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Laschet lehnt Lockdown für Kreis Gütersloh trotz mehr als 1300 Infizierten vorerst ab

Der Corona-Ausbruch bei dem Fleischfabrikanten ist der schwerste Rückfall seit Beginn der Lockerungen. Noch hält NRW-Ministerpräsident neue Beschränkungen nicht für nötig.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident meint, das Infektionsgeschehen sei lokalisierbar. Foto: dpa
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident meint, das Infektionsgeschehen sei lokalisierbar. Foto: dpa

Armin Laschet meldet sich aus Gütersloh. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident ist am Sonntag in den ostwestfälischen Landkreis gekommen, um sich über den Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies zu informieren.

Nach einer Sitzung des örtlichen Krisenstabs sagte der CDU-Politiker, bislang sei „kein signifikanter Übersprung“ des Virus von der Tönnies-Belegschaft auf die Bevölkerung in der Gegend festzustellen. Von dem Fall gehe aber ein „enormes Pandemie-Risiko“ aus. „Einen flächendeckenden Lockdown können wir nicht ausschließen.“

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Es ist nicht die erste Corona-Krisenmission für Laschet: Ende Februar eilte er nach Heinsberg, nachdem sich das Virus dort nach einer Karnevalssitzung stark ausgebreitet hatte. Der Landkreis an der niederländischen Grenze gilt als erster großer Hotspot der Bundesrepublik, einige Wochen später fuhr die Politik das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in ganz Deutschland weitgehen herunter.

Dieses Szenario droht gegenwärtig nicht. Laschet sagt: „Das Geschehen ist klar lokalisierbar.“ Er sagt aber auch, man habe es mit dem „größten, bisher nie da gewesenen Infektionsgeschehen in Nordrhein-Westfalen“ zu tun.

Der Ausbruch bei Tönnies ist der schwerste Rückschlag im Kampf gegen die Pandemie, seit Bund und Länder Ende April die Maßnahmen gegen Corona schrittweise lockerten. Der SPD-Landesvorsitzende von NRW, Sebastian Hartmann, sieht eine Mitverantwortung der schwarz-gelben Landesregierung in Düsseldorf.

„Das Tönnies-Desaster ist ein Versagen an verschiedenen Stellen: Firmenchef Tönnies und Regierungschef Laschet standen beide in der Verantwortung. Beide haben gar nicht oder zu spät gehandelt“, sagte Hartmann dem Handelsblatt. Deshalb müsse sich Laschets Regierung jetzt viele Fragen gefallen lassen. „Wir wollen wissen, wo sie war und warum nichts unternommen worden ist.“

Alle Beschäftigten getestet

Der Standort des Familienunternehmens in Rheda-Wiedenbrück ist Deutschlands größter Fleischbetrieb. Der Corona-Ausbruch war am vergangenen Mittwoch bekannt geworden, die Zahl der Infizierten lag am Sonntag bei 1331.

Die Untersuchung der Beschäftigten auf das Virus ist laut Kreis Gütersloh mittlerweile abgeschlossen, fast alle Befunde der 6139 Tests lägen vor. Bei 4568 Mitarbeitern fiel das Ergebnis demnach negativ aus. In den Kliniken des Landkreises werden derzeit 21 Patienten wegen einer Covid-19-Erkrankung behandelt. Fünf der sechs Intensivfälle arbeiten bei Tönnies.

Besonders betroffen sind die aus mittel- und osteuropäischen Ländern stammenden Leiharbeiter im Schlachtbereich. Am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück ist jeder zweite Beschäftigte per Werkvertrag über einen Subunternehmer angestellt. Laschet sagte, der Ausbruch bei Tönnies berge auch deshalb ein so hohes Risiko, weil die Mitarbeiter in 1300 unterschiedlichen Häusern in Gütersloh und benachbarten Landkreisen untergebracht seien.

Noch setzt der Ministerpräsident auf „zielgerichtete Maßnahmen“, um die Infektionsketten zu unterbrechen. Flächendeckende Beschränkungen des öffentlichen Lebens sollen vermieden werden – obwohl der Kreis den von Bund und Ländern vereinbarten Grenzwert von 50 Corona-Neuinfektionen binnen einer Woche je 100.000 Einwohner aktuell deutlich überschreitet.
Die Gesundheitsbehörden in NRW setzen dagegen auf Massentests, bei denen auch Soldaten der Bundeswehr unterstützen. „Die Testungen sind der Schlüssel zum Erfolg“, sagte Laschet. Nun sei entscheidend, dass die Proben schnell ausgewertet und die Kontakte von Infizierten nachverfolgt würden. Sämtliche Mitarbeiter am Standort Rheda-Wiedenbrück müssen in häusliche Quarantäne, die Fabrik wurde für zwei Wochen geschlossen.

Chirurgische Maßnahmen statt allgemeiner Lockdown

Drei Hundertschaften der Polizei sind im Einsatz, um die Einhaltung durchzusetzen. Die Stadt Verl hatte am Samstag eine Quarantänezone rund um Mehrfamilienhäuser eingerichtet, in denen Werkvertragsarbeiter von Tönnies untergebracht sind. Auch alle anderen Bewohner dürfen den mit Bauzäunen abgeriegelten Bereich nicht mehr verlassen. Insgesamt leben in den betroffenen Straßenzügen knapp 670 Menschen.

Chirurgische Maßnahmen statt allgemeiner Lockdown – das ist die neue Strategie im Kampf gegen das Coronavirus. Bund und Länder hatten sich darauf verständigt, die Gesundheitsämter für die Nachverfolgung von Kontakten personell zu verstärken. Außerdem regelte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass die Coronatests deutlich ausgeweitet werden und die Krankenkassen die Kosten auch bei Menschen ohne Krankheitssymptome übernehmen.

So sollen die Bewohner in Alten- und Pflegeheimen regelmäßig getestet werden. Tritt in einer Einrichtung, aber auch in Kitas oder Schulen ein Coronafall auf, können die Gesundheitsämter zudem Massentests anordnen.

Vergangene Woche startete auch die Corona-Warn-App, mit der Smartphone-Nutzer alarmiert werden, wenn sie sich in der Nähe von Infizierten aufgehalten haben. Die App wurde mehr als zehn Millionen Mal heruntergeladen. Das Ziel ist, einen lokalen Ausbruch schnell unter Kontrolle zu bringen und eine deutschlandweite Verbreitung des Virus zu verhindern.

Die Gegend um Gütersloh wird nun zum ersten großen Testfeld, ob diese Strategie auch funktioniert. Das Infektionsgeschehen ist in den meisten Gegenden Deutschlands weiterhin ruhig. Allerdings sind die registrierten neuen Fälle wegen lokaler Ausbrüche wie bei Tönnies im Vergleich zu Mitte des Monats angestiegen. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete am Sonntag 687 Neuinfektionen binnen eines Tages.

Vertrauen in die Firma beschädigt

Die Tönnies-Gruppe ist in Deutschland mit einem Marktanteil von etwa 20 Prozent Marktführer vor Westfleisch und Vion. 2019 erreichte der Schlacht- und Zerlegekonzern mit rund 16.500 Mitarbeitern weltweit einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro, ein Plus von zehn Prozent.

Der Corona-Ausbruch legt nicht nur die Produktion lahm. Er ist für die Firma auch ein PR-Desaster. Die Wut der Bürger ist groß – nicht zuletzt, weil der Kreis Gütersloh die gerade erst geöffneten Schulen und Kitas wieder dichtmachen musste.

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter rief die Supermarktketten zu einem Boykott von Tönnies-Produkten auf. „Das Gebaren der Fleischbarone, die nur auf Profit setzen und meinen, sich an keine Regeln halten zu müssen, ist ein Skandal“, sagte Hofreiter der „Bild am Sonntag“.

Die Behörden in Gütersloh beklagen, dass Tönnies nur zögerlich die für die Massentests und die Quarantäne benötigten Listen der Beschäftigten bereitgestellt habe. „Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist gleich null“, sagte der Leiter des Krisenstabs, Thomas Kuhlbusch. Firmenchef Clemens Tönnies wies die Vorwürfe zurück und verwies auf „datenschutzrechtliche Probleme“, die es bei der Speicherung der Adressen von Werkvertragsarbeitern gebe.

Der 64-Jährige versprach, alles zu tun, um den Ausbruch einzudämmen. „Ich stehe in der Verantwortung“, sagte er am Samstag. „So werden wir nicht weitermachen. Wir werden diese Branche verändern.“

Die Neuausrichtung der Branche liegt aber längst nicht mehr in der Hand von Unternehmern wie Tönnies. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Silvia Breher sagte dem Handelsblatt: „Wir haben jetzt mehrere Corona-Ausbrüche in der Fleischindustrie erlebt. Es ist für mich völlig klar, dass wir vor erheblichen Veränderungen in der Fleischbranche stehen.“ Mehr Ordnung, bessere Arbeitsbedingungen und stärkere Hygienemaßnahmen seien „zentral“, die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Bundesregierung will gesetzgeberisch tätig werden. „Fleisch ist zu billig“, sagte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Der CDU-Politikerin schwebt eine Tierwohlabgabe vor, die auf Fleisch, Wurst und anderes aufgeschlagen werden könnte. Außerdem rücken durch die Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen die Leiharbeiter immer stärker in den Fokus.

Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums sind in den großen Fabriken zwischen 50 und 80 Prozent der Mitarbeiter sogenannte Werkvertragsbeschäftigte. Sie sind nicht bei der Firma selbst angestellt, sondern bei Subunternehmen, die Aufträge für Schlacht- und Zerlegearbeiten übernehmen. Oft handelt es sich um Beschäftigte aus Ost- und Südosteuropa, die mal bei dem einen, dann bei einem anderen Betrieb zum Einsatz kommen. Durch diese Vertragskonstruktion mit Sub-Sub-Subunternehmerketten könne die Verantwortung für Missstände immer weitergeschoben werden, kritisiert Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Die Bundesregierung plant daher ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie, Heil will dazu im Sommer einen Gesetzentwurf vorlegen. „Seit Jahren weisen Gewerkschaften auf Ausbeutung, Sozialdumping, miese Arbeits- und Lebensbedingungen und schlechte Löhne hin“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel dem Handelsblatt. „Jetzt, wo für eine ganze Region der Lockdown diskutiert wird, können Politik und Unternehmen die Augen nicht mehr länger verschließen.“