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Der letzte Sargnagel für den Überflieger Norwegian?

Norwegian ist die bislang größte Airline-Insolvenz in der Coronakrise. Die neuen Einschränkungen im Flugverkehr könnten das Ende des einst erfolgreichen Billigfliegers bedeuten. Wie konnte es nur so weit kommen?

Im Juni 2019 war Björn Kjos auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Der Chef des skandinavischen Billigfliegers Norwegian konnte verkünden, dass der chinesische Staat über seine Leasinggesellschaft BOC Aviation als Großaktionär einstieg. Eine Kooperation mit dem US-Nobel-Billigflieger Jetblue schien zum Greifen nahe. Und dann zeichnete ihn die Norwegische Stiftung Seed Forum auch noch als „Entrepreneur of the Century“ aus. Schließlich hatte der damals 72-jährige Kjos innerhalb von 16 Jahren aus dem insolventen norwegischen Regionalflieger Norwegian Air Shuttle, den fünftgrößten Billigflieger der Welt geformt – mit gut 150 Maschinen und knapp 40 Millionen Kunden.

Von diesem Ruhm ist fast nichts mehr übrig. Schon vor einem Jahr – vor Ausbruch der Coronakrise – wurde Kjos auf einen Beraterposten abgeschoben, weil die Verluste überhandnahmen. Seit Mitte November ist das Unternehmen als erste große Linie schrittweise in ein Insolvenzverfahren gegangen. Der Flugverkehr und die Belegschaft sind seitdem auf sechs Prozent des Vorjahres geschrumpft – mehr als bei fast allen anderen Wettbewerbern in Europa. Die Linie könnte laut Schätzungen in diesem Jahr sogar mehr Verlust als Umsatz machen.

Nun treffen auch noch die coronabedingten Einschränkungen des Flugverkehrs aus und nach Großbritannien die Norweger besonders hart. Sie könnten dem Unternehmen das Ende bereiten. Der Grund: London ist einer der wichtigsten Märkte für Norwegian. Die Linie war dort besonders bei den verbliebenen Geschäftsreisenden stark.

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Daniel Roeska, Analyst beim New Yorker Brokerhaus Bernstein, sieht „die Liquidität auf des Messers Schneide“. Sein Kollege Andrew Lobbenberg von der Investmentbank HSBC erkennt für die Aktie den kaum zu unterbietenden Zielkurs von umgerechnet weniger als einem Cent. Mit seinem Pessimismus lag der Branchenkenner schon einmal richtig. Lobbenberg setzte als erster die Aktie der inzwischen fast komplett abgewickelten Air Berlin auf den Pleite-Kurs von einem Cent.

Dabei hat Norwegian wie keine zweite Linie seit der Jahrtausendwende den Billigflugsektor geprägt. Bis etwa 2016 galt sie als Vorbild wegen des breiten Geschäftsmodells mit vielen Einnahmen außerhalb des klassischen Fluggeschäfts sowie Innovationen wie besserem Service und Billigflügen auf der Langstrecke. Danach diente der Konzern als Warnung an den Rest der Branche. „Sie haben im Wachstumswahn ihre eigenen Grenzen übersehen“, urteilt ein Manager der Konkurrenz.

Norwegian war der Traum von Björn Kjos, der 2003 Realität wurde. Der ehemalige Kampfpilot war am Ende seiner Militärzeit der Fliegerei abgeschworen. Er hatte genug von der Gefahr am Steuerknüppel des Starfighters. Doch nach rund 30 Jahren als Anwalt und erfolgreichem Unternehmer wollte der Sohn eines Flugtaxibetreibers zurück zu seinen Ursprüngen. Zuerst zog er in den Verwaltungsrat von Norwegian Air Shuttle ein. Als der Regionalflieger einen Großauftrag der staatlichen SAS verlor und vor der Pleite stand, kaufte er mit drei Freunden die Linie kurzerhand.

Dass Handlungsbedarf bestand, erkannte der neue Firmenchef sofort. „Als echter Norweger bin ich kein Träumer, sondern ein solider Rechner“, sagte Kjos bei einem Gespräch vor rund zehn Jahren. Also organisierten er und seine Kompagnons das Geschäft nicht nach den bis dahin gültigen Gesetzen der Fliegerei.

Norwegian setzte auf eine moderne, beliebig erweiterbare IT sowie flache Hierarchien. Der Neuling machte nur die Arbeiten selbst, die er für unverzichtbar hielt – etwa Marketing und Flugplanung. Teile der Verwaltung – Kundenbetreuung, Buchhaltung oder Controlling – vergab er an Dienstleister von günstigeren Standorten wie dem Baltikum oder Südeuropa. Um Geld zu sparen, heuerte die Linie auch die Besatzungen weit außerhalb der Heimat an. Deren Arbeit kontrollieren dann wenige Spezialisten in Oslo.

Selbst machte Norwegian dagegen Dinge, die Geld brachten. So gehören zur Norwegian-Holding neben Finanzierungsgesellschaften für Flugzeuge auch eine Telefongesellschaft und eine Internet-Bank. Die betreibt das Bonusprogramm mit Partnern in Konsumbranchen und eine eigene Kreditkarte. „Da liegen die Margen mit bis zu 34 Prozent beim Vielfachen des Fluggeschäfts“, schwärmte Kjos damals.

Damit der Anblick ihrer Jets Kjos und seinen Kollegen am Schreibtisch nicht das nüchterne Denken verdarb, legten sie das Hauptquartier 60 Kilometer vom Airport entfernt in ein Bürohaus im Osloer Vorort Fornebu. Kjos: „Eine Fluglinie steuert man besser per Computer und nüchterner Betrachtung von außen als durch die Aussicht auf Flugzeuge.“ Dazu kamen viele bis dahin neue Details im Betrieb. Um das Be- und Entladen des Gepäcks zu beschleunigen, hatten die Norwegian-Jets in den Laderäumen kleine Förderbänder. Die befördern Koffer und Taschen hinein und hinaus, ohne dass die Packer in die Ecken kriechen müssen. „Damit sind unsere Maschinen oft schon 15 Minuten nach der Landung wieder auf der Startbahn“, so Kjos. Selbst Billigprimus Ryanair braucht dazu mindestens 25 Minuten.

Später folgten Serviceneuerungen. Als erste Linie bot Norwegian bereits 2012 Gratis-WLAN an Bord, mehr Sitzabstand und einen automatischen Check-in, bei dem Kunden ihre Bordkarten per Mail bekommen und ohne Wartezeit an Schalter oder Automat direkt zum Flugsteig gehen können.


Norwegian: 3 Entscheidungen, die den Niedergang brachten

Mit dem Kjos-Rezept wuchs Norwegian von 2003 bis 2013 auf die sechsfache Größe und das Netz von 15 auf 130 Flugziele. Das verleitete den Airline-Chef zu drei radikalen Schritten, die in der Kombination letztlich dafür sorgten, dass die Linie bereits vor Corona zum Sanierungsfall wurde.

Die Riesenorder: Um weiter wachsen zu können, unterschrieb Kjos die bis heute größte Flugzeugbestellung eines europäischen Unternehmens. 250 Maschinen für den Europaverkehr sowie 150 Kaufoptionen sicherte er sich bei Boeing und Airbus, mit dem Recht später auf moderne Varianten wechseln zu dürfen.

Die Billiglangstrecke: Mit bis zu 70 Maschinen der besonders sparsamen Boeing Dreamliner 787 wollte Norwegian von Europa nach Asien und Nordamerika fliegen. Wie bei den Kurzstreckenflügen sollten die Fernverbindungen abseits der großen Drehkreuze in Orten wie Düsseldorf oder Hamburg starten und jeder Service neben Sitzplatz und Internet extra kosten.

Der Umbau: Aus einer norwegisch geprägten Linie sollte ein europaweiter Konzern werden, so der Plan des Björn Kjos. Die Jets wanderten zu einem großen Teil in Tochterunternehmen mit Sitz in Steueroasen wie Irland. Neue Beschäftigte engagierte Kjos nicht nur europaweit, sondern wie im Fall der Langstreckencrews sogar in Thailand.

Bald zeigten sich die Tücken. Zuerst krachte es auf der Kurzstrecke. Die vielen neuen Flieger verschlangen nicht nur mehrere Milliarden Euro für Anzahlungen und zur Vorbereitung der neuen Routen, was die Schulden nach oben trieb. Um die vielen Jets unterzubringen, musste Norwegian stärker als gewohnt expandieren. Die Airline legte in manchen Jahren bis zu 40 Prozent zu. Damit kam die Linie nicht nur den großen Flugdiscountern Easyjet und Ryanair in die Quere. Die Offensive weckte endgültig den Kampfgeist der etablierten Linien wie Lufthansa und der British-Airways-Mutter IAG. „Nun war klar, dass auch wir in dem Feld wachsen müssen“, sagte der damalige Air-France-KLM-Chef – und versuchte seine Billigtochter Transavia zu vergrößern. Am Ende litten alle, aber vor allem Norwegian, weil sie nur einen geringen Teil ihrer Flotte profitabel auslasten konnte.

Das führte dazu, dass die Kosten stiegen, während die Wettbewerber ihre Ausgaben senken konnten. Das brachte Norwegian in eine ungewohnte Rolle. Statt wie bisher dank des effizienteren Betriebs etablierte Linien anzugreifen, wurde nun Norwegian von günstigeren Konkurrenten gejagt. So traute sich die osteuropäische Wizz Air sogar auf Inlandsrouten in Norwegen.

Noch schlimmer lief es bei der zweiten Neuerung Langstrecke. Zuerst kamen die neuen Dreamliner später als erwartet. Darum musste Norwegian Ersatzmaschinen anmieten, die von der Größe und der Reichweite nicht immer zu den geplanten Flügen passten – und etwa oft kein WLAN boten. Als die Maschinen da waren, lief es kaum besser. Es zeigte sich, dass Norwegian – anders als auf der Kurzstrecke – am Ende kaum billiger flog als die etablierte Linie. Zudem zahlten wegen der vielen kostenpflichtigen Extras Passagiere am Ende mehr als erwartet. Das sorgte für schlechte Presse.

Das dritte Problem war die europaweite Organisation. Sie sorgte zum einen für Unmut bei der Belegschaft. Weil Norwegian Personal aus Asien oder Osteuropa einsetzte und dabei auch übliche Sozialstandards umging, gab es lange Zeit reichlich Streiks und Ärger mit den Behörden. Dazu verzögerte sich die Landeerlaubnis für die Flüge aus der EU in die USA. Die US-Marktführer rund um American Airlines drängten die Behörden dazu, die Flugerlaubnis zu verweigern oder zumindest zu verzögern. Und weil Norwegians Hauptsitz Oslo nicht zur EU gehörte, machte die Europäische Union auch nur zögerlich Gegendruck. Norwegen selbst fühlte sich nicht so recht zuständig, weil es ja um Flüge aus anderen Ländern ging.

Die fehlende Bindung an ein Heimatland wirkt bis heute. Während Lufthansa, Air France-KLM und selbst der angeschlagene Lokalrivale SAS in der Coronakrise reichlich Geld aus Dänemark und Schweden bekamen, verweigerte Norwegen seiner Linie zuletzt die Hilfen. „Der Staat sieht keinen Mehrwert für den Steuerzahler“, beschreibt Analyst Lobbenberg die Stimmung.

Trotzdem erkennt er noch eine kleine Überlebenschance für Norwegian. „Bisher hat uns das Management schon oft überrascht und neue Geldquellen gefunden“, so Lobbenberg. Zuletzt gelang dies in der vergangenen Woche, als Investoren im Rahmen der je nach Zählung bis zur vierten Restrukturierung innerhalb eines Jahres einem Kapitalschnitt zustimmten. Ob das so anhält, bleibt abzuwarten, glaubt Analyst Roeska: „Wir haben wenig Hoffnung, dass das Unternehmen wieder an Wert gewinnt.“

Mehr zum Thema: Die neue Corona-Variante gefährdet die schwache Erholung der angeschlagenen Fluglinien. Betroffen sind neben britischen Airlines vor allem große Billigflieger wie Ryanair und Wizz Air. Was bedeutet es für die Lufthansa?