haushalte in San Francisco und im benachbarten Marin County pro Woche Lebensmittel erhalten. Bei der letzten Zählung im September waren es 55.000. Nur 260 mobil eingeschränkte Alte oder Behinderte bekamen 2019 wöchentlich einen Beutel mit Lebensmitteln an die Türschwelle gelegt. Heute sind es über 12.000.

Während die Besitzer von Aktien mit jedem Börsengang eines Tech-Konzerns reicher werden, bricht der öffentliche Nahverkehr zusammen. Die Buslinien sind wegen Geldmangels stark ausgedünnt, die Untergrundbahn BART fährt reduziert, das Fahrgastaufkommen ist um 90 Prozent gesunken.

Viele der – meist weißen – Büroangestellten arbeiten von zu Hause, und manche Banken und Investmentfirmen im Silicon Valley spendieren Angestellten Taxifahrten. Das ist für Verkäuferinnen, Bauarbeiter, Kellner oder Krankenschwestern mit einem Stundenlohn von 13 bis 15 Dollar keine Option. Sie können sich eine Wohnung in der Stadt schon lange nicht mehr leisten, pendeln stundenlang und sind auf Bus und Bahn angewiesen.

In vielen Mietshäusern wird man von einem Aushang im Flur begrüßt. Aufgelistet sind die neuen Regeln für Zwangsräumungen in Kalifornien, die jeder Hausbesitzer bekanntmachen muss. Kommen keine weiteren Hilfsgelder aus Washington, sind die nächsten Räumungen eine Frage der Zeit. Keely Hopkins von der Suppenküche ist darüber sehr besorgt. „Wir stehen jetzt schon am Abgrund.“

Schnelle Corona-Tests ermöglichen öffentliches und wirtschaftliches Leben

Auch in New York nimmt die Armut zu. Aber viele öffentliche Dienste funktionieren auch in Corona-Zeiten überraschend gut – wie etwa die Schulen. Mit fast einer Million Schülern ist New York der größte Schulbezirk der USA und die einzige amerikanische Großstadt, die ihre Schulen wieder geöffnet hat. Dabei konnten die Eltern im September wählen, ob sie ihre Kinder komplett digital unterrichten lassen oder an 2,5 Tagen die Woche bei halber Klassenstärke in die Schule schicken.

Masken, offene Fenster und neue Luftfilter sind obligatorisch – oft von Eltern mitfinanziert. Ein Fünftel der Schüler und Lehrer wird jede Woche getestet und bekommt das Ergebnis am nächsten Morgen. Weniger als 0,4 Prozent der Tests kommen bisher positiv zurück, und sollte jemand betroffen sein, wird die gesamte Klasse in Quarantäne geschickt.

Tägliches Testen ist auch für die Mitarbeiter der vielen Fernseh- und Netflix-Produktionen in der Stadt vorgeschrieben. Das gilt von den Schauspielern über die Kameraleute bis zu den Maskenbildnern.

Selbst für die breite Bevölkerung ist das Testen einfach. Jeder darf vor den zahlreichen Testcentern auftauchen, ohne Symptome oder besondere Gründe. Auch die US-Hauptstadt Washington hat Dutzende Test-Zentren in Feuerwehren eingerichtet. In den Kitas gibt es Meldeketten per SMS, die Gesundheitsämter, Eltern und Erzieher vernetzen.

In San Francisco rauben Diebe Lebensmittel und Zahnpasta

Deutlich dramatischer ist die Lage in San Francisco. Nicht nur die Zahl der Wohnungseinbrüche ist bis zu 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, Ladendiebstähle nehmen ebenfalls zu: Die Walgreens-Drogeriefiliale in der Innenstadt etwa hat ihre Fenster wegen nächtlicher Plünderungen mit Spanplatten verrammelt. An den Türen stehen Wachleute, die Kunden einzeln hinein- und herauslassen.

Dabei werden nicht etwa teure Weine, Champagner oder Elektroartikel gestohlen. Sehr beliebt, und darum in den Regalen hinter Plastiktüren weggeschlossen, sind Zahnpasta, Artikel für Frauenhygiene, Rasierklingen, Waschmittel, Seife, Unterwäsche, Socken.

Besonders organisierte Massen-Diebstähle nehmen zu. Kleine Gruppen verabreden sich über Social Media und betreten gemeinsam den Laden. Sofort werden die Regale leergeräumt, während die Verkäufer die Kassen in Sicherheit bringen. Meist landen Schokoriegel, Kindernahrung, Nudeln, Weißbrot oder Kopfschmerztabletten in den mitgebrachten Taschen. Nach zehn bis 15 Minuten – dann trifft meist die Polizei ein – drängt der Pulk zum Ausgang.

Das Personal in den Geschäften hat strikte Anweisung, sich Dieben nicht in den Weg zu stellen. Kein Mitarbeiter soll wegen einer Tube Zahnpasta sein Leben riskieren, denn Waffengewalt ist in den USA nie auszuschließen.

Pragmatisches New York

Dagegen scheint New York fast idyllisch. Banken und Konzerne haben die meisten Beschäftigten ins Homeoffice geschickt. Dort können sie manchmal in unmittelbarer Nachbarschaft Broadway-Stars oder bekannten Jazzmusikern lauschen. Die singen jetzt im Zuge der „Operation Gig“ mal vom Balkon eines viktorianischen Hauses in Brooklyn, im Prospect Park oder auf einem Parkplatz in Queens. Wer kommt, kann freiwillig ein Ticket erwerben und so die Künstler unterstützen.

Sogar das Verkehrsamt reagiert pragmatisch. Statt persönlich vorbeizuschauen, können die meisten Autofahrer ihre Anträge online stellen – ohne Originale vorlegen zu müssen.


Was in den USA eine wirksame landesweite Strategie gegen die Pandemie und ihre Folgen erschwert, ist der Flickenteppich der Gesetzgebung, denn jeder Bundesstaat entscheidet für sich. Im demokratisch regierten Pennsylvania sind Innenräume von Restaurants geschlossen, im republikanisch regierten Georgia sind die Gaststätten voll.

Auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind gravierend. Sobald man die Metropolen verlässt, wird man mitunter schief angeschaut, wenn man Maske trägt. Dabei müssten ländliche Regionen gerade jetzt gegensteuern, auch weil dort Mediziner und Notaufnahmen rar sind. Im abgeschiedenen Wyoming ist jeder dritte Getestete positiv, in South Dakota sind es mehr als 40 Prozent. „Das ländliche Amerika wird vergessen“, klagte der Klinikarzt Eyal Kedar im Sender NPR.

Die Ungleichheit dürfte sich mit der Verteilung des Impfstoffs fortsetzen. Denn die Dosen müssen stark gekühlt werden – und in manchen Dörfern hapert es schon an einer stabilen Stromversorgung.