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Nur Mut! In der Krise schlägt die Stunde der Querdenker

Nach Epidemien ist die Wirtschaft schon immer Mutmacher gewesen. Hoffnung machen jetzt jene Menschen, die mit neuen Ideen Märkte verändern. Ein Essay.

Die Ansage kam von ganz oben. Als die schlimmste Covid-19-Phase vorbei war und Lockerungen anstanden, verkündete Angela Merkel: „Wir können uns ein Stück Mut leisten, aber wir müssen vorsichtig bleiben.“ Da war das neue Zauberwort in der Welt, Mut, auch wenn die Kanzlerin davon sprach wie von einem Stück Fleischwurst an der Metzgertheke, ganz nach dem Motto: Darf es vielleicht ein bisschen mehr sein?

Wer in diesen Tagen aufmerksam schaut, wird den Mut-Begriff an vielen Stellen der Republik finden. Natürlich in Aufbaureden von Politikern und Wirtschaftsführern, aber auch in Zeitungsbeilagen oder in der Werbung. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag forderte seine Mitglieder ganz offiziell zu Mut und Zuversicht auf. Die Vergangenheit, so scheint es, wurde allzu oft von Erstarrung und „Wutbürgern“ geprägt, die Zukunft aber soll „Mutbürgern“ gehören.

Natürlich ist Mut – oder die oft synonym verwendete Kardinaltugend „Tapferkeit“ – nicht eine Frage der gestückelten Dosierung, sondern der Haltung. Mut gibt es nun mal nicht pfund- oder kiloweise, sondern gehört zum Charakter eines Menschen. Wenn Wirtschaft wirklich zu 50 Prozent Psychologie ist, wie Markt-Apostel Ludwig Erhard gern zitiert wird, dann ist Mut als Ressource so wichtig wie Stahl, Kies oder Silikon.

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In Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie sind es folglich die Mutigen, die Auswege aus der Not finden und Hoffnung machen. Gegen die Spirale des Negativen, verursacht durch Sars-CoV-2, braucht eine Gesellschaft andere Narrative – Wirtschaft kann sie liefern.

Es geht um Geschichten wie jene über den Gründer der Göppinger Firma Teamviewer, der mit seiner Software für Fernwartung zum Börsenstar wird. Oder über den CEO von Biontech, der neuen Großhoffnung für einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2. Oder auch über eine Kölner Gymnasiallehrerin, die den Unterricht komplett durchdigitalisiert hat.

Corona macht auch das möglich: mutmachende Exempel in einer Zeit schwerster Umbrüche. Einerseits legt die Viren-Krise erbarmungslos Schwächen frei. Andererseits eröffnet sie demjenigen Chancen, der begreift, wie die neuen Bedürfnisse aussehen: digitales Lernen, Arbeiten und Leben, gesunde, vegane Ernährung, umweltschonender Verkehr, Medizin gegen Seuchen, erneuerbare Energien. Mut ist dann Bekenntnis zu künftigen Märkten. Jeder vierte Deutsche würde gern gründen, aber am Bekenntnis-Ernst fehlt es.

In der Wirtschaft ist unternehmerische Courage ein Grundelement. Jede Firma ist, genau genommen, zementierter Mut, vor allem bei Start-ups: Der Eigentümer geht bewusst ins Risiko unter Abschätzung aller Faktoren, und zwar in der optimistischen Annahme, es gebe einen Markt für seine Idee, sein Produkt, seine Dienstleistung.

So wird Optimismus zur emotionalen Kraft, die die Konjunktur antreibt. „Märkte werden durch animalische Geister bewegt, nicht durch die Vernunft“, verkündete der britische Ökonom John Maynard Keynes. 2011 erforschte der Management-Professor Alok Kumar von der Universität Miami, dass in Staaten mit großem Optimismus die Rezession schwächer, das Wachstum stärker und die Erholung nach einer Krise rasanter war als in Ländern mit Zukunftspessimismus. Also: nur Mut!

In einer Krise wie der Corona-Rezession ist es wichtig, Unternehmer zu haben, die es mit dem Schriftsteller André Gide halten: „Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.“ Der Mut zum Wandel ist bitter notwendig. Schon vor Corona war die Weltwirtschaft ins Stocken geraten. Daran konnte man genauso wenig vorbeigehen wie an Bestsellern à la „Weltsystemcrash“. Heute reden wir nicht mehr über „Disruption“, wir leben sie.

Erstaunlicherweise hat „Mut“ im Bewusstsein von Wirtschaftsentscheidern zuletzt keine Rolle mehr gespielt – nach außen jedenfalls. In einer Führungskräfte-Befragung der „Initiative Werte bewusste Führung“ im vorigen Jahr ergab sich, dass die 545 Interviewten diesen Wert in sechs aufeinanderfolgenden Jahren auf den sechsten und letzten Platz wählten – hinter Vertrauen, Verantwortung, Integrität, Respekt und Nachhaltigkeit.

Nur 2,5 Prozent wählten Mut als wichtigsten Wert, hier definiert als „Bereitschaft, Neues zuzulassen und anzunehmen“, als „Fehlerfreundlichkeit“ sowie als „Kraft zur Entscheidung und Veränderung“. Vermutlich mit Blick auf die Öffentlichkeit zählte für die befragte Wirtschaftselite Moral mehr als Mut.

Wahr ist auch, dass seit vielen Jahren eine ganze Industrie von Motivationstrainern und Coaches gut vom Mutmachen lebt. Wer erinnert sich nicht an Jürgen Höller, der als „erster Mentaltrainer der Fußballbundesliga“ auftrat und 1999 die Profis von Bayer Leverkusen barfuß über Glasscherben laufen ließ. Die heutigen Gurus sind nicht ganz so schillernd, haben aber als Speaker, Coach und Buchautor nachhaltigen Erfolg, etwa Patrick Hermann oder Carl Naughton.

Epidemien als Innovationsbeschleuniger

Das meiste davon, was da an Lust und Neugier an Veränderung gepredigt wird, stimmt. Unbestreitbar ist ebenfalls, dass Epidemien schon immer ein hervorragender Beschleuniger von Innovation waren. Sie forderten Mut regelrecht heraus. Man denke nur an die Beulenpest im 14. Jahrhundert, die mehr als 20 Millionen Menschen in Europa das Leben kostete. Arbeitskräfte waren auf einmal rar, die Löhne stiegen, man brauchte neue Produktionsmöglichkeiten und mehr Produktivität. So war die Pest, der „Schwarze Tod“, ein Katalysator der Mechanisierung. Ohne sie hätte es weder den Buchdruck von Johannes Gutenberg noch die Renaissance in Italien gegeben.

Oder schauen wir auf die erste Sars-Epidemie 2002 in China, die damals schon zum ökonomischen Stillstand führte, allerdings nur in Asien. Der Schaden lag bei ungefähr 40 Milliarden Dollar – der dadurch ausgelöste Nutzen ist schwerer zu quantifizieren, denn in jenen Tagen begann der Siegeszug des E-Commerce. Weil die Chinesen nicht mehr in Shopping-Malls oder Restaurants konnten und der Schulbetrieb daniederlag, entwickelten sich allerlei Online-Anwendungen. Die kleinen Betriebe Alibaba und Tencent wurden groß.

„Epidemien haben nicht nur negative Effekte, denn sie decken bestehende Strukturschwächen auf“, sagt Jörg Vögele, Medizin- und Wirtschaftshistoriker an der Universität Düsseldorf. Kurzfristig leidet die Wirtschaft, langfristig profitiert sie. Vorausgesetzt, es gibt genug Mut.

Auch im Fall Corona sieht Wilhelm Bauer, Chef des Fraunhofer-Verbunds Innovationsforschung, eine „starke Innovationsdynamik“ entstehen – seitdem klar ist, dass die Krise mehr als nur ein paar Wochen anhalte. „Eine Pandemie ist nichts, das man sich aussuchen würde“, sagt Bauer, „aber ihre zerstörerische Kraft schafft Freiräume für Neues“. Seine Prognose: „Da kommt ein neues Zeitalter auf uns zu. Wir werden eine viel digitalere Wirtschaft erleben.“

Schauen wir zurück in die Wirtschaftshistorie, stellt man schnell fest: Am Anfang war der Mut. War jene „schöpferische Zerstörung“, die der Nationalökonom Joseph Schumpeter als Wesensgesetz des Kapitalismus pries. „Die Männer, die die moderne Industrie erschaffen haben“, formulierte er etwas chauvinistisch, „waren ganze Kerle und keine Jammergestalten, die sich fortwährend ängstlich fragten, ob jede Anstrengung, der sie sich zu unterziehen hatten, auch einen ausreichenden Genussüberschuss verspreche.“

Jenseits des Mainstreams

Wie groß war etwa die Skepsis, als der Industrielle Herbert Quandt, reich geworden mit Batterien, mithilfe von Aktionären und Mitarbeitern 1960 auf einmal den Münchener Autobauer BMW erwarb – und so den großen PS-Plan der damals allmächtigen Deutschen Bank verdarb? Die „Blauen“ sahen BMW künftig als eine Art Abteilung von Daimler-Benz.

Wer hätte etwa gedacht, dass aus der 1972 in Weinheim von fünf Ex-IBM-Mitarbeitern gegründeten SAP Systemanalyse und Programmentwicklung GbR einmal der wertvollste Börsenkonzern Deutschlands werden würde? Das Quintett hatte einfach die Idee, nicht mehr wie bei IBM die Daten mechanisch auf Lochkarten zu speichern, sondern den Datendialog am Bildschirm zu suchen.

Und was sprach für den 27-jährigen sportinvaliden Uli Hoeneß, der 1979 das Management des damals hochverschuldeten FC Bayern München übernahm? In den folgenden 40 Jahren gewann der Klub Titel und finanzielle Solidität, was mit Sponsoring, Merchandising und TV-Erlösen zu tun hatte, der Ökonomisierung des Fußballs.

Allen drei Mut-Proben ist gemeinsam: Die Protagonisten waren zu Beginn jenseits des Mainstreams, ihre Lösungen schienen „verrückt“ zu sein. Bequemer wäre es gewesen, weiter Industriepolitik à la Deutsche Bank, Lochkarten oder Fußballschuldenexzesse zu machen. Doch es drängte einige, es besser zu machen, die Welt von ihren Konzepten zu überzeugen.

Mutige sind Nonkonformisten, geistig Unabhängige. Sie setzen sich für eine Sache gegen Widerstand ein. Im sozialen Leben erwächst daraus Zivilcourage, wie sie jene wenigen Deutschen zeigten, die im „Dritten Reich“ Juden versteckten.

Der Entrepreneur verkörpere „wie kein anderer Führung und Innovation, die beiden Funktionen, an denen wirtschaftliches Heldentum sich bewährt oder scheitert“, erklärt der Kultursoziologe Ulrich Bröckling. Die Erfolgswahrscheinlichkeit eines mutigen Vorgehens hängt von vielen Faktoren ab: vom richtigen Timing, der Validität der Idee, der gezeigten Beharrlichkeit, der Qualität der Mitstreiter, von Überzeugungskraft.

Mut allein garantiert noch keinen Erfolg. Der unternehmerische Friedhof ist voll mit Leuten, die als beherzt galten. Aber andererseits schafft Mutlosigkeit den sicheren Misserfolg. Das Gegenteil von Mut ist denn auch nicht Angst, sondern Feigheit. Ängstliche Phasen bei kühnen neuen Manövern sind normal und verhindern Fehler. Angst wirke als Bremsfaktor, Mut als Antriebsfaktor, analysiert der Psychologe Siegbert A. Warwitz.

Wann Mut in Übermut oder sogar Tollkühnheit kippt, entscheidet ein sehr unbestechliches Publikum – der Markt. Die Kunden haben eben irgendwann an SAP-Software geglaubt, an die BMW-Motorik, ans „Mia san mia“ des FC Bayern. An die Fernsehgeräte des Max Grundig, an die Reisen des Josef Neckermann. An die Autos des Carl Friedrich Wilhelm Borgward haben die Deutschen dagegen irgendwann nicht mehr geglaubt. Die Pioniere von einst hatten vergessen, dem alten Mut neuen Mut folgen zu lassen. Manchmal muss man sich selbst ersetzen, um zu überleben.

Wie sehr Angela Merkel „Mut“ als große Tugend schätzt, hat sie vor drei Jahren in einem Interview erzählt. Ihr habe es in der DDR imponiert, dass einige Bürger couragiert die Idee eines vereinten Deutschlands nicht aufgaben. Deshalb könne man auch nicht einfach so etwas wie die russische Annexion der Krim akzeptieren. Ihr Fazit: „Mut könnte in der Menschheit noch ausgeprägter sein.“

Mitarbeit: Teresa Stiens

Alle Beiträge unter: www.handelsblatt.com/hoffnungstraeger