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Der Kundenversteher aus Wiesbaden

Der neue Vorstandschef der R+V Versicherung Norbert Rollinger will sein Haus stärker auf die Bedürfnisse der Kunden ausrichten. Doch ausgerechnet der Erfolg der Wiesbadener macht die Kehrtwende nicht einfacher.

Norbert Rollinger kann sehr bestimmt sein. Vor dem Osterfest übte sich der drahtige Vorstandschef der R+V Versicherung im Fasten und mied wochenlang jeden Tropfen Alkohol – selbst bei wichtigen Geschäftsessen. Doch der 52-Jährige ist nicht nur privat sehr diszipliniert, auch beruflich hat der neue Mann an der Spitze von Deutschlands zweitgrößtem deutscher Schaden- und Unfallversicherer klare Vorstellungen.

Vier Monate nach seinem Start legt der promovierte Jurist ein neues Programm namens „Wachstum durch Wandel“ für den Konzern auf, dessen Fokus auf umfassender Digitalisierung und nachhaltiger Kundenzufriedenheit liegen soll. Mit dem Programm wolle das Unternehmen seinen Geschäftserfolg auch „in Zeiten eines sich rasant verändernden Umfeldes“ fortsetzen, sagte Rollinger am Dienstag auf der Bilanzpressekonferenz in Wiesbaden.

Der neue Chef verbindet das zugleich mit konkreten Wachstumszielen: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, zum 100-jährigen Jubiläum von R+V im Jahr 2022 unsere Beitragseinnahmen auf 20 Milliarden Euro zu steigern“, gibt der neue Chef als Losung aus. 2016 lag die Ziffer auf der Rekordhöhe von 14,8 Milliarden Euro. Entscheidend werde es sein, das Interesse der Kunden mehr in den Mittelpunkt zu stellen, so Rollinger.

Der genossenschaftliche Versicherer folgt damit den Spuren von Branchengrößen wie der Allianz, die bereits seit längerem mit hohem Druck die Digitalisierung vorantreibt und den Mitarbeitern eine neue Mentalität einimpfen will. Es ist eine späte Wende in der Branche, doch nun kommt sie mit Macht. Wer als Versicherer auch in Zukunft vorne mitspielen will, der muss die Bedürfnisse seiner Kunden kennen, lautet die Devise.

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„Wir sehen die Digitalisierung vor allem als Wachstumschance – und nicht als Rationalisierungsmaßnahme“, betonte Rollinger. So sei kein breiter Stellenabbau geplant. Mehr als 100 Millionen wird die R+V künftig pro Jahr stattdessen in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens investieren. So planen die Wiesbadener mehr Applikationen für das Smartphone, Online-Angebote und eine bessere Erreichbarkeit.

Denn der Druck auf die Branche steigt. Immer mehr Kunden schließen Policen über Computer, Tablet und Smartphone ab. Laut einer aktuellen Studie der Münchner Beratung Bain & Company informieren sich bereits 33 Prozent aller Befragten über Sachversicherungen auf digitalen Kanälen, 22 Prozent schließen die Versicherung auch online ab. Selbst bei komplizierteren Produkten wie Lebensversicherungen erkundigen sich 21 Prozent der Befragten digital, 13 Prozent zeichnen die Police online.

Wie also umgehen mit der wachsenden Konkurrenz aus Start-ups und der digitalen Konkurrenz, auch Insurtechs genannt? Rollinger hat darauf eine simple und frappierende Antwort. „Notfalls werden wir sie kopieren“, sagt der Vorstandschef vor wenigen Wochen bei einer Diskussion in Frankfurt. „Im Kopieren war die Versicherungsindustrie schon immer gut.“ So dauere es im besten Fall nur wenige Monate, bis das Unternehmen selbst mit seinen Programmierern bestimmte Applikationen und Angebote mancher junger Wettbewerber mit eigenen Produkten kontern könnte. „Wenn wir wollen, können wir auch schnell“, lautet seine Kampfansage. Damit sorgen vor allem die Insurtechs, junge Unternehmen, die sich auf digitale Versicherungslösungen spezialisiert haben, für frischen Wind in der Branche.


Branchenführer Allianz als Vorbild

In Stuttgart und in München hat Branchenführer Allianz im vergangenen Jahr bereits sogenannte Agile Training Center (ATC) eröffnet. Knapp 100 Menschen arbeiten dort jeweils bewusst abseits der Zentrale. Es geht um einfache Kundenlösungen, die oft sogar im direkten Austausch mit den Kunden erarbeitet werden.

Dabei schwirren viele neudeutsche Begriffe durch den Raum: Die Rede ist von Customer Experience (CX), Minimum Viable Products (MVP) und Elastic Infrastructure. Das Ziel: „Wir wollen alle Prozesse aus Sicht des Kunden neu denken und führend sein im Bereich digitaler Dienstleistungen“, heißt es in einer Erklärung. Mit der Bedächtigkeit, die im Versicherungsvertrieb über Jahrzehnte Usus war, dürfte das allerdings nicht mehr viel zu tun haben.

Nicht die nur Allianz hat deshalb die Position eines Digitalisierungschefs geschaffen, auch die R+V hat inzwischen einen solchen Manager. Ausgerechnet der wirtschaftliche Erfolg des Wiesbadener Konzerns macht für seinen Chef Rollinger den Job jedoch nicht einfacher. Denn wirtschaftlich läuft es gut bei der R+V Versicherung.

Der R+V Konzern steigerte im Geschäftsjahr 2016 den Konzerngewinn vor Steuern um 9,1 Prozent auf 682 Millionen Euro. Im deutschen Kernmarkt wuchs der genossenschaftliche Versicherer in allen Sparten mit insgesamt 3,4 Prozent, während der Gesamtmarkt weitgehend stagnierte. „R+V hat auch 2016 wieder ihre ausgezeichnete Wachstums- und Finanzstärke unter Beweis gestellt“, sagte Rollinger. Mit dem ersten Quartal 2017 starteten die Wiesbadener gut in das laufende Jahr. Die Beiträge legten im inländischen Erstversicherungsgeschäft um 5,2 Prozent auf 4,5 Milliarden Euro gegenüber den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres zu.

Viele Mitarbeiter fragen sich deshalb, wieso der Versicherungsriese überhaupt seinen Kurs ändern muss. Ein Vermittlungsproblem, vor dem auch Allianz-Boss Oliver Bäte in München steht. Aufmerksam verfolgt Rollinger deshalb jeden Schritt des großen Rivalen – und das nicht nur, um mögliche Fehler des Branchenprimus zu vermeiden. Der 52-Jährige mit der braunen Hornbrille an der Spitze der R+V Versicherung und Bäte kennen sich auch persönlich und teilten mehrere Jahre einen gemeinsamen Arbeitgeber: Beide arbeiteten lange bei der Beratungsfirma McKinsey.

Es ist eine Gemeinschaft, die sie offensichtlich auch in ihrer strategischen Sichtweise verbindet. „In einer digitalen Welt brauchen wir eine andere Mentalität“, warb Bäte vor Analysten und Investoren erst jüngst für seinen Kurs. Ein Satz, den Rollinger durchaus auch als Argumentationshilfe für die 15.000 Mitarbeiter der R+V Versicherung verwenden könnte.