Werbung

Merkel oder Juncker – wer setzt sich durch?

Härte gegen Milde: Nach dem Austrittsvotum der Briten setzen die maßgeblichen Vertreter der EU unterschiedliche Akzente. Die europäischen Sozialdemokraten und Kommissionspräsident wollen abstrafen und die europäische Integration entsprechend ihren Vorstellungen vorantreiben. Bundeskanzlerin (CDU) und einige mitteleuropäische Länder setzten dagegen auf eine Verständigung mit dem Vereinigten Königreich.

Wohin die Reise geht, dürften die nächsten Stunden zeigen. Der Chefökonom der Commerzbank, Jörg Krämer, geht davon aus, dass Merkel mit ihrer Vorgehensweise wohl die besseren Karten hat. In einem Brexit-Szenario listet er hierfür mehrere Gründe auf.

Merkels Krisen-Operation startet am Vormittag. Im Bundestag hält sie eine Regierungserklärung zum Brexit. Dann fliegt die Kanzlerin zum ersten EU-Gipfel der neuen Zeitrechnung nach Brüssel. Dort kommt es auch zum Wiedersehen mit Briten-Premier David Cameron. Geht es nach der EU-Spitze, soll Cameron schon auf dem Gipfel das Austrittsgesuch einreichen. Doch London sträubt sich und will den Zeitplan selbst bestimmen.
Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag in Berlin: „Die Bundesregierung will keine Hängepartie.“ Das könne in niemandes Interesse in Europa sein. Man respektiere aber, dass die Briten eine überschaubare Zeit für den Austrittsprozess brauchten.

Anders als Merkel dringen aber die Sozialdemokraten in Europa auf einen möglichst zügigen Austrittsantrag der Briten. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert, dass Cameron bereits beim EU-Gipfel am Dienstag die übrigen Staats- und Regierungschefs über die Aktivierung von Artikel 50 informiert. EU-Kommissionspräsident Juncker will den Scheidungsbrief aus London „sofort“, lässt aber ein konkretes Datum offen. Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk setzt den Briten keine genaue Frist - wohl wissend, dass die EU ohnehin keine rechtliche Handhabe hat, das Königreich auszuschließen. Stattdessen schaut die EU gebannt nach London - denn nur dort kann die Entscheidung für den sogenannten Brexit fallen.

WERBUNG

Die Devise lautet überdies, Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen nichts zu schenken, schon gar nicht leichtfertig den weiteren Zugang zum EU-Binnenmarkt, heißt es unisono. Schließlich müssten Nachahmer abgeschreckt werden. Im Übrigen müsse die europäische Integration weiter vorangetrieben werden, am besten mit einer sozialdemokratischen Agenda. Juncker will Zeitungsberichten zufolge sogar, dass alle EU-Mitglieder den Euro einführen.

Kanzlerin Merkel und einige mitteleuropäische Politiker agieren dagegen vorsichtiger, analysiert -Volkswirt Krämer. So mahnte die CDU-Chefin im Verbund mit anderen Unions-Politikern, man dürfe nun nicht überstürzt reagieren. Ein einfaches „mehr Europa“ sei die falsche Antwort und spiele nur den antieuropäischen Kräften etwa in den Niederlanden oder Frankreich in die Hände, sagte sie nach Teilnehmerangaben bei der Unions-Klausur am Freitag. Zudem solle man sich nun nicht die EU zerreden, indem man den Eindruck erwecke, alles sei schlecht in der Europäischen Union, versucht sie sowohl SPD als auch CSU zu bremsen.


„Für Abwarten spricht auch innenpolitische Situation in Großbritannien“

will vor allem die Einheit der 27 verbleibenden EU-Länder wahren und bremst deshalb schnelle Initiativen, die eine weitere Spaltung bedeuten könnten. Die EU dürfe nicht in Gruppen zerfallen. In diesem Sinne habe sie sich auch mit der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydlo verständigt. In den Verhandlungen mit über den EU-Ausstieg sollen die Beziehungen nach Merkels Willen zudem weiter „eng und partnerschaftlich“ gestaltet werden. Dabei will die Kanzlerin auch die Interessen „der deutschen Wirtschaft“ wahren.

Commerzbank-Chefökonom Krämer glaubt, dass Merkel im Gegensatz zu den Außenministern der EU-Gründungsstaaten, die sich am Samstag auf Einladung von Frank-Walter Steinmeier (SPD) getroffen hatten, einen „inklusiven Ansatz“ bevorzuge, der alle verbliebenen 27 Mitglieder einbezieht. „Mit Blick auf die unterschiedlichen Positionen in dieser großen Gruppe kann das eigentlich nicht zu mehr europäischer Integration führen“, ist sich Krämer sicher.

Auch im Umgang mit den Briten dürfte Merkel aus seiner Sicht im Vorteil sein. „Mit ihrer Haltung zu Großbritannien liegt Kanzlerin Merkel richtig“, schreibt Krämer in seiner Analyse und nennt drei Punkt zur Begründung:
Krämer glaubt, dass in der Briten-Frage Abwarten die richtige Strategie ist – auch aus rechtlichen Gründen. Denn laut Artikel 50 des EU-Vertrags muss das Austrittsland seine Rückzugabsicht der EU mitteilen. Andere Länder haben damit keinen Einfluss darauf, wann die britische Regierung den Antrag stellen wird.

Aber Merkel habe nicht nur diesen formellen Punkt auf ihrer Seite, so Krämer. „Für Abwarten spricht auch die innenpolitische Situation in Großbritannien.“ In den beiden großen britischen Parteien gehe es drunter und drüber, den Brexit-Befürwortern fehle ein klares Konzept. „Sogar die Existenz Großbritanniens ist gefährdet, weil Schottland die EU nicht verlassen will“, so Krämer weiter. In dieser Situation sei es denkbar, dass die Briten den Brexit gar nicht beantragen werden. „Durch ihre abwartende Haltung hält sich Merkel diese Option offen.“


„In kommenden Jahren keine weiteren wesentlichen Integrationsschritte“

Als weiteren Punkt, der in die Hände spielen könnte, nennt Krämer das wirtschaftliche Eigeninteresse der EU. sei der zweitwichtigste Handelspartner der EU – nach den USA und vor China. „Somit hat auch die EU ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel mit Großbritannien zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu halten – so wie Norwegen, das als Nicht-EU-Land dennoch Zugang zum Binnenmarkt hat“, erläutert der Commerzbank-Chefökonom. Man könne auch dem Beispiel der Schweiz folgen, gibt Krämer zudem zu bedenken, die durch bilaterale Verträge in vielen Bereichen Zugang zum EU-Binnenmarkt habe.

Ein weiteres Argument für Merkels behutsame Briten-Strategie: Krämer glaubt nicht, dass eine harte Haltung gegen Großbritannien notwendig ist, um potentielle Nachahmer abzuschrecken. „EU-Mitglieder, die den Euro eingeführt haben, wären ohnehin mit riesigen Austrittskosten konfrontiert, weil ein Verlassen der EU einen Austritt aus der Währungsunion nach sich zöge, der aber wegen Kapitalflucht und Bank-Runs gefährlich ist“, analysiert der -Ökonom. Und die mitteleuropäischen EU-Länder, die den Euro noch nicht eingeführt haben, verließen die EU schon aus Angst vor Russland und wegen der hohen EU-Transferzahlungen nicht.

Krämers Fazit: „Alles in allem halten wir fest an unserer seit längerem vertretenen Meinung, dass eine saubere Scheidung mit einem irgendwie gearteten Binnenmarktzugang Großbritanniens wahrscheinlicher ist als eine schmutzige Scheidung, sofern die Briten die Scheidung überhaupt einreichen.“

Auch mit Blick auf die Zukunft Europas sieht Krämer für die Kanzlerin mehr Vorteile als Nachteile, Konkret geht es darum, welche generelle Lehren aus dem britischen Votum zu ziehen sind: mehr europäische Integration oder ein Verzicht darauf. Aus ökonomischer Sicht fehle die wirtschaftspolitische Union als Pendent zur Währungsunion, gibt der Volkswirt zu bedenken. Mehr Europa sei „im luftleeren politischen Raum“ also sinnvoll. „Aber die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Euro-Länder klaffen weit auseinander“, bemerkt Krämer.

Trotz der existenzbedrohenden Staatsschuldenkrise habe man sich nicht einmal auf eine halbwegs funktionierende Haushaltskontrolle einigen können. Krämer ist daher überzeugt: „Wir werden in den kommenden Jahren keine weiteren wesentlichen Integrationsschritte sehen, weil sich die Europäer nicht einig sind, in welche Richtung es gehen soll.“ Zudem, fügt er hinzu: „Versucht es eine Kerngruppe von EU-Staaten trotzdem mit der Brechstange, riskieren sie weitere Austritte.“ So würden die an sich EU-freundlich gesinnten Dänen wohl nur dann in der EU bleiben, wenn es nicht zu einer politischen Union komme.

KONTEXT

Der Fahrplan nach dem Brexit-Votum

Freitag, 24. Juni

- Brüssel: Die Fraktionsvorsitzenden im Europaparlament tagen (08.00 Uhr).

- Brüssel: Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) gibt eine Erklärung ab (09.30 Uhr).

- Brüssel: Spitzentreffen von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Parlamentspräsident Schulz sowie dem niederländischen

- Regierungschef Mark Rutte, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat (10.30 Uhr).

- Luxemburg: Treffen sozialdemokratischer Außenminister der EU, darunter Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault (11.30 Uhr).

- Luxemburg: Rat für allgemeine EU-Angelegenheiten, der den EU-Gipfel in der kommenden Woche vorbereitet (14.30 Uhr).

Samstag, 25. Juni

- In Berlin beraten die Außenminister der EU-Gründerstaaten über die Lage (Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Niederlande und Italien)

Montag, 27. Juni

- Brüssel: Sitzung der EU-Kommission

- Brüssel: Mögliche Sondersitzung des Europaparlaments (oder Dienstag)

Dienstag, 28. Juni

- Brüssel: Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen zu einem zweitägigen Gipfel zusammen

KONTEXT

Drohendes Rechts-Chaos bei einem Brexit

Was passiert bei einem Brexit?

Ein Mitgliedsstaat muss seinen Austrittswunsch an die EU melden. Dies könnte einige Wochen dauern. Dann würde eine Periode von zwei Jahren beginnen, in denen zunächst über die Austrittsmodalitäten und dann über das neue rechtliche Verhältnis mit der EU verhandelt wird. Artikel 50 sieht die Möglichkeit einer Verlängerung vor. Zumindest Lidington bezweifelt aber, dass alle 27 EU-Staaten dem auch zustimmen würden. Denn die Briten wären in dieser Zeit weiter im EU-Rat mit allen Rechten vertreten, obwohl sie gar nicht mehr dazugehören wollen. Zudem werde in einigen EU-Regierungen diskutiert, ob man einem austretenden Land wirklich entgegenkommen solle, meint auch der SWP-Experte. Die Überlegung dahinter: Weitere EU-Staaten sollten von einem solchen Schritt abgeschreckt werden. Lidington wies darauf hin, dass selbst Grönland bei seiner Abspaltung vom EU-Land Dänemark drei Jahre brauchte, um die Beziehungen mit der EU neu zu regeln - und da sei es fast nur um Fisch gegangen.

Freihandel

Durch den Brexit würde Großbritannien aus rund 50 EU-Freihandelsverträgen mit Drittstaaten fliegen - und müsste diese neu verhandeln. US-Präsident Barack Obama hat bereits angekündigt, dass sich die Briten bei bilateralen Neuverhandlungen "hinten anstellen müssten".

Binnenmarkt

Großbritannien müsste neu klären, wie sein Zugang zum EU-Binnenmarkt aussehen könnte. Dafür gibt es Vorbilder. Allerdings weist das Land einen Überschuss bei Finanzdienstleistungen mit dem Rest der EU auf. EU-Staaten könnten deshalb auf einen eingeschränkten Zugang in diesem Bereich pochen. Was geschieht, wenn die Unternehmen nach zwei Jahren zunächst keinen Zugang mehr zum Binnenmarkt hätten, ist unklar.

Personen

Es muss geklärt werden, wie der Rechtsstatus von Briten in EU-Ländern und der von Kontinental-Europäern in Großbritannien ist. Wer braucht künftig eine Aufenthaltserlaubnis oder sogar ein Visum?

EU-Finanzen

Die Entkoppelung der britischen Finanzströme von der EU wäre sehr kompliziert. Die EU-Staaten müssten klären, wer die wegfallenden britischen Beiträge im EU-Haushalt übernimmt. Gleichzeitig würden viele Projekte auf der Insel ins Trudeln geraten, weil EU-Zahlungen wegfielen.

EU-Beamte und britische EP-Abgeordnete

In Brüssel gilt bereits ein Stopp für wichtige Personalentscheidungen bis zum 23. Juni. Die britischen Mitarbeiter in der EU-Kommission könnten wohl auch nach dem Ausscheiden des Landes bleiben. Aber Aufstiegschancen dürfte es für sie nicht mehr geben. Die britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament würden laut SWP-Experte von Ondarza wohl erst bei der nächsten Europawahl ausscheiden. Aber schon zuvor müsste geklärt werden, bei welchen Entscheidungen sie noch mitstimmen sollen.

EU-Gesetzgebung

Kein Probleme dürfte es bei jenen EU-Rechtsakten geben, die Großbritannien bereits in nationales Recht umgesetzt hat. Schwieriger wäre dies bei Themen, in denen die britische Regierung gerade EU-Recht umsetzt. Brexit-Befürworter fordern, dass sich das Land auch nicht mehr nach der EU-Menschenrechtskonvention richten sollte.

Außen- und Sicherheitspolitik

Die Briten leiten derzeit den Antipiraterie-Einsatz "Atalanta", sie sind auch mit Soldaten in EU-Kampfeinheiten vertreten. Eine Neuordnung in diesem Bereich gilt als relativ unproblematisch.

KONTEXT

Wenn das britische Volk spricht

EU-Referendum

Die Abstimmung ist rechtlich nicht bindend. Der Premierminister könnte das Parlament, den britischen Souverän, abstimmen lassen. Bisher galt als sicher, dass die Abgeordneten sich dem Mehrheitswillen beugen müssen.

Petition

Die Petition für ein zweites Referendum, die mehrere Millionen Briten unterzeichnet haben, hat rechtlich keine Bedeutung, kann aber Druck auf das Parlament machen. Jeder Brite oder Einwohner Großbritanniens kann eine Parlamentspetition starten, wenn er fünf Gleichgesinnte findet. Ab 10.000 Unterschriften gibt es eine schriftliche Antwort der Regierung, ab 100.000 gibt es in den meisten Fällen eine Parlamentsdebatte zum Thema.

Schottland-Referendum

Ein zweites SReferendum müsste vom schottischen Parlament beschlossen werden. Damit es rechtlich bindend ist, müsste zudem das britische Parlament in London zustimmen. So war es 2014, als sich die Schotten in einem Unabhängigkeitsreferendum entschieden, doch Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben. Theoretisch könnten sie auch auf eigene Faust abstimmen und darauf setzen, dass London das Ergebnis akzeptieren müsste.