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Ohne Finanzreform in der Pflege droht nach der Bundestagswahl ein Beitragsschock

Die Probleme der Pflegeversicherung sind im Corona-Jahr noch akuter geworden. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn muss 2021 liefern.

Gesundheitsminister Spahn will die Länder stärker in die Verantwortung nehmen. Foto: dpa
Gesundheitsminister Spahn will die Länder stärker in die Verantwortung nehmen. Foto: dpa

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte sich ein großes Projekt für 2020 vorgenommen: Der CDU-Politiker wollte die Pflegeversicherung reformieren, schließlich wachsen die finanziellen Belastungen für Beitragszahler ebenso wie für Bewohner von Pflegeheimen seit Jahren.

Doch Corona veränderte die Prioritäten, Spahn war in der Pandemie als Krisenmanager gefordert. Nun schlägt der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Alarm: Noch vor der Bundestagswahl seien Reformen und ein Steuerzuschuss von bis zu neun Milliarden Euro nötig, sagte der für die Pflegekassen zuständige GKV-Vorstand Gernot Kiefer dem Handelsblatt. Sonst müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung spätestens 2022 steigen. Die von der Regierung eingezogene 40-Prozent-Grenze bei den Sozialabgaben wäre gerissen.

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Spahn hat im Herbst zumindest Eckpunkte für eine Pflegereform vorgelegt, es ist jetzt ein Projekt für 2021. Die Frage ist, ob dem Minister die Umsetzung zwischen Pandemie und Wahlkampf noch gelingt. Denn der Koalitionspartner SPD hat eigene Ideen, und in der Union stößt Spahns Konzept beim Wirtschaftsflügel auf Skepsis.

Erst vor zwei Jahren hatte der Gesundheitsminister den Pflegebeitrag um einen halben Punkt angehoben: Er liegt seitdem bei 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens, Kinderlose zahlen 3,3 Prozent. Das finanzielle Polster, das der zweitgrößte Beitragssprung seit Einführung der Pflegeversicherung bringen sollte, ist schon vor Ende der Legislatur praktisch aufgebraucht.

Noch steht das Finanzergebnis der Pflegeversicherung für 2020 aus, nach Informationen des Handelsblatts wird mit einem Plus von 300 Millionen Euro gerechnet. Das klingt üppig, ist bei Einnahmen und Ausgaben von jeweils gut 50 Milliarden Euro aber eine überschaubare Summe.

Die Rücklagen nähern sich dem gesetzlich vorgeschriebenen Minimum an, und die Prognose für 2021 ist düster: Die Pflegekassen erwarten ein Defizit von 2,5 Milliarden Euro.

Der Finanzbedarf und damit das Defizit könnten in diesem Jahr sogar noch deutlich höher liegen. Derzeit wird ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag in der Altenpflege ausgelotet, der bis zu fünf Milliarden Euro jährlich an Mehrkosten bedeuten würde.

Schon vor Corona hatte die schwarz-rote Regierungskoalition wegen des Personalmangels in der Pflege das Ziel ausgegeben, die Löhne zu erhöhen. Nach dem Einsatz der Pflegekräfte in der Pandemie wird ihnen erst recht niemand eine bessere Bezahlung verwehren wollen. Spahn strebt bei seiner Reform an, dass ambulante Pflegedienste und Pflegeheime nur noch dann zur Versorgung zugelassen werden, wenn sie nach Tarif bezahlen.

Außerdem ist der politische Druck groß, Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen bei den stark steigenden Eigenanteilen zu entlasten. Die Pflegeversicherung wurde Mitte der 1990er-Jahre mit dem Ziel eingeführt, Menschen im Alter vor dem Gang zum Sozialamt zu bewahren. Doch mehr als ein Drittel der Heimbewohner sind inzwischen auf Sozialhilfe angewiesen, weil die Pflegeleistungen und ihre Rente nicht reichen.

Vergangenes Jahr mussten Heimbewohner nach Berechnungen des Verbands der Ersatzkassen (VDEK) im Bundesdurchschnitt monatlich 786 Euro für die Pflegeleistungen zuzahlen. Wenn auch Verpflegung und Unterkunft (774 Euro) sowie der Beitrag zu den Investitionskosten (455 Euro) dazugerechnet werden, liegt die durchschnittliche finanzielle Belastung für Pflegebedürftige im Heim bei über 2000 Euro pro Monat.

Spahn will die Länder bei den Ausgaben für Bau und Modernisierung von Pflegeheimen stärker in die Verantwortung nehmen. Sie sollen zukünftig jedem vollstationär versorgten Pflegebedürftigen einen monatlichen Zuschuss von 100 Euro zu den Investitionskosten zahlen.

Auch GKV-Vorstand Kiefer sagt: „Eine kurzfristige und spürbare Entlastung gäbe es schon, wenn die Länder ihren Verpflichtungen bei den Investitionen nachkämen.“

Dem Minister schwebt außerdem vor, dass niemand für stationäre Pflegeleistungen länger als 36 Monate mehr als 700 Euro pro Monat zuzahlen muss. Damit nimmt er einen Vorschlag auf, den Fachpolitiker und Pflegeexperten seit einiger Zeit unter dem Titel „Sockel-Spitze-Tausch“ diskutieren: Statt wie bisher die Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung zu deckeln, sollen die Eigenanteile begrenzt werden.

Die Umkehr der Finanzierungslogik würde die Pflegekassen nach Schätzungen des GKV-Spitzenverbands mit zusätzlich drei Milliarden Euro pro Jahr belasten. Das sei nur mit Unterstützung aus dem Bundeshaushalt zu stemmen, glaubt Kiefer. Insgesamt sei ein Steuerzuschuss von bis zu neun Milliarden Euro erforderlich, um bestehende Aufgaben in der Pflege und die geplanten Reformen ohne Beitragserhöhung finanzieren zu können.

Spahn stellt in seinem Eckpunktepapier einen „pauschalen Bundeszuschuss“ in Aussicht, zur Höhe macht er allerdings keine Angaben. Der Minister will die Pflegekassen auch dadurch entlasten, dass ihnen der Bund künftig die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige abnehmen soll. Und er will mit einer Reihe von Maßnahmen die Pflege durch ambulante Dienste oder Angehörige stärken, die im Vergleich zu den Heimen kostengünstiger ist.

Allein zwischen 2015 und 2020 stiegen die Ausgaben in der Pflegeversicherung von 29 auf über 50 Milliarden Euro. Der größte Kostentreiber der vergangenen Jahre war eine Reform von Spahns Vorgänger Hermann Gröhe (CDU), die den Kreis der Leistungsberechtigten mit einer neuen Definition von Pflegebedürftigkeit deutlich ausweitete.

Mittelfristig wird der demografische Wandel die umlagefinanzierte Pflegeversicherung massiv unter Druck setzen. Einer Bertelsmann-Studie zufolge könnte sich der Finanzbedarf bis 2030 auf 74 Milliarden Euro und bis 2050 auf 181 Milliarden Euro erhöhen.

„Die Babyboomer kommen zunehmend in das Alter, in dem Pflegebedürftigkeit wahrscheinlich wird“, sagt GKV-Vorstand Kiefer. Absehbar sei ein „erheblicher Zugang“ bei den Leistungsempfängern in der Pflegeversicherung. Die Phase könne mit einem „moderaten Beitragsanstieg“ überstanden werden – solange die Wirtschaft robust wachse und sich Bund und Länder an der Finanzierung beteiligten.

Spahn schlägt als Beitrag zur „Demografiefestigkeit“ der Pflegeversicherung unter anderem vor, den Beitragszuschlag für Kinderlose um 0,1 Punkte zu erhöhen. Das Geld würde in den Pflegevorsorgefonds fließen, mit dem der Bund seit 2015 einen Kapitalstock aufbaut, um die Beitragserhöhungen in der alternden Gesellschaft abzumildern.

SPD fordert eine Bürgerversicherung

„Pflege ist die soziale Frage der 20er-Jahre“, sagte Spahn, als er seine Reformvorschläge ankündigte. Offen ist, ob die aktuelle Regierungskoalition noch die Antwort darauf gibt. Die SPD strebt einen viel weiter gehenden Umbau der Pflegefinanzierung an und fordert eine Bürgerversicherung, in die bisher privat versicherte Gutverdiener einbezogen werden.

Die für Gesundheit zuständige SPD-Fraktionsvizechefin Bärbel Bas sagte dem Handelsblatt, dass Spahns Eckpunktepapier „grundsätzlich in die richtige Richtung“ gehe. „Leider hat der Minister bisher versäumt, uns ein schlüssiges Finanzierungskonzept vorzulegen.“

Das sei aber „eine zwingende Voraussetzung für eine Reform vor der Bundestagswahl“, so Bas. Wenn die Union eine Bürgerversicherung nicht mittrage, müssten Privatversicherte wenigstens mit einem „Risikoausgleichsbetrag“ an der künftigen Finanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung beteiligt werden.

Aus SPD-Sicht hängt eine Reform vor der Bundestagswahl auch von einer gemeinsamen Linie bei der Deckelung der Eigenanteile in Pflegeheimen ab. „Der vom Minister gemachte Vorschlag eines Festbetrags von 700 Euro ist dafür aus unserer Sicht ungeeignet“, kritisierte Bas.

„Insbesondere Menschen im Osten Deutschlands hätten davon überhaupt nichts, da die Eigenanteile dort diese Grenze nicht erreichen.“ Den Sozialdemokraten schwebt stattdessen eine prozentuale Entlastung der Pflegebedürftigen bei den Zuzahlungen vor.

Unzufriedenheit mit Spahns Vorschlägen ist auch in den Reihen des Wirtschaftsflügels von CDU und CSU zu vernehmen. Die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) legte ein eigenes Konzept vor, das auf einer flächendeckenden kapitalgedeckten Zusatzversicherung für das Pflegerisiko beruht. Als Vorbild dient der Tarifabschluss in der Chemiebranche vom November 2019, der eine solche Versicherung als Option für die Beschäftigten vorsieht.

Die MIT geht noch einen Schritt weiter: Alle Beschäftigten sollen automatisch eine Pflege-Police bekommen, um vorzusorgen – es sei denn, sie widersprechen ausdrücklich. Im Eckpunktepapier des Ministers taucht diese Idee nicht auf. Spahn beschränkt sich weitgehend darauf, die staatliche Förderung für eine Zusatzversicherung von fünf auf 15 Euro im Monat anheben zu wollen.

Die Hoffnung beim GKV-Spitzenverband ist, dass in den kommenden Monaten zumindest die Beteiligung der Länder an den Investitionskosten sowie ein „nennenswerter und dauerhafter“ Steuerzuschuss geregelt werden.

„Die derzeitige Regierungskoalition mag zwar hinsichtlich der langen Linien der Pflegeversicherung unterschiedliche Auffassungen haben“, sagt Kiefer. Einige der Vorschläge, die auf dem Tisch lägen, seien aber konsensfähig. „Möglicherweise ist es im Interesse aller Koalitionsparteien, noch vor der Wahl das Pflegethema mit einem ersten Reformansatz in die richtige Richtung zu lenken.“

Die Gehälter in der Pflegebranche sollen steigen – was die Kosten weiter in die Höhe treiben wird. Foto: dpa
Die Gehälter in der Pflegebranche sollen steigen – was die Kosten weiter in die Höhe treiben wird. Foto: dpa