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Angela Merkels Nachfolgestrategie ist krachend gescheitert – was nun, CDU?

Angela Merkel hinterlässt ihrer Partei ein schweres Erbe. Wer ist in der Lage, die CDU zu alter Stärke zurückzuführen? Innenansichten einer aufgewühlten Partei.

  • Angela Merkel ist mit dem Versuch gescheitert, ihre Wunschnachfolgerin erst an der CDU-Spitze und dann im Kanzleramt zu installieren.

  • Nach dem Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer stellt sich nun die Frage: Mit welchem Kopf und mit welchen Themen kann die Volkspartei zur alten Stärke zurückkehren?

  • Die Noch-Parteivorsitzende will sich nun auf ihr Amt als Verteidigungsministerin konzentrieren. Was bedeutet ihr Rückzug für die Bundeswehr?

  • Der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger spricht im Interview mit dem Handelsblatt über die Fehler der scheidenden CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer und über die Chancen für ihre möglichen Nachfolger.

  • Verfolgen Sie die aktuellsten Entwicklungen in unserem Newsblog.

Eine Minute reichte, um der Bundeskanzlerin klarzumachen: Ihr politisches Erbe ist bedroht. Am Montagvormittag, kurz vor dem Beginn der Präsidiumssitzung der CDU im Berliner Konrad-Adenauer-Haus bat Annegret Kramp-Karrenbauer Angela Merkel vor die Tür.

Die Vorsitzende unterrichtete die Kanzlerin über ihren Rückzug. Das dauerte nicht länger als 60 Sekunden, erinnern sich Teilnehmer. Dann kamen die beiden mächtigsten Frauen der CDU in die Runde zurück, und Kramp-Karrenbauer setzte auch die übrigen Parteigranden über ihren überraschenden Beschluss in Kenntnis.

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Wenige Minuten später vibrierten in ganz Deutschland die Smartphones. Gleich ein halbes Dutzend deutsche Medien, darunter auch das Handelsblatt, verkündete noch vor dem Ende der Präsidiumssitzung das Ende von Kramp-Karrenbauers abgesagten Kanzlerambitionen und ihren bevorstehenden Rücktritt vom Parteivorsitz.

Es war der in dieser Konsequenz schockierende Endpunkt einer Entwicklung, die sich über Monate hinweg angebahnt hatte. Den Anlass lieferten Ereignisse, die sich in der vergangenen Woche rund 250 Kilometer südwestlich des Konrad-Adenauer-Hauses zugetragen hatten.

Im Thüringer Landtag zu Erfurt ließ sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen – mit den Stimmen von CDU und AfD. Ein klarer Verstoß gegen einen Parteitagsbeschluss der CDU, der jede Zusammenarbeit mit der AfD auf Bundes- und Landesebene verbietet.

Der Versuch Kramp-Karrenbauers, die widerspenstige Thüringer CDU-Fraktion wieder auf Linie zu bringen, offenbarte die fortgeschrittene Machterosion der Vorsitzenden. Ihre Rücktrittsankündigung vom Montag war folgerichtig – und stürzt die CDU in ihre tiefste Krise seit der Parteispendenaffäre von 1999.

Mehr noch: Es verschieben sich wesentliche Koordinaten der Bundespolitik. Angela Merkel ist mit dem Versuch gescheitert, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer erst an der Parteispitze und dann ab dem kommenden Jahr auch im Kanzleramt zu installieren.

Wie ein geschwächtes, widerborstiges Tier wehrt sich die CDU gegen die Merkel‘sche Medizin des Immer-weiter-so. Der Absturz von CDU und FDP in den ersten Umfragen nach dem Thüringendebakel lässt den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres plötzlich wieder offen erscheinen.

AKK will im Amt bleiben, bis ein Nachfolger für Parteispitze und Kanzlerkandidatur gefunden ist. Ein Mann wird es sein, so viel ist klar, Frauen sind für diesen Posten derzeit nicht in Sicht. Da ist einerseits Armin Laschet, der derzeitige nordrhein-westfälische Ministerpräsident, der Merkels Linksverschiebung der Partei stets mitgetragen hat: Mindestlohn, Frauenquote in Aufsichtsräten, Atomausstieg, Schwulen- und Lesbenehe, Grenzöffnung für Flüchtlinge.

Eher Außenseiterchancen werden Jens Spahn eingeräumt, dem ehrgeizigen Gesundheitsminister. Oder doch lieber zurück zu den Wurzeln mit Friedrich Merz, dem von Merkel ins politische Exil vertriebenen ehemaligen Fraktionsvorsitzenden? Merz will mit einem klaren konservativen und wirtschaftsliberalen Profil den Stimmenanteil der AfD halbieren. „Ich halte alle drei für kanzlerfähig“, sagt CDU-Altmeister Günther Oettinger im Interview mit dem Handelsblatt.

Wann der Nachfolger gekürt wird, ob bereits in einigen Wochen oder erst auf dem regulären Parteitag im Dezember – völlig offen. Klar ist nur: Der Kampf um Merkels Erbe wird zur schicksalhaften Richtungsentscheidung für die inoffizielle deutsche Staatspartei CDU, die in den 71 Jahren der Bundesrepublik in 51 Jahren den Kanzler gestellt hat. „Wir zerlegen uns gerade“, soll Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schon während der Sitzung des Bundesvorstands am Montag gewarnt haben.

Drängender denn je stellt sich die Frage: Quo vadis, CDU? Eine Frage, die den Politikwissenschaftler und Parteienforscher Jürgen Falter bereits am Montagvormittag per Telefon ereilte. Ein Reporter der „Bild“ wollte wissen, wie Falter den Rücktritt von Kramp-Karrenbauer einschätze. Die entsprechende Eilmeldung hatte Falter zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gesehen.

Dass die Analyse mittlerweile zeitgleich mit der Nachricht gefordert ist, mag als Symbol für die Atemlosigkeit der politischen Kommunikation in Deutschland gelten. Falter war trotzdem sprechfähig. „Der Zeitpunkt des Rücktritts hat mich zwar überrascht, aber nicht die Tatsache an sich“, sagt der Forschungsprofessor an der Universität Mainz.

„Kramp-Karrenbauer fehlte von Anfang an der Rückhalt in der Partei, ihr kleiner saarländischer Landesverband reicht als Hausmacht nicht aus.“ Das hätte sie vielleicht ausgleichen können, indem sie bei der Bevölkerung punktet. Doch gehöre sie inzwischen „zu den am wenigsten beliebten Politikern des Landes“.

Als Angela Merkel Kramp-Karrenbauer zu ihrer Wunschnachfolgerin erhob, hat die Kanzlerin in AKK offenbar ein jüngeres Abbild ihrer selbst gesehen: Eine unprätentiöse Frau ohne große Machtbasis, die sich dennoch mit Beharrlichkeit und strategischem Weitblick gegen das mächtige Männerbollwerk in der CDU durchsetzen wird.

Doch spätestens seit dem verpatzten Management der Thüringenkrise ist klar: Aus Merkels Mädchen wird keine Kanzlerin mehr. Kramp-Karrenbauer wird sich in Zukunft auf ihr Amt als Verteidigungsministerin konzentrieren.

Mit ihrem angekündigten Rücktritt hinterlässt sie eine Partei, die sich irgendwie auf die Zeit nach Merkel einstellen muss – aber auch nicht einfach an der noch immer mächtigen und beim Volk beliebten Kanzlerin vorbeiagieren kann. Laut einer exklusiven Forsa-Umfrage für das Handelsblatt würde fast ein Viertel der CDU-Anhänger der Partei nicht mehr seine Stimme geben, wenn Merkel nicht mehr Kanzlerin ist.

Ein Rücktritt Merkels als Bundeskanzlerin zugunsten des neuen Parteivorsitzenden könnte die Lösung sein. Das würde dessen Chancen deutlich verbessern, nach der Bundestagswahl 2021 das Kanzleramt für sich zu erobern. Aber die SPD hat an einem Kanzlerwechsel bei laufendem Betrieb kein Interesse.

„Die Große Koalition ist mit der Person der Bundeskanzlerin verknüpft“, sagt der niedersächsische SPD-Ministerpräsident Stephan Weil dem Handelsblatt. „Die SPD wird einen Wechsel an der Regierungsspitze sicher nicht mitmachen.“

Die Alternative wären Neuwahlen. Doch laut Umfragen müssten dabei SPD wie Union mit deutlichen Verlusten rechnen. Solange sich daran nichts ändert, gilt: Wer auch immer den CDU-Vorsitz für sich erobert, wird gleich zwei Probleme erben, die die derzeitige Führungskrise ausgelöst haben. Zum einen muss er es schaffen, neben Merkel als Reservekanzler an Profil zu gewinnen.

Zum anderen muss er einen angemessenen Umgang mit Linkspartei und AfD finden. Die bisherige Politik der Äquidistanz zu beiden Gruppen beraubt die CDU in den ostdeutschen Ländern, wo AfD und Linkspartei besonders stark sind, nahezu jeder Machoption. Als einziger Ausweg bleiben extrabreite Kenia-Koalitionen aus SPD, CDU und Grünen – so wie sie derzeit in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen regieren. In Thüringen hat noch nicht einmal mehr Kenia eine absolute Mehrheit.

Abgrenzen oder umarmen?

In Weitmar, einem Bezirk südlich der Bochumer Innenstadt, hat die CDU am Dienstagabend zum Grünkohlessen geladen. Gut 40 Mitglieder sind in den Gasthof „Zur alten Post“ gekommen, im Festsaal beige Tischdecken, im Keller die Bundeskegelbahn. Eigentlich wollten sie hier wie jedes Jahr nur gemütlich zusammensitzen. Wenn da nicht Thüringen wäre – und die Rücktrittsankündigung der Bundesvorsitzenden.

Die vollen Köpi-Gläser stehen schon auf dem Tisch, da ergreift Christian Haardt das Wort. „Es gibt für uns eine klare Brandmauer nach links, und es gibt für uns eine klare Brandmauer nach rechts“, sagt der Chef der Bochumer Kreis-CDU. Das gelte für den Bund, für NRW, auch kommunal. „Linke und AfD sind für uns tabu.“ Alle im Saal applaudieren. Für ihn sei das, was in Thüringen passiert ist, „eine absolute Katastrophe“.

Was Haardt da so emotional formuliert, ist im Wesentlichen auch die offizielle Position der Bundes-CDU: Keine Zusammenarbeit mit AfD und Linken auf Bundes- und Landesebene. Dass sich der Beschluss nicht auch auf kommunale Gremien erstreckt, liegt vor allem daran, dass jede Partei überfordert wäre, das Abstimmungsverhalten ihrer Mandatsträger bis in den letzten Gemeinderat hinein nachvollziehen zu wollen.

Aber ist die Haltung der Union noch zeitgemäß? Parteienforscher Falter: „Inhaltlich haben sich sowohl Linkspartei als auch AfD in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts bewegt. Die Linkspartei hat sich sozialdemokratisiert, der Einfluss des marxistischen und kommunistischen Flügels ist gesunken.“ In der AfD wiederum, die ursprünglich als liberal-konservative Anti-Euro-Partei gestartet war, habe der Einfluss des völkisch-nationalen Flügels immer weiter zugenommen.

Falter: „Zieht man dann noch in Betracht, dass auch die CDU unter Merkel deutlich nach links gerückt ist, gibt es inhaltlich heute zumindest deutlich weniger Rechtfertigung als früher, warum man jede Kooperation mit der Linkspartei zwingend ausschließen muss.“

Zumal die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag durchaus einen hohen inhaltlichen Preis dafür hätte verlangen können, wenn sie dem bisherigen linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow von der Linkspartei durch eine Stimmenthaltung im dritten Wahlgang zur nötigen einfachen Mehrheit verholfen hätte.

So sehen es auch die Bundesbürger. Während drei Viertel der Deutschen (77 Prozent) der CDU von jedweder direkten oder indirekten Zusammenarbeit mit der AfD abraten, ergibt sich mit Blick auf die Linkspartei ein anderes Meinungsbild. Nur 28 Prozent aller Bundesbürger halten es für richtig, dass die CDU weiterhin jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausschließt. Rund zwei Drittel (66 Prozent) meinen, die CDU sollte – vor allem in den ostdeutschen Ländern – Ausnahmen von diesem Diktum machen.

Doch so einfach ist es nicht für die CDU. Große Gefühle und historische Verletzungen spielen bei der Abgrenzung zur Linken eine wichtige Rolle, vor allem im Osten der Republik: Die Linkspartei, Rechtsnachfolger der DDR-Staatspartei SED, gilt vielen in der CDU noch immer als der Vertreter des einstigen kommunistischen Unrechtsregimes.

Dass sich die West-CDU nach der Wende bereitwillig mit der ebenfalls kommunistischen CDU der DDR zusammenschloss, hat diese Animositäten eher noch verstärkt. Galt doch vielen DDR-Bürgern die Mitgliedschaft in der angepassten Ost-CDU durchaus als kleinstmöglicher Akt des Widerstands, nach dem Motto: Wenn ich schon irgendwo eintreten muss, damit meine Kinder einen Studienplatz kriegen, dann wenigstens nicht in die SED.

Umgekehrt gibt es zwischen AfD und CDU eine größere emotionale Nähe, als es die Parteispitze wahrhaben will. Viele AfD-Positionen, etwa in der Familien- oder Zuwanderungspolitik, ähneln dem, was die Union vor der Ära Merkel noch selbst vertreten hatte. Viele Mandatsträger der AfD waren früher in der CDU. Man kennt sich oft, und bisweilen schätzt man sich sogar.

Und so stimmten dann beispielsweise im Magdeburger Landtag 2017 weite Teile der CDU-Abgeordneten für eine von der AfD beantragte Enquete-Kommission zum Linksextremismus in dem ostdeutschen Bundesland. Rund ein Drittel der CDU-Abgeordneten im Landtag von Sachsen-Anhalt, schätzt man in Magdeburger Koalitionskreisen, würde das ungeliebte Kenia-Bündnis gern gegen eines mit der AfD eintauschen.

Gleichzeitig drängen manche CDU-Politiker im Westen eher auf eine Öffnung gegenüber der Linken. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther kann sich zum Beispiel durchaus eine Wahl des Linkspartei-Manns Bodo Ramelow in Thüringen vorstellen.

Parteienforscher Falter hält es für falsch, die Frage des Verhältnisses zwischen CDU und AfD einerseits und Linkspartei andererseits moralisch aufzuladen: „Moral ist in der Politik in erster Linie Mittel der Machtgewinnung und des Machterhalts.“ Er plädiert dafür, der AfD „die Möhre der Machtoption“ vor die Nase zu halten und die Zusammenarbeit nur so lange auszuschließen, wie sich die Partei nicht vom völkisch-nationalen Flügel um Bernd Höcke trenne.

Die schwierige Ehe mit Merkel

Günther Oettinger, der frühere CDU-Ministerpräsident aus Baden-Württemberg und aus dem Amt geschiedene EU-Kommissar, beklagt im Interview mit dem Handelsblatt, dass sich die CDU-Vorsitzende nicht früher und eindeutiger in der Thüringenfrage positioniert hat. „Es war der Fehler von Frau Kramp-Karrenbauer, dass sie nicht vor Angela Merkel in gleicher Weise Klartext gesprochen hat“, sagte Oettinger.

Vom Staatsbesuch in Südafrika aus hatte Merkel apodiktisch von einem „unverzeihlichen Vorgang“ gesprochen, der sofort rückgängig gemacht werden müsste. Manche fragen sich, ob sie mit diesen Sätzen absichtlich die Handlungsoptionen von Kramp-Karrenbauer beschnitt.

Das Verhältnis zwischen der Vorsitzenden und der Kanzlerin gilt seit Monaten als ab- bis unterkühlt. Die Liste der Schnitzer der CDU-Chefin wurde immer länger, das Vertrauen der Kanzlerin in die Fähigkeiten ihrer einstigen Wunschnachfolgerin schrumpfte in demselben Ausmaß.

Als der Youtuber mit dem Künstlernamen Rezo ein meinungs- und faktenstarkes Video mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ ins Netz stellte, trat Kramp-Karrenbauer eine unglückliche Debatte los, die in der Öffentlichkeit als Ruf nach Internetzensur wahrgenommen wurde. Sie verhagelte damit die heiße Wahlkampfphase der Union zur Europawahl.

Hinterher erklärte die Kanzlerin, die sich aus dem Wahlkampf weitgehend herausgehalten hatte, süffisant: Das Wichtigste sei, „dass man erst mal offen darauf reagiert und nicht gleich abwehrt und sagt, ist alles nichts“. Ein von Kramp-Karrenbauer geplantes „Werkstattgespräch“ zur Migration tat wiederum Merkel als überflüssig ab. Diese Debatte sei doch nun wirklich abgeschlossen, hieß es im Umfeld der Kanzlerin.

In der CDU sind sich heute noch viele unsicher, ob das Angebot Merkels an Kramp-Karrenbauer, als Verteidigungsministerin in die Bundesregierung einzutreten, wirklich als Rettungsanker gemeint war. Als Versuch, der Frau ohne Hausmacht ein bisschen mehr politisches Gewicht zu verleihen. Oder doch eher als überharte Bewährungsprobe. Schließlich hat das militärische Mangelverwaltungsministerium schon viele Spitzenpolitiker kleingekriegt. Groß gemacht hat es noch keinen.

Nun könnte der Ministerposten schon bald das letzte politische Amt sein, das Kramp-Karrenbauer noch bleibt. Die scheidende Parteivorsitzende versuchte am Montag in einer Pressekonferenz, den Eindruck zu verbreiten, es werde ein geordnetes Verfahren geben.

„Ich werde so lange Parteivorsitzende bleiben, bis die Kanzlerkandidatur geklärt ist.“ Im Sommer soll die Frage entschieden werden. Später soll dann ein Parteitag den Kandidaten offiziell wählen. Wann genau, ließ Kramp-Karrenbauer offen. Bisher ist der Parteitag für Anfang Dezember in Stuttgart geplant.

Einige einflussreiche CDU-Politiker wollen an dem Zeitplan festhalten. So soll Kanzlerin Merkel schon in der Vorstandssitzung dafür geworben haben, sich bei der Kandidatenfrage „nicht treiben“ zu lassen. Merkels Interesse ist klar: Sie will, dass die Große Koalition bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Herbst 2021 durchhält – und sie so lange im Kanzleramt regieren kann. Aber es gibt durchaus weitere Stimmen, die für einen ruhigen Prozess plädieren.

Derzeit arbeitet die Partei an einem neuen Grundsatzprogramm, das auf dem Parteitag Anfang Dezember beschlossen werden soll. „Das ist jetzt auch eine Chance“, sagte die stellvertretende CDU-Vorsitzende Silvia Breher dem Handelsblatt. „Wir können uns mit der Arbeit am Grundsatzprogramm inhaltlich aufstellen, bevor Personalentscheidungen fallen.“

Und Kramp-Karrenbauer könne den Prozess der Kandidatensuche nun „frei begleiten“. Die CDU-Vize weiß jedoch auch, dass ein solch langer Zeitraum große Risiken birgt: „Allerdings braucht es dazu von allen Beteiligten eine gewisse Disziplin. Monatelange Personaldebatten kann die CDU nicht gebrauchen.“

Aus dem Parteivorstand kommen bereits Warnungen, dass man ein derart langes Führungsvakuum unmöglich aushalten könne. „Ich glaube nicht, dass wir so lange warten, sondern wir werden das schneller entscheiden“, sagte etwa der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier.

Noch vor der Sommerpause, also spätestens im Juni, müsse eine Entscheidung fallen, hieß es in Parteikreisen. Als abschreckendes Beispiel wird in der Union auf die SPD verwiesen, die sich auf der Suche nach einer neuen Parteispitze fast das gesamte vergangene Jahr mit sich selbst beschäftigte.

Vor allem die CSU macht Druck. In Bayern stehen Mitte März Kommunalwahlen an. Die CSU-Spitze will im Wahlkampf nicht durch Personaldiskussionen aus Berlin belastet werden. Der Druck zeigt Wirkung. Kramp-Karrenbauer und Söder würden nun schnell über das weitere Vorgehen beraten, so die Erwartung von Spitzenpolitikern der Union.

Möglicherweise könnten sich die beiden bereits am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende treffen, hieß es. Zudem will Kramp-Karrenbauer bereits in der kommenden Woche mit den drei potenziellen Kandidaten Laschet, Spahn und Merz Gespräche führen.

Retter dringend gesucht

Merz, so erfuhr das Handelsblatt aus seinem Umfeld, sei entschlossen zu kandidieren, wisse die Parteibasis hinter sich und fühle sich durch aktuelle Umfragen ermutigt. Bundesgesundheitsminister Spahn hat zwar bereits erklärt: „Ich habe immer gesagt, dass ich bereit bin, Verantwortung zu übernehmen.“ Allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: „In welcher Konstellation das aber geschieht, darüber reden wir jetzt eben in den nächsten Tagen.“ In der CDU wurde dies nicht zwingend als Bereitschaft gewertet, wie Merz für den CDU-Vorsitz zu kandidieren.

Noch bedeckter hält sich Laschet. Bereits 2018 hatte er darauf verzichtet, auf dem Parteitag gegen Spahn, Merz und Kramp-Karrenbauer anzutreten. Lieber lauerte er in Düsseldorf darauf, dass sich AKK an der Parteispitze verschliss – wozu er mit gezielter Kritik durchaus seinen Beitrag leistete.

Die Erwartung ist bei vielen Spitzenpolitikern der Union, dass sich die drei Männer untereinander gütlich einigen. So sieht man das auch beim Wirtschaftsflügel der Partei, der 2018 Merz unterstützt hatte. Das wurde auf einer Sitzung des Bundesvorstands der Mittelstands- und Wirtschaftsunion am Montag deutlich.

„Im Bundesvorstand gab es viel Zustimmung für den Wunsch, dass sich die infrage kommenden Persönlichkeiten auf den aus ihrer Sicht geeigneten Kandidaten einigen und ein starkes Team bilden“, schrieb MIT-Chef Carsten Linnemann in einer internen Mail, die dem Handelsblatt vorliegt.

Soll schnell ein Kandidat und neuer Vorsitzender benannt werden, bräuchte es einen Sonderparteitag. Den müsste der CDU-Bundesvorstand einberufen. Regulär trifft sich der Bundesvorstand das nächste Mal am 24. Februar. Nach den CDU-Statuten könnte der Parteitag dann frühestens acht Wochen nach diesem Beschluss stattfinden.

Die Kehrseite einer solch frühen Festlegung: Die Gefahr ist groß, dass der neue Parteivorsitzende und designierte Kanzlerkandidat bis Ende 2021 schon wieder verschlissen wäre. Auch er wäre neben Kanzlerin Merkel schließlich nur die Nummer eins B.

Einige führende CDU-Politiker setzten deshalb auf eine vorgezogene Bundestagswahl Anfang 2021. Das hätte für den möglichen CDU-Kanzlerkandidaten einen weiteren Vorteil: Er wäre zu diesem Zeitpunkt noch nicht beschädigt durch die Landtagswahlen, die später im Jahr 2021 anstehen und für die CDU absehbar schlecht ausgehen werden.

Im Frühjahr wählt Baden-Württemberg, dann folgen Rheinland-Pfalz und im Sommer Sachsen-Anhalt. In dem ostdeutschen Land dürften Linke und AfD stark abschneiden. Es ist eine ähnliche Lage wie in Thüringen möglich.

In der SPD ist von Schadenfreude über die Selbstzerlegung der Union wenig zu spüren. Die Sozialdemokraten sehen durchaus viele Parallelen zu sich selbst: Ungeklärte Richtungsfragen, die Zerrissenheit der Partei, der stetige Machtverfall von Kramp-Karrenbauer, der stark an das Schicksal von Andrea Nahles erinnert. „Das waren keineswegs nur Krokodilstränen, die wir hier in den vergangenen Tagen vergossen haben“, sagt ein Sozialdemokrat.

Noch ist man in der SPD zuversichtlich, vorgezogenen Wahlen entgehen zu können. Denn daran hat die SPD kein Interesse. Die Partei steht in Umfragen mies da, die neue Parteiführung ist immer noch dabei, sich zurechtzurücken. Die Frage wäre auch, wen die SPD als Spitzenkandidaten ins Rennen schicken wollte.

Dass einer der beiden neuen Parteichefs kandidiert, hält man für nahezu ausgeschlossen. Vizekanzler Olaf Scholz wird zwar immer wieder genannt. Aber er würde mit der Hypothek an den Start gehen, schon den SPD-Vorsitz nicht gewonnen zu haben. Auch andere Kandidaten haben große Mankos. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil ist zwar einer der letzten großen Wahlsieger der SPD, aber bundesweit nicht wirklich bekannt. Außenminister Heiko Maas gilt in der Partei als Leichtgewicht. Familienministerin Franziska Giffey soll 2021 erst mal das Berliner Rathaus erobern.

Der SPD käme es also sehr gelegen, wenn die nächste Bundestagswahl erst an ihrem regulären Termin im September 2021 stattfindet. Ein CDU-Vorsitzender Laschet könnte mit einer Kanzlerin Merkel bis dahin wohl kooperieren, so die Erwartung. Sollte jedoch Friedrich Merz das Rennen machen, sähe das Verhältnis zu Merkel anders aus. „Die beiden werden wohl kaum zusammenarbeiten können“, sagt ein Genosse.

Wenn die Bundesbürger das Sagen hätten, ginge die Sache eindeutig aus: Über 40 Prozent wünschen sich in Umfragen Merz als künftigen Kanzlerkandidaten der Union. Aber hätte er wirklich die besten Chancen? „Merz wird rechts Stimmen holen und sie links verlieren“, prophezeit Falter. „Er polarisiert und mobilisiert – die eigenen Anhänger, aber eben immer auch die Gegner.“

Laschet hingegen sei der Favorit der Funktionäre. Inhaltlich stünde er für ein Weiter-so, aber mit ein paar eigenen Akzenten: „In Nordrhein-Westfalen hat es Laschet geschafft, sich beim Thema Clankriminalität als Law-and-order-Mann zu profilieren.“
Und dann ist da noch Jens Spahn.

Am 3. Oktober 2019 hielt Spahn eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit. Der Minister wirbt für einen „weltoffenen Patriotismus“, um die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Seine Zuhörer stehen nicht in Berlin, sondern im Garten der Deutschen Botschaft in Ruandas Hauptstadt Kigali. Spahn ist auf Afrikareise, zum ersten Mal hat er als Minister den weißen Airbus mit dem Schriftzug „Bundesrepublik Deutschland“ bekommen.

Ein Grußwort beim Botschaftsempfang hätte wohl gereicht. Doch Spahn bringt gleich eine Grundsatzrede mit, in der er die deutsche Verantwortung für den Holocaust mit dem Völkermord in Ruanda verbindet. „Die Erfahrungen unserer beiden Länder mögen sich unterscheiden, so wie die Landschaften, in denen die Gräueltaten stattfanden: die Hügel von Ruanda, die Wälder um Auschwitz“, sagt er. „Aber was wir teilen, sind die Lehren aus diesen beiden schrecklichen Ereignissen in unseren Geschichten.“ Es wirkt wie ein Probelauf für eine Rede, die Spahn später in einem noch höheren Amt halten könnte.

Als 21-jähriger Bankkaufmann zog der Münsterländer 2002 in den Bundestag ein. Trotz des jungen Alters stieg er in Partei und Fraktion schnell auf. Für die Kanzlerin war er wegen seiner Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik lange ein Störenfried, nur widerwillig ließ sie ihn ins Kabinett. Doch auch Merkel ist mittlerweile durchaus angetan von ihrem Gesundheitsminister. Spahn schaffe „eine Menge weg“, lobte sie.

Der Hans-Dampf-in-allen-Praxen will den Pflegenotstand beheben und für kürzere Wartezeiten auf einen Arzttermin sorgen. Er brachte ein Gesetz gegen Konversionstherapien zur „Heilung“ von Homosexualität auf den Weg. „Homosexualität ist keine Krankheit“, sagt Spahn, der vor zwei Jahren seinen Partner geheiratet hat.

Unter den drei Kandidaten wäre Spahn womöglich der spannendste. Weder steht er für Laschets Weiter-so noch für Merz‘ Rückkehr zur Vor-GroKo-CDU. Trotzdem rechnet Falter dem Gesundheitsminister nur Außenseiterchancen ein: „Spahn zählt mit seinen 39 Jahren noch immer zum Parteinachwuchs.“ Der solle sich noch gedulden, sei die vorherrschende Einschätzung gegenüber dem ehrgeizigen Minister. „Ich habe auch Zweifel“, so Falter, „ob die CDU gerade in ländlichen Regionen wirklich bereit ist für einen offen homosexuell lebenden Vorsitzenden.“

Spahns Vorteil: Für ihn reicht es auch noch aus, wenn er beim übernächsten Mal zum Zuge kommt. Und noch ein anderer kann sich das Warten leisten: Markus Söder. Die immer wieder kolportierte Option, dass der 53-jährige bayerische Ministerpräsident als Kanzlerkandidat der Union antreten könne, hält Falter nicht für realistisch – noch nicht: „Söder hat die zwei gescheiterten CSU-Kanzlerkandidaturen von Franz Josef Strauss 1980 und Edmund Stoiber 2002 vor Augen. Er weiß genau, wie schwer die nächste Bundestagswahl für die Union wird – und er ist jung genug, um noch vier Jahre zu warten und dann das Kanzleramt womöglich aus der Opposition heraus zu erobern.“

Das Erbe ist wieder offen

Die Umbrüche an der Spitze der CDU sind selten, viel seltener als bei der SPD. Es bleibt das große Verdienst von Angela Merkel, dass sie freiwillig und selbstbestimmt ihren Abschied von der Macht eingeleitet hat – anders als alle Bundeskanzler vor ihr.

Kurzzeitig sah es so aus, als könne Merkel ein beispielloser Hattrick gelingen: nämlich auf den beiden wichtigsten Posten, die deutschen Staatsbürgern offenstehen, enge Vertraute zu hinterlassen: Ursula von der Leyen, die dank der Unterstützung des französischen Präsidenten Emanuel Macron überraschend zur Präsidentin der EU-Kommission aufstieg. Und eben Kramp-Karrenbauer, die in Partei und ab 2021 auch im Kanzleramt inhaltliche Kontinuität sichern sollte.

Dieser Berliner Teil von Merkels Vermächtnis ist durch das Scheitern Kramp-Karrenbauers gefährdet. Gelangt Merz an die Macht, wird die CDU wieder ein deutlich kantigeres, konservatives Gesicht zeigen. Fraglich bleibt, ob dieser Kurs eher dabei helfen oder schaden würde, das Kanzleramt auch über 2021 hinaus für die Union zu sichern.

Für die politische Kultur in Deutschland geht von der Führungskrise der CDU eine tröstliche Botschaft aus: Selbst die ewige Kanzlerin Angela Merkel kann in ihrer Partei die Weichen nicht nach Belieben stellen. Eine schwache Parteivorsitzende lässt sich nicht zur Reservekanzlerin aufblasen.

Und auch der Tatsache, dass sich die CDU-Landesverbände in Ostdeutschland ihren Umgang mit AfD und Linkspartei nicht vom Konrad-Adenauer-Haus vorgeben lassen wollen, lässt sich Positives abgewinnen: Die Funktionäre und Mitglieder der CDU reagieren skeptisch auf alle Versuche der Bevormundung aus Berlin, ihre Wähler erst recht. So soll es eigentlich sein in einer Demokratie.

Im Gasthof „Zur alten Post“ in Bochum Weitmar sind die Köpi-Gläser inzwischen deutlich leerer geworden. Wolfgang Horneck, Ehrenvorsitzender des Weitmarer CDU-Ortsvereins, feiert seinen 75. Geburtstag an diesem Abend nicht mit seiner Familie – sondern beim Grünkohlessen mit der Partei.

Dass Kramp-Karrenbauer zurücktreten wird, bedauert Horneck: „Wir waren immer eine Partei der Kontinuität.“ Nun müsste nach so kurzer Zeit schon wieder neu gewählt werden. Aber AKK habe eben auch unglücklich agiert, „sie ist von einem Fettnäpfchen ins nächste gestolpert“.

Neben Horneck sitzt Günter Bröker. Der 74-Jährige wählt die CDU seit Adenauer. „Wenn die CDU irgendwelche Anstalten macht, mit Linken oder AfD zu kooperieren, trete ich aus“, kündigt Bröker an. Kramp-Karrenbauers Entscheidung kann Bröker nachvollziehen. Sie habe einfach zu wenig Rückendeckung gehabt: „Das Saarland ist ja kleiner als das Bistum Trier.“

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