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Die totale Verführung – Wie der Streamingdienst Netflix die Filmwelt erobert

  • Mit 139 Millionen Abonnenten ist der Streamingdienst zu einem der größten Anbieter im globalen Filmgeschäft aufgestiegen.

  • Infografik: Die wichtigsten Daten zum Netflix-Imperium

  • „Wir irren uns oft“ – Produktionschef Todd Yellin erklärt im Interview, warum auch Netflix-Algorithmen daneben liegen

Vergangene Woche schwebte Reed Hastings in Berlin ein, pünktlich zum Start des Filmfestivals „Berlinale“. Am Dienstag dann eilte der Netflix-Chef zu Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Es war kein einfaches Gespräch im Kanzleramt. Auf der anderen Seite des Konferenztischs in Grütters’ Büros hatte Hastings Platz genommen – umgeben von mehreren seiner wichtigsten Mitarbeiter.

Die Kulturstaatsministerin ist keine Gegnerin der immer einflussreicheren Filmmaschine Netflix, aber einige Entwicklungen sieht sie mit Sorge. Ein Streitthema lag auf der Hand: die Filmabgabe, die Kinobetreiber, Fernsehsender und Videotheken in Deutschland an die Filmförderungsanstalt entrichten. Netflix zahlt diese Abgabe bislang nicht. Das Gespräch im Kanzleramt ist offenbar nicht wirkungslos geblieben. Gerade erst sicherte der US-Konzern zu, künftig die deutsche Filmabgabe zu bezahlen.

Es ist ein kleiner Erfolg der deutschen Politik gegen den mächtigsten Filmproduzenten der Welt. „Netflix hat weltweite Zugänge zu Filmen eröffnet, eigene, auch hochklassige, Inhalte geschaffen und dabei die Geschäftsmodelle in der Filmbranche umgekrempelt“, sagte Grütters dem „Handelsblatt“.

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Wegen seines gewaltigen Einflusses trage das Unternehmen eine riesige Verantwortung: „Den positiven Signalen von Netflix, mit den Kinos, Festivals und Produzenten partnerschaftlicher zusammenarbeiten zu wollen, müssen nun Taten folgen.“ Ein Film, da ist sich Grütters sicher, „ist nicht nur ein Wirtschaftsprodukt, sondern auch ein Kulturgut“. Ja, Hastings hat gewaltigen Einfluss und mindestens so einflussreiche Freunde, auch in Deutschland.

Im Berliner Springer-Haus gab es vergangene Woche ein Essen im feinen „Journalisten Club“ im 19. Stock, einst Refugium des Großverlegers Axel Springer. Vor Holzvertäfelungen aus dem 18. Jahrhundert, die einst zur Londoner „Times“-Zentrale gehörten, und expressionistischen Gemälden referierte Hastings über die Macht der Daten und das neue Fernsehen. Mathias Döpfner und Hastings pflegen ein enges Verhältnis. Der Springer-Vorstandschef sitzt seit dem Herbst 2018 im Verwaltungsrat von Netflix.

Von Berlin reiste Hastings weiter nach Paris, vor wenigen Wochen war er in London, davor in Rom. Die Türen stehen ihm offen in der Welt. Denn ob Schüler in Bayern, Mullahs im Iran oder Bauern in Sibirien – alle schauen Netflix. Nur in Syrien, Nordkorea und China ist Netflix nicht zu haben.

Derzeit zahlen 139 Millionen Menschen für den Streamingdienst, in zehn Jahren werden es nach Hochrechnung von Morgan Stanley mehr als 377 Millionen sein. Umgerechnet in Zuschauer wären das 900 Millionen Menschen, mehr als elf Prozent der Weltbevölkerung.

Täglich neue Serien, täglich neue Spannung

Es entsteht ein globaler Fernsehsender. Fast täglich lockt Netflix mit neuen Serien, hält mit Thrillern und Action in Atem, bezaubert durch Stars und Einfallsreichtum, bringt einen zum Lachen, erstaunt durch Ideen, zeigt heftige Brutalität und erzeugt kaum erträgliche Spannung. Die Film-Einbahnstraße von Hollywood Richtung Rest der Welt ist aufgehoben. Auf einmal schauen Amerikaner die deutsche Serie „Dark“ oder die italienische TV-Provokation „Baby“.

Es gilt die sofortige Verfügbarkeit, die im Extremfall im Binge-Watching mündet: Das exzessive Schauen einer Serie, das Koma-Glotzen im Digitalzeitalter. Unterhaltung können auch andere, sicherlich. In den USA tun sich gewaltige Medienkonzerne zusammen. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, das Apple seine Streaming-App in wenigen Wochen auf den Markt bringen will. Der iPhone-Hersteller gibt jährlich eine Milliarde Dollar für Inhalte aus.

Allerdings brachte Netflix 2017 mehr als sechsmal so viel auf, 2018 sogar insgesamt 8,5 Milliarden Dollar. Geld scheint keine Rolle zu spielen. Es schickte Schockwellen durch Hollywood, als Shonda Rhimes 2017 von Disneys Fernsehsender ABC zu Netflix wechselte – ihr Vierjahresvertrag ist mit 150 Millionen Dollar dotiert. Jeder in der Medienbranche kennt die TV-Produzentin, die zuvor mit Serien wie „Grey’s Anatomy“ ABC aus dem Einschaltquotenkeller geholt hatte.

Erfolgsproduzent Ryan Murphy erhielt 2018 ganze 300 Millionen Dollar für fünf Jahre. In ähnlichen Dimensionen dürften sich die Deals mit Barack Obama und seiner Frau Michelle oder die Neuauflage von „Breaking Bad“ als Spielfilm bewegen. Wer durch die die Konzernzentrale von Netflix schlendert, dem wird die Hollywood-Leidenschaft des Unternehmens fast aufgedrängt. Die Büros, die Drucker, selbst die Toiletten sind nach Kinoklassikern wie „Zorro“, „Fargo“ oder „Forrest Gump“ benannt.

Aber man befindet sich nicht in Los Angeles, sondern in der Nähe von San Francisco, dem Silicon Valley. Bei Netflix mischt sich die Kunst der Unterhaltung mit den Gesetzen der Daten. „Ich liebe diese Kultur“, sagt Produktionschef Todd Yellin im Interview. Es herrscht kreative Freiheit bei Netflix und zugleich eine radikale Offenheit. Ohne Rücksprache mit Vorgesetzten können Produktionsmanager Serien und Filme mit Millionenbudgets freigeben.

Die Hierarchien sind flach, die Gehälter exorbitant hoch. Das wissen viele bis auf die letzte Kommastelle: Die Top-500-Leute können sehen, was jeder Mitarbeiter im Unternehmen verdient. Das ist der „Netflix-Way“, die Idee: Jeder soll sich ermächtigt fühlen, mehr Initiative zu ergreifen, um beim Gehalt im Vergleich zu Kollegen aufzuholen. Netflix vermisst auch seine Zuschauer bis ins Detail. Wer aber denkt, dass Daten allein die Regie führen, der irrt.

Laut dem Inhaltechef Ted Sarandos entscheiden „70 Prozent Bauchgefühl und 30 Prozent Daten“ darüber, ob eine Serie oder ein Film in Produktion gegeben werden. Junge Menschen haben sich abgewandt vom „linearen TV“, wie es Analysten nennen, das Fernsehen der alten Welt, in der jeden Tag um 20 Uhr die Tagesschau und der Samstagskrimi auf ZDF läuft. Für unter Dreißigjährige ist der Fernseher im Wohnzimmer ein seltsam unnützes Ding wie das Festnetztelefon.

Netflix rückt mitten ins Leben und auf die Fernbedienung – im wahrsten Sinne des Wortes. Früher zahlte das Unternehmen für den eigenen rot-weißen Knopf, mit dem der Zuschauer direkt zu dem Streamingdienst kommt. Jetzt wollen Gerätehersteller den Knopf selbst auf den Fernbedienungen haben, weil die Marke so unverzichtbar ist. Erst vor wenigen Tagen knickte Samsung ein – mit rund 30 Prozent Marktführer bei Fernsehern in Deutschland – und verkündete, ab sofort den Netflix-Knopf weltweit zu führen.

Der Börsenwert von Netflix ist raketenhaft nach oben gestiegen, das Unternehmen ist zusammen mit Disney das wertvollste Medienunternehmen der Welt. Der Analyst Douglas Anmuth von JP Morgan hält den Streaminganbieter für die „vielleicht beste Erfolgsgeschichte der Technologiebranche“. Und das, obwohl Netflix seit 2011 mehr als 13 Milliarden Dollar an Cash verbrannt hat. „Werden die Ausgaben jemals nachlassen?“, fragt sich fast verzweifelt Analyst Benjamin Swinburne von Morgan Stanley.

Start-up-Kultur in Hollywood

Pünktlich um 14 Uhr springt die Popcorn-Maschine in der Zentrale an. Von der Lobby aus weht der Duft durch die Flure. In der Ecke der Lobby von Building 3 grüßt die schwarz-ledrige Figur des Monsters aus der Science-Fiction-Mysteryserie „Stranger Things“ mit geöffnetem, rotem Rachen. Zwei chinesische Manager in schwarzen Anzügen machen aufgeregt ein Selfie.

Netflix setzt sich bewusst von anderen Unternehmen im Silicon Valley ab. Das geht schon damit los, dass die Firma in Los Gatos residiert, ganz tief im Süden des Valleys, in einem verschlafenen Rentnerörtchen. Fernab von Palo Alto, Mountain View oder Menlo Park, aber einige Meilen näher dran an Los Angeles, an Hollywood. Der DVD-Verleih, der früher Filme in roten Briefumschlägen verschickte, verwandelte sich vor acht Jahren in einen Hollywood-Player.

Um genau zu sein: Am 11. März 2011. Gründer Reed Hastings und Netflix-Inhaltechef Ted Sarandos stachen damals die Studios AMC und HBO beim Kampf um die Rechte für „House of Cards“ aus, eine Adaption der gleichnamigen BBC-Miniserie. Sie boten 100 Millionen Dollar für die ersten zwei Staffeln über den durchtriebenen Abgeordneten Francis „Frank“ Underwood und seine machthungrige Ehefrau.

Der Rest ist Geschichte. „House of Cards“ feierte am 1. Februar 2013 Premiere in den USA. Co-Hauptdarstellerin Robin Wright gewann für Netflix den ersten Oscar als beste Schauspielerin in einer Web-Serie. Bis heute zählt der Politthriller zu den erfolgreichsten Formaten der Plattform– trotz des Rauswurfs von Kevin Spacey nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung. Mit „House of Cards“ explodierten die Abonnentenzahlen bei Netflix.

Anders als herkömmliche Fernsehgesellschaften genießt Netflix viele Freiheiten, muss nicht eine bestimmte Einschaltquote an einem bestimmten Tag erzielen. „Für Netflix ist eine möglichst hohe Quote gar nicht mehr kriegsentscheidend“, sagt Nico Hofmann, Chef der deutschen Branchengröße Ufa. „Deren Ziel ist es, ganz genau definierte, mitunter durchaus überschaubare, sehr junge Zielgruppen exakt zu treffen. Und ,exakt‘ meint hier: ,global‘.“

Wie viele Menschen eine Serie oder einen Film sehen, wurde bislang wie ein Staatsgeheimnis bei Netflix gehandelt. Aber in den vergangenen Monaten veröffentlichte es erstmals einige Zahlen. So sahen das Drama „You – Du wirst mich lieben“ vier Wochen nach dem Start mehr als 40 Millionen Menschen. Der Horrorthriller „Birdbox” mit Sandra Bullock in der Hauptrolle brachte es sieben Tage nach dem Start auf mehr als 45 Millionen Klicks.

Mit der Veröffentlichung der Zahlen verfolgt Netflix gleich mehrere Ziele. Die Firma will damit hart umkämpfte Talente anziehen: Seht her, wie viele eure Werke bei uns sehen können. Aus dem Grund entschied sich beispielsweise „Roma“-Regisseur Alfonso Cuarón, der sich nach seinen Erfolgen wie „Y Tu Mama Tambien“ oder „Gravity“ den Vertrieb hätte aussuchen können, für Netflix. Prompt erhielt „Roma“ zehn Oscar-Nominierungen.

Mit den hohen Zuschauerquoten will die Firma auch zeigen: Der Vorwurf, dass sich bei Netflix kein Mensch mehr wegen des übervollen Angebots zurechtfinde, stimme nicht. Das Problem besitzt einen zentralen Stellenwert bei Netflix. 1.000 Programmierer im Konzern suchen nach einer Antwort auf Fragen wie diese: Wie kann man dem Kunden seine Wünsche am besten erfüllen? Und ihm Filme und Serien präsentieren, von denen er bislang gar nicht wusste, dass er sie sehen wollte?

2.000 Geschmacksgruppen

Todd Yellin könnte selbst vor der Kamera stehen. Der schlaksige Typ mit dem nahezu kahlen Kopf redet begeistert über seine „Geschmacksmaschine“. Sobald er loslegt über Big Data, Algorithmen, zuckt es in seinen Schultern, die Hände mit den langen Fingern fahren durch die Luft, scheinen was zu greifen, eine Idee für einen Film, eine Kameraeinstellung. Früher schrieb Yellin Drehbücher, führte Regie, einen seiner Filme, „Brother’s Shadow“ von 2004, gibt es auch auf Netflix.

Der Mann lebt für Filme und Fernsehen – aber auch für Daten. Wenn Netflix-Chef Reed Hastings in die Zukunft blicken will, fragt er Produktchef Yellin. Der Herr der Netflix-Formel verkuppelt Menschen und Fernsehen. Bei solch einem Experten ist eine Fachfrage angebracht. „Stranger Things“? „Star Trek“? Oder „Lost“? Welche Serie könnte der Zuschauer der Science-Fiction-Show „Black Mirror“ wohl als Nächstes schauen? Yellin legt den Kopf schief. „Auf den ersten Blick hat das alles wenig gemeinsam.“

Er schlägt ein Bein übers andere, die Sache scheint ihn zu reizen. „Doch wenn man es sich genauer anschaut, spricht das alles vielleicht Leute an, die ein bisschen zynischer sind und sich für die dunkle Seite der Menschheit interessieren.“

Der Datenberg von Yellin wächst permanent – und mit ihm Netflix’ Verführungskraft. Die Entertainmentmaschine weiß, was über die Bildschirme von insgesamt 300 Millionen Kundenprofilen auf 450 Millionen Endgeräten in 190 Ländern flimmert, erkennt Stimmungen, Befindlichkeiten, Bedürfnisse – ja, erzeugt sie inzwischen sogar selbst. Die klassische Einschaltquote interessiert nicht mehr.

Wer in Diskussionen von Netflix-Managern hineinlauscht, der hört oft das Wort „Vertikale“. Das ist eine Bezeichnung für einzelne Genres und Subgenres, ein Projekt wird als „historische Romanze“ und „Film-Noir-Vertical“ eingeordnet. Ein anderes, oft genanntes Wort ist „completion“, wie rasch Serien bis zum Ende geschaut werden. Fast immer wird über „Geschmacksgruppen“ oder „Geschmacksgemeinschaften“ gesprochen.

Netflix identifizierte fast 2.000 Mikrogruppierungen, in die ein Nutzer fallen kann. Damit identifiziert Netflix unterschwellige Ähnlichkeiten zwischen Filmen und Serien, die in eine richtige Empfehlung für den Kunden gipfeln können.Jeder einzelne Zuschauer steckt typischerweise in drei oder vier Geschmacksgruppen, doch auch das variiert, sagt Inhaltechef Yellin. „Wir alle haben unterschiedliche Stimmungen, wollen mal was Ernstes, mal etwas Seichtes sehen. Und: Was wir mögen, hängt auch oft davon ab, mit wem wir schauen.“

Für Netflix sind solche Erkenntnisse Gold wert. Man muss nicht immer neue Hits produzieren, um beim Kunden relevant zu bleiben. Die Netflix-Algorithmen zaubern ständig passende, aber vielleicht ältere Inhalte für den Kunden nach oben. „So erscheinen sie Zuschauern stets neu“, sagt Medienberater Tim Mulligan von der britischen Analysefirma MIDiA Research. Jetzt könnte Netflix versucht sein, Datenanalyse nicht nur beim Kunden, sondern auch bei der Produktion und Auswahl der Filme und Serien anzuwenden. Aber den Fehler begeht das Unternehmen bislang nicht.

Mehr Kontrolle für Künstler

Nico Hofmann kennt Netflix gut, für den US-Konzern produziert er 2020 den Film „Betongold“. „Big Data bedeutet bei Netflix nicht, dass Regisseuren in ihre Arbeit reingeredet wird“, sagt der Ufa-Geschäftsführer. „Die US-Programmverantwortlichen habe ich allesamt immer als filmbegeisterte Topkreative erlebt, die vor allem der Inhalt interessiert, nicht die rechnerische Wahrscheinlichkeit, ob jemand bei einer bestimmten Szene Bier holen geht.“

Zeit für Mikromanagement hat man bei Netflix auch nicht, dafür ist schlicht zu viel zu tun. Das Unternehmen setzt auf radikale Dezentralisierung. Die Manager bis drei Hierarchiestufen unter Inhaltechef Sarandos haben „full greenlight“, können also ohne Rücksprache mit dem Boss Projekte freigeben. Da geht es laut Sarandos nicht um Kleingeld: „Den meisten in meinem Team steht mehr Geld zur Verfügung als alle in Hollywood verlangen können.“

Drehbuchschreiber, Regisseure oder Schauspieler sind entzückt. Kein langes Verhandeln mehr, kein Abwarten des Pilotfilms oder der ersten Staffel, bevor der Vertrag verlängert wird. Sie haben weitgehend freie Hand, groß einmischen kann sich Netflix auch nicht – dafür fehlt angesichts der riesigen Produktionsmenge schlicht die Zeit. „Ich liebe den kreativen Freiraum“, erklärte Produzentin Rhimes den Wechsel von ABC zu Netflix, „Es gibt keine Beschränkungen, keine Standards oder Praktiken.“

So könne eine Folge 90 oder 15 Minuten lang sein. „Es gibt kein: Warum machst du nicht mehr von dem, was du schon immer gemacht hast?“ Die Veränderungen durch den Streaminggiganten seien „generell eine gute Sache“, sagt ein Produzent aus Santa Monica, der seit 20 Jahren im Geschäft ist, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will.

Weil bei Netflix ganze Staffeln gleichzeitig starten, könnte niemand nachträglich den Fluss der Handlung verändern, wie es im TV sonst oft geschehe, das von Woche zu Woche produziere. Der Künstler habe mehr Kontrolle. „Netflix hat viele Ineffizienzen ausgeräumt, Entscheidungen werden schneller getroffen.“ Künstlerisch zahlt sich das aus. Allein 2018 wurden mehr als 1 000 der „Originale“ genannten Eigenproduktionen von der Firma angeschoben.

Dem künstlerischen Erfolg tut das bislang keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Netflix gewann bislang zwei Oscars, zwei Golden Globes und 63 Emmy-Primetime-Awards. Aber nicht Trophäen, sondern Klicks sind das Ziel. „Jeder Mensch mit einem Telefon besitzt einen Bildschirm mit Zugang zum Internet. Das ist unser Zielmarkt“, sagt Sarandos, ein Mann aus Phoenix, Arizona, der in den Neunzigerjahren die Uni gegen den Videostore tauschte und heute als Chief of Content bei Netflix bestimmt, was die Plattform streamt. „Der Geschmack der Welt und die Zeit der Welt – dahinter sind wir her.“

Netflix kommt nach Deutschland

Von jeher setzt Netflix auf die Idee des „Long Tail“, der These, laut der Online-Unternehmen den meisten Umsatz mit vielen Nischenprodukten erwirtschaften und nicht mehr mit einigen wenigen Bestsellern. Schon als Reed Hastings und Marc Randolph ihren DVD-Verleih 1997 gründeten, suchten sie gezielt diejenigen Titel heraus, die aus ihrer Sicht am besten zu den Zuschauern passten. Und das waren eben nicht immer die Kassenschlager, sondern es war auch schon mal der Indie-Film.

Oder der Film aus dem Ausland. Deutschland ist bei Netflix begehrt. Fachleute sind sich einig, dass in den nächsten 18 Monaten erhebliche Summen von Netflix und Co. in den deutschen Filmmarkt gepumpt werden, um sich Stoffe und Talente zu sichern. „Besonders umworben wurden die unter 35-Jährigen, die teils gerade erst von den Filmhochschulen kommen“, sagt Ufa-Geschäftsführer Hofmann.

Derzeit läuft die Produktion der Serienadaption von „Die Welle“ an. Sie soll gezielt Heranwachsende ansprechen. „Wir haben ein sehr hungriges jugendliches Publikum auf unserer Plattform“, sagt Rachel Eggebeen, die Chefin der deutschen Serien-„Originals“. Die „Welle“-Erzählung über eine Schulklasse, die in einem Sozialexperiment zur faschistoiden Masse mutiert, stelle die Frage: Wie weit willst du gehen? „Das ist eine Geschichte, die ein Echo im deutschen Publikum hat, aber auch auf der ganzen Welt funktionieren kann.“

Die neue Scifi-Serie „Tribes of Europa“ ist, eine von acht neuen Serien, die Netflix 2019 in Deutschland produzieren will. Die Idee dazu kam von den Machern der deutschen Eigenproduktion „Dark“. Die Handlung von „Tribes“ folgt drei Geschwistern im Jahr 2090. Nach einer mysteriösen Katastrophe ist Europa in unzählige Mikrostaaten zerfallen. Einige Stämme kämpfen um die Vorherrschaft.

Netflix schließt gezielt Programmlücken. Unterrepräsentiert sind laut Eggebeen Serien mit Heldinnen. „Wir schauen immer nach Charakteren und Inhalten, die einzigartig und andersartig, abseitig sind“, sagt Kelly Luegenbiehl, die Chefin der internationalen Eigenproduktionen. Netflix zwinge den Schreibern oder Regisseuren kein inhaltliches Korsett auf, nach dem der Mord in Minute sieben passieren muss. Luegenbiehl spricht eher von einer „Kombination von Kunst und Wissenschaft“.

Ein wohldosierter Blick in die Daten kann demnach nicht schaden: „Wir nutzen sie als Indikatoren oder Werkzeuge, die uns sagen, welche Menschen welches Genre schauen, aber nicht über spezielle Story-Entwicklungen oder Charakterelemente.“

Erstmals wird Netflix auch in Deutschland nicht nur Serien, sondern auch eigene Filme produzieren. „Freaks“ entsteht in Koproduktion mit dem ZDF. Die Filme starten wie alle Netflix-„Originals“ global. Doch nicht immer rollt Netflix sein Programm international aus, lässt Kai Finke durchblicken, der bei Netflix den Programmeinkauf und die Koproduktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz leitet. „Komödien sind zum Beispiel vor allem in ihrem Heimatland erfolgreich“, sagt er. „Humor kann sich aber bekanntlich von Land zu Land sehr unterscheiden.“

Auch im Lizenzgeschäft orientiert sich Netflix an dem Wissen, das es über das Publikum besitzt. „Für uns ist wichtig, dass unser Programm sich im Einklang mit der Nachfrage weiterentwickelt“, sagt Finke. „Insofern geben uns vor allem unsere Nutzer vor, in welche Richtung sich unser Programm weiterentwickeln sollte.“

Das beinhaltet das Netflix-Prinzip

Zurück in der Konzernzentrale von Netflix in Los Gatos. In der zum warmen kalifornischen Sonnenlicht hin geöffneten Cafeteria von Building 3 sind die Wände angemalt mit blau-rot-grün-gelben Comicversionen der Netflix-Serienhelden aus „Stranger Things“, „Bright“ oder „Breaking Bad“. Elegante, minimalistische Glasbirnen hängen an langen, schwarzen Leitungen von der Decke. Hier können Mitarbeiter Frühstück und Mittagessen bekommen. Abends gibt es nichts zu essen.

Auch fehlen die Valley-typischen Kickertische und Schlafliegen. Netflix-Chef Hastings will, dass seine Mitarbeiter nach Hause gehen und ein Leben neben der Arbeit führen. In den Büroetagen werden die langen Reihen mit Computern immer wieder unterbrochen von grauen Couch- und Sitzgelegenheiten, wo sich die Entwickler zu kurzen Besprechungen treffen.

Den nüchtern-klaren Managementstil überhöht Hastings zum „Netflix-Way“ – eine Unternehmenskultur der radikalen Offenheit, in der Mitarbeiter über viel Freiheit verfügen und rasch Verantwortung übernehmen können. Wer bei Netflix arbeitet, hat mindestens fünf Jahre Berufserfahrung. Hastings lässt die Entwickler gern bei Google oder Facebook Erfahrungen sammeln – dann holt er sie zu Netflix.

Die Hierarchie ist flach, es gibt nur die Rollen der Manager, Direktoren und Vizepräsidenten. Bei Netflix werden aber keine Titel vergeben, sondern „himmelhohe Gehälter“, wie das Branchenblatt „Hollywood Reporter“ schrieb. Manager sollen 150.000 bis 400.000 Dollar verdienen, Direktoren bis zu 800.000 Dollar, und Vizepräsidenten erhalten leicht eine Million Dollar und mehr im Jahr.

Die Gehaltstransparenz unterstreicht den elitären Anspruch von Netflix. Danach soll jeder Manager jeden Mitarbeiter regelmäßig einem „Keeper-Test“ unterziehen: Wie sehr würde er oder sie für den Verbleib eines Untergebenen kämpfen? Und wenn nicht mit aller Kraft, warum? „Manche empfinden das als eine Kultur der Furcht“, sagte Barbie Brewer, eine ehemalige Talentchefin bei Netflix, die nach mehr als fünf Jahren 2017 das Unternehmen verließ. „Aber nirgends im Keeper-Test ist die Rede von Perfekt-Sein.“

Keine Frage, die Ansprüche sind hoch, genauso wie der Druck auf Netflix selbst. Der Konzern könne vor den Investoren nur weiterhin hohe Schulden rechtfertigen, solange er wachse, sagt Roger Entner von der Unternehmensberatung Recon Analytic. Allein letztes Quartal gewann die Plattform neun Millionen neue Netflix-Fans hinzu. Die neuen Technologien verschafften dem Netzwerk den „entscheidenden Vorsprung“, urteilt Entner. „Die Rivalen können das nicht mehr aufholen.“ Ein eindeutiges Urteil, aber stimmt das auch so?

Traditionelle Sender denken um

Was „Streaming“ heute bedeutet, erfuhr ZDF-Intendant Thomas Bellut am Beispiel seiner Kinder. Die studieren nämlich, und in ihren Wohngemeinschaften schimpft man über 17,50 Euro Rundfunkbeitrag für Papas Fernsehen. Ganz anders aber bei den Kosten für die Serienmaschine aus den USA, die jeder WG-Genosse sich leistet. Immerhin würden sie noch die hauseigene „Heute-Show“ über die ZDF-Plattform schauen.

Die Marktrevolution kommt an in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern, aber auch in den Zentralen ihrer privatwirtschaftlichen Konkurrenten. Das Problem: Gegen eine solche Strömung versagt die herkömmliche Abwehrkunst eines Apparats. Das ist nichts, was man mit einer Postwurfsendung oder Werbekampagne wegbekommt. Dafür sitzen die Kräfte der Veränderung zu tief. ZDF-Lenker Bellut, vorher Journalist und Programmdirektor, akzeptiert denn auch diese neue Art, Serien zu machen, die auf reine Netznutzung zielen: „Das war ein guter Weckruf.“

Die ARD arbeite intensiv an ihrer Aufstellung mit der eigenen Mediathek, erklärt Christine Strobl, Chefin der Produktionsfirma Degeto. Die wiederum brauche „eine eigene echte Programmplanung“, ganz so wie ein Sender also. „Wenn sich die Mediennutzung ändert, ändern wir uns mit“, sagt ARD-Vorsitzender Wilhelm.

Die Herausgeforderten sind all jene, die in den vergangenen Jahrzehnten die Medienkultur dominierten: die gebührenfinanzierten Anstalten genauso wie die kommerziellen Kombinate, die sich rund um RTL in Köln oder um Pro Sieben und Sat 1 in München gebildet haben. In dieser Lage halten es die Attackierten mit drei Strategien: kritisieren, kuscheln, kopieren.

Zu den Meckerern gehört Heike Hempel. Sie ist stellvertretende Programmdirektorin im ZDF. Ihre Selbstdefinition ist zugleich eine stille Absage an die Methode Netflix. „Im ZDF senden wir Originals seit 1963“, sagt sie. Man mache Fernsehen für alle und „nicht für eine, ich sage mal: Elite“. Netflix ist in dieser Sicht so etwas wie das Medium einer Minderheit, die sich selbst für das Ganze hält. Aus Mainzer Perspektive ist Netflix eine ernst zu nehmende Innovation, „aber auch ein Hype“, wie ein Manager sagt. Deren Macher wüssten eben, wie man sich Aufmerksamkeit verschafft.

Die Schar solcher Fundamentalkritiker ist angesichts der rapide steigenden Netflix-Abozahlen klein geworden. Rigorismus wird zusehends ersetzt durch Pragmatismus. Denn: Wo Netflix ist, sind Menschen und damit Marktpotenziale. Einer, der dies sehr gut begriffen hat, ist Carsten Schmidt, Deutschlandchef des Pay-TV-Anbieters Sky. Schmidt entschloss sich, sein durch Fußball geprägtes Unternehmen zu öffnen.

Die Zeit der Dogmen läuft aus

Dem dient eine neue Plattform namens „Sky Q“, auf der sich viele Inhalteanbieter tummeln, seit Ende 2018 auch Netflix. Zusammen mit Reed Hastings’ populärem Sortiment bietet man „Sky Entertainment“ für 19,99 Euro. Preisdumping plus US-Trendmarke sollen Abonnenten locken. Die Kooperation laufe gut an, gab Sky-Manager Schmidt rasch bekannt, das Suchwort „Netflix“ gehöre zu den drei am meisten genannten Begriffen bei Sky Q. Auch ARD oder das ZDF kooperieren mit den Amerikanern.

So finanzierte das Zweite Programm zusammen mit Netflix die populäre Serie „Bad Banks“. Im Bezahl-TV bot Netflix den Wirtschaftsstoff an, im deutschen Free-TV das ZDF. Dass die Zeit der Dogmen ausläuft, zeigte schon das Beispiel „Babylon Berlin“: Hier überließ die ARD dem Hauptpartner Sky die Erstausstrahlung und erzielte Monate später im Ersten Programm immer noch Topquoten. „Nach diesem Vorbild wird es auch gemeinsam Großes mit Netflix geben“, sagt der Manager eines ARD-Senders.

Bleibt noch die dritte Gruppe – die der Kopisten. Besonders auffallend agiert hier Max Conze, einst Chef der Hausgerätemarke Dyson, den sie in Hollywood den „vacuum cleaner guy“ nennen. Der Mann ist seit acht Monaten Chef der börsennotierten Pro Sieben Sat 1 Media SE und braucht eine Börsenstory. So will er die „führende deutsche Streamingplattform“ formen – sozusagen das Anti-Netflix. Die Basisversion seiner Wunschplattform soll gratis sein, exklusive und aktuelle Angebote sollen Geld kosten.

Mitte des Jahres will Conze endlich loslegen, der Termin wurde nach hinten verlegt. Zwei Hundertschaften werkeln daran, als ersten Partner für das hauseigene Angebot „7TV“ hat er den Discovery-Konzern gewonnen. Auch RTL, ARD und ZDF sollen bei diesem Abenteuer mitmachen, aber das erscheint derzeit regelrecht utopisch.

Als Partner der neuen deutschen Streaming-Plattform erwähnt Conze das Medienhaus Axel Springer, aber auch das ist wohl mehr PR als Programm. Bis auf eine Kooperation bei Nachrichten (N24/Welt) ist bislang nichts zu sehen. Ernsthafte Konkurrenz für Netflix wird wohl mehr aus Amerika kommen. Und dort braut sich einiges zusammen.

Apple steigt ins Streaming-Geschäft ein

Lange ignorierten die etablierten Medienkonzerne Netflix, sahen die Plattform als weitere Abspielstation ihrer Filme und Serien. Erst in diesem Jahr beispielsweise kann Disney seine zugkräftigen Marken Pixar, Marvel oder Lucas Films mit den Star-Wars-Filmen aus dem Angebot von Netflix herausholen. Die sollen künftig auf dem neuen Streamingangebot Disney + laufen, das in wenigen Wochen vorgestellt wird.

Die etablierten Anbieter reagierten mit einer beispiellosen Übernahmewelle auf den Streamingtrend. Disney kaufte das Medienkonglomerat von Rupert Murdoch, 21. Century Fox, für mehr als 52 Milliarden Dollar. Die Medienkonzerne CBS und Viacom sprechen derzeit über eine Fusion. Der Fernseh- und Mobilfunkkonzern AT & T übernahm für 85 Milliarden Dollar Time Warner, das Marken wie HBO oder CNN besitzt.

Dazu gibt es neue Anbieter wie Apple. Der Konzern will sich von der Abhängigkeit vom iPhone befreien. In US-Medien geistern Meldungen, dass Apple schon im April einen eigenen Streamingdienst starten könnte. Eine Milliarde will Apple demnach in Eigenproduktionen à la Netflix-„Originals“ stecken, 2022 könne die Summe auf 4,2 Milliarden steigen schätzt der Loup-Ventures-Analyst Gene Munster. Bei Steven Spielberg gab Apple bereits die Neuauflage von „Amazing Stories“ in Auftrag, die von 1985 bis 1987 lief. Auch die berühmte US-Moderatorin Oprah Winfrey unterzeichnete einen mehrjährigen Apple-Vertrag.

Amazon-Chef Jeff Bezos sucht ebenfalls die Nähe zu Hollywood. Der Allesverkäufer gab vergangenes Jahr fünf Milliarden Dollar für Eigenproduktionen seiner Plattform Amazon Prime aus, darunter das erste deutsche Amazon Original, eine deutsche Thriller-Fernsehserie mit Matthias Schweighöfer („You are Wanted“) und das Komödien-Format „Pastewka“.

Den Konkurrenzkampf mit Netflix spielt Christoph Schneider, Deutschlandchef von Amazon Prime Video herunter: „Der harte Kampf um Talent war immer schon da“, sagt er. „Nicht nur zwischen uns und Netflix, sondern auch zwischen den Free- oder Pay-TV-Anbietern und uns.“ Der Angriff von Disney, AT & T und anderen kümmere ihn nicht, sagt Netflix-Gründer Hastings.

Konsumenten schauten eine Milliarde Stunden pro Tag Video, behauptete er im Gespräch mit Analysten vor wenigen Wochen, und Disney käme vielleicht in ein paar Jahren auf 50 Millionen Stunden am Tag.

Das sei aber „immer noch weit von der Milliarde entfernt“. Auf wen die restlichen 950 Millionen Stunden entfallen sollen, danach muss man Hastings nicht fragen: Natürlich Netflix.