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Munich-Re-Chef: Pandemien könnten häufiger werden – „mit deutlich gefährlicheren Erregern“

Der Chef des Rückversicherers spricht über die mühsame Corona-Schadensaufnahme, die teuren Folgen des Kampfes gegen das Virus und Risiken staatlicher Rettungsprogramme.

Folge des Klimawandels: Das Eis in Grönland schmilzt immer schneller. Foto: dpa
Folge des Klimawandels: Das Eis in Grönland schmilzt immer schneller. Foto: dpa

Als Chef eines der größten Rückversicherer der Welt muss Joachim Wenning globale Gefahren einschätzen. Da ging es bislang meist um Erdbeben, Dürrekatastrophen, Wirbelstürme. Doch selbst sein Milliardenkonzern Munich Re konnte angesichts von Corona teils nur kapitulieren: „Die wirtschaftlichen Kosten der Lockdowns im Frühjahr hatten wir nicht auf dem Zettel – einfach weil es solche Lockdowns bislang ja nie gab.“

Man müsse nun ohnehin „aufpassen, das System nicht zu überdehnen. Es lassen sich nicht beliebig oft Lockdowns verkünden“, warnt Wenning. „Sonst könnte eben genau das dadurch provozierte Leid größer sein als die Sicherheit, die ein Lockdown verspricht.“

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Von früheren „pandemischen Vorfällen“ wie der Spanischen Grippe sei man aktuell „sehr, sehr weit entfernt. Was seine Letalität angeht, ist das Coronavirus vergleichsweise milde“, so Wenning. Deshalb dürfe man „bei all dem menschlichen Leid, das Covid-19 anrichtet, nicht Überlegungen ausblenden, welche Folgen auch wachsende Arbeitslosigkeit und kollabierende Sozialsysteme haben“. Mit den Kosten muss sich am Ende doch immer auch sein Konzern beschäftigen.

Wenning rechnet nicht so schnell mit einem Impfstoff und glaubt eher an „die baldige Entwicklung eines Medikaments, das die schwersten Verläufe einer Corona-Erkrankung lindern oder verhindern kann. Damit könnte der Betroffene nach ein bis zwei Wochen wieder auf den Beinen sein.“

Dennoch bleibe das Virus für die gesamte Versicherungsbranche im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar, etwa in der Frage, „wie einige Sachverhalte in der Sach- und Haftpflichtversicherung am Ende rechtlich gewürdigt werden“. Er erwarte da zwar keine Prozesslawine. „Aber das eine oder andere Schiedsgerichtsverfahren würde ich nicht ausschließen. Es geht einfach um zu viel Geld, da ist manchmal das Bestreben zu beobachten, nichts unversucht zu lassen.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Wenning, hat das Gefahren-Orakel der Munich Re das Bedrohungspotenzial durch Corona unterschätzt?
Grosso modo haben wir die Pandemie frühzeitig richtig eingeordnet – etwa was Lebens- und Gesundheitsversicherungen angeht oder die anfänglichen Schocks an den Kapitalmärkten. Trotzdem gibt es immer wieder neue Erkenntnisse, die auch uns umdenken lassen.

Zum Beispiel?
Im Fall der Event-Ausfallversicherungen haben wir nicht erwartet, dass die gemeldeten Schäden auf die jetzige Größenordnung anwachsen könnten. Auch die wirtschaftlichen Kosten der Lockdowns im Frühjahr hatten wir nicht auf dem Zettel – einfach weil es solche Lockdowns bislang ja nie gab.

Wo liegen die Unsicherheiten?
Einerseits weiß niemand genau, wie lange sich das Virus wie gefährlich weiter ausbreiten wird. Davon hängen die Schäden in der Lebensversicherung ab. Andererseits ist noch nicht klar, wie einige Sachverhalte in der Sach- und Haftpflichtversicherung am Ende rechtlich gewürdigt werden. Das macht zuverlässige Schadenschätzungen derzeit noch unmöglich.

Rechnen Sie mit einer Prozesslawine, die auf Ihre Branche zurollt?
Nein, eine Lawine erwarte ich nicht. Aber das eine oder andere Schiedsgerichtsverfahren würde ich nicht ausschließen. Es geht einfach um zu viel Geld, da ist manchmal das Bestreben zu beobachten, nichts unversucht zu lassen. Unter Profis ist das nichts Ungewöhnliches.

Welche Arten von Versicherungen trifft und betrifft Corona eigentlich besonders?
Stark in Anspruch genommen werden Veranstaltungsausfallversicherungen, bei denen wir seit Jahren einen recht hohen Marktanteil haben und jetzt hohe Schäden verzeichnen. Potenziell naturgemäß die Lebensversicherungen. Wir sind aber von unerwartet hohen Opferzahlen weit entfernt. Stark betroffen sind offensichtlich Reiseversicherungen, ebenso Betriebsunterbrechungen, soweit gedeckt.

Wie gefährlich schätzen Sie Corona nach einem halben Jahr ein?
Die Zahl der Toten und Erkrankten beschäftigt mich persönlich sehr. Objektiv sind wir von anderen pandemischen Vorfällen wie etwa der Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts sehr, sehr weit entfernt. Was seine Letalität angeht, ist das Coronavirus vergleichsweise milde. Andererseits haben Globalisierung und Integration der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten derart zugenommen, dass schnelle Kettenreaktionen heute viel wahrscheinlicher sind als vor 50 Jahren.

Das bedeutet?
Dass solche Pandemien künftig häufiger auftreten können – auch mit deutlich gefährlicheren Erregern.

Versicherungsmathematiker sind nüchterne Rechner, die auch Menschenleben einpreisen müssen: Ist unser Kampf gegen Corona womöglich kostspieliger als das Virus selbst? Hat die Weltgemeinschaft überreagiert?
Leben schützen zu wollen kann niemandem ernsthaft vorgeworfen werden. Dabei muss man sich Sicherheitsmaßnahmen immer leisten können. Dass die entwickelten Industriestaaten zum Schutz ihrer Bevölkerung zunächst ihre Reserven mobilisiert haben, war für mich eine Selbstverständlichkeit. Das würden Eltern ja auch für ihre Kinder tun. Aber ja: Man muss aufpassen, das System nicht zu überdehnen. Es lassen sich nicht beliebig oft Lockdowns verkünden. Sonst könnte eben genau das dadurch provozierte Leid größer sein als die Sicherheit, die ein Lockdown verspricht.

Viele Fachleute warnen davor, dass unser Kampf gegen Corona samt der Lockdowns global gesehen mehr Opfer fordern wird als das Virus selbst. Was ist Ihre Meinung?
Salopp gesagt: Ja, es gilt aufzupassen, dass die Nebenwirkungen der Medizin uns nicht zu stark zusetzen. Bei all dem menschlichen Leid, das Covid-19 anrichtet, darf man nicht Überlegungen ausblenden, welche Folgen auch wachsende Arbeitslosigkeit und kollabierende Sozialsysteme haben.

Vielen afrikanischen Staaten droht mehr denn je der Bankrott. Wer wird am Ende den Preis der Pandemie zahlen?
Ökonomisch gesehen zahlen heute die wohlhabenden Länder den weitaus höchsten Preis, denn dort ist eine um ein Prozent geringere Wirtschaftsleistung absolut gesehen um ein Vielfaches bedeutsamer als anderswo. Anders fällt die Rechnung aus, wenn es um Menschenleben geht: Wir können Europas Anti-Corona-Maßnahmen nicht einfach auf Entwicklungsländer übertragen, die sich die gleichen Strategien schlicht nicht leisten können. Die Folge dort könnten höhere Opferzahlen sein. Aber auch die wirtschaftlichen Folgen werden lange spürbar bleiben.

Von westlichen Notenbanken und Regierungen wurden als Hilfen nun Unmengen Geld zur Verfügung gestellt. Was davon ist vielleicht gar nicht so sinnvoll wie gedacht?
Die Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik ist immerhin eine rasche und global konzertierte Antwort auf das Virus. Das Problem der Geldpolitik ist: Kommt das viele Geld wirklich bei den Bedürftigen an? Die Herausforderung der Fiskalpolitik: Sie muss idealerweise in die Zukunft investieren, statt sich an der Not überkommener Geschäftsmodelle zu orientieren. Aber beide Instrumente sind in der Krise eindeutig stimulierend, und aus deutscher Sicht können wir meines Erachtens zufrieden sein.

Braucht es jetzt den starken Staat? Oder droht eine Welt voller Zombie-Firmen, die nur mit viel Geld am Leben gehalten werden?
In einer solchen Krise braucht es immer den starken Staat … so wie im Unternehmen dann auch die führende Hand eines starken Managements gefragt ist. Die Menschen suchen Orientierung.

Was wird Corona kosten?
Menschenleben. Und unsere Ersparnisse, wie sich an der wachsenden Staatsschuldenlast ablesen lässt. Es geht um viel Geld.

Bei Ihnen wurden im ersten Halbjahr bereits Corona-Schäden in Höhe von mehr als 1,5 Milliarden Euro gemeldet. Wie hoch wird die Summe Ende des Jahres sein?
Das wissen wir nicht. Und deshalb sprechen wir auch nicht darüber.

Immerhin ist die Munich Re bislang besser durch die Coronakrise gekommen als mancher Konkurrent. Woran liegt’s?
Zum einen waren wir bis zu Corona auf einem guten Wachstumspfad. Als die Pandemie ausbrach, traf uns das natürlich auf der Kapitalanlageseite. Aber wir waren gegen den Aktien-Crash sehr gut geschützt durch Absicherungsgeschäfte. Bei der Schadenssituation ist es dagegen noch zu früh für eine Aussage.

Klingt, als ob das dicke Ende erst noch kommen könnte …
Nein, gar nicht. Die Angst, dass etwas Grausames über uns Menschen kommt, war beim Ausbruch der Pandemie im Frühjahr allerorten greifbar. Das ist dem nüchternen Blick gewichen, dass alles jedenfalls nicht so dramatisch wird wie teilweise befürchtet.

Sie haben Ihre Prognose für 2020 dennoch zurückgezogen. Wann werden Sie einen neuen Ausblick wagen?
Wir können sicher nicht bis nach Weihnachten warten. Im Herbst müssen wir vielleicht keine Prognose, aber zumindest eine Aussage liefern, wo wir zum Jahresende landen werden. Heute ist es dafür zu früh.

Ist es dann nicht etwas vorschnell, schon jetzt zu versprechen, dass die Dividende nicht abschmilzt?
Es ist seit Jahrzehnten unsere Ambition und ausnahmslos gelebte Praxis, dass unsere Dividende gleich bleibt oder steigt. So wird es – Stand heute – auch im nächsten Jahr bleiben. Unsere wirtschaftliche Substanz ist so groß, dass uns die Volatilitäten von Jahr zu Jahr nicht Sorgen bereiten.

Trotzdem fordert Ihre Branche die Hilfe des Staates bei einem breit angelegten Pandemie-Fonds, an dem sich auch die Regierungen in Europa beteiligen sollen. Ist das Projekt realistisch?
Wir Versicherer wollen mitwirken, den Schutz vor allem für kleine und mittlere Unternehmen bei der nächsten Pandemie schneller und von Anfang an berechenbarer und gegebenenfalls umfänglicher zur Verfügung zu stellen. Dazu kann und will die Versicherungswirtschaft unter bestimmten Bedingungen ihren Teil beitragen. Die größte Last, so wie heute auch, müssen aber die Staaten tragen. Entsprechende Gespräche laufen auf Verbandsebene in den einzelnen Ländern. Ich glaube, die Konzepte, die allesamt recht ähnlich sind, werden überall verstanden. Es darf andererseits niemanden wundern, dass derjenige, dem am meisten abverlangt wird – der Staat –, sich das genau überlegt und sich Zeit nimmt.

Viele Hoffnungen ruhen auf der Entwicklung eines Impfstoffes. Was erwartet sich die Munich Re?
Am wahrscheinlichsten erscheint die baldige Entwicklung eines Medikaments, das die schwersten Verläufe einer Corona-Erkrankung lindern oder verhindern kann. Damit könnte der Betroffene nach ein bis zwei Wochen wieder auf den Beinen sein. So ein Medikament müsste auch nur den infizierten Menschen verabreicht werden.

Das macht Ihnen mehr Hoffnung als ein Impfstoff?
Es wird aus meiner Sicht jedenfalls unterschätzt, wie viel Gutes ein Medikament brächte. Erst danach käme der Impfstoff. Die Schwierigkeit dabei ist, dass Patienten mit einem leichten Verlauf keine Antikörper bilden. Bei vielen Fällen mit leichtem Verlauf lässt sich nicht sagen, ob ein Impfstoff wirksam ist oder nicht. Aus diesem Grund dauert es vielleicht noch etwas mit dem Impfstoff.

Manche Experten halten den Klimawandel für die größere Katastrophe als Corona. Werden die Präsidentschaftswahlen in den USA im November auch eine Wahl über die Klimapolitik?
Nur bei Joe Biden besteht jedenfalls die Chance, dass der Klimawandel in Washington auch angegangen wird.

Ist das eine Wahlempfehlung?
Wenn Sie Klimaschützer sind, ja! Hier ist die Haltung von Donald Trump leider schädlich.

Können wir den Klimawandel eigentlich noch aufhalten, oder sollten wir uns darauf fokussieren, mit den Folgen klarzukommen?
Beides stimmt. Der Klimawandel kann noch begrenzt, wenn auch nicht verhindert werden. Selbst bei einem Temperaturanstieg um 1,5 bis zwei Grad wird es künftig heftigere Wetterphänomene geben. Es geht also um beides: Reduzierung des klimaschädlichen Verhaltens und gleichzeitig Vorbeugung, etwa in Flussnähe, Überschwemmungsgebieten oder extremen Sturmgebieten.

Für Ihre Branche haben all die Krisen auch etwas Gutes. Die Tarife für die Rückversicherung ziehen nach Jahren wieder an. Bringt Corona die große Preiswende?
Dieses Jahr haben wir den höchsten Ratenanstieg seit über einer Dekade gesehen. Das ist ein Fakt. Es ist aber auch ein Fakt, dass die Zuwächse 2005 nach der schweren Hurrikan-Saison noch stärker ausfielen. Ich erwarte aber, dass wir 2021 und 2022 weiter viele Schäden durch Naturkatastrophen sehen werden, weshalb die Prämien in der Rückversicherung kaum sinken werden.

Sie sprachen zuletzt offen über einen möglichen Unternehmenszukauf. Haben Sie etwas konkret im Auge, vielleicht ein weiteres Insurtech?
Wenn ein attraktives Angebot auf den Tisch kommt, werden wir es uns anschauen. Aber ehrlich gesagt, ist durch Covid-19 der Spielraum operativ nicht größer geworden. Es ist ja kaum möglich, jetzt eine Firma zu übernehmen, die man vor Ort genau prüfen und danach integrieren kann. Wir haben also weiter Übernahme-Appetit, aber konkret ist eine Akquisition derzeit eher unwahrscheinlich.

Ende des Jahres wollen Sie eine neue Strategie vorstellen, an deren Arbeiten bereits im Frühjahr begonnen wurde. Hat Corona die ursprünglichen Pläne über den Haufen geworfen?
Nein, wir halten Wort. Am 8. Dezember werden wir unsere neue Mittelfriststrategie den Investoren vorstellen. Leichter ist es allerdings nicht geworden, einen Plan für die Zukunft zu entwerfen, denn niemand kann mit Gewissheit sagen, wie die Corona-Langfristeffekte genau ausfallen werden. Aber damit müssen eben auch wir leben.

Corona könnte dem Homeoffice in Deutschland zum Durchbruch verhelfen. Glauben Sie, dass auch die Munich-Re-Belegschaft künftig anders arbeiten wird?
Davon gehe ich fest aus. Im März und April haben wir zu fast 100 Prozent von zu Hause gearbeitet, noch immer sind mehr als zwei Drittel der Mitarbeiter am heimischen Arbeitsplatz. Auch nach Corona wird ein Teil der Belegschaft flexibler mal von daheim und mal im Büro arbeiten. Die persönlichen Arbeitsplätze und die gesamte Bürowelt werden sich entsprechend anpassen. Für uns ist das keine Einsparmaßnahme, sondern eine Frage der Weiterentwicklung unserer Arbeitskultur. Ich selbst gehe mit gutem Beispiel voran und arbeite tageweise immer wieder auch mal aus meinem Homeoffice – obwohl ich mich dazu manchmal zwingen muss. Aber ich will unterstreichen, dass Arbeit von zu Hause gleichwertig sein kann.

Herr Wenning, vielen Dank für das Interview.

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