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"Der Kunde der Zukunft bezahlt mit kostbarer Lebenszeit"

WirtschaftsWoche: Herr Voß, Sie beklagen eine Umerziehung der Verbraucher durch die Unternehmen. Was stört Sie?
Günter Voß: Die Umerziehung des Verbrauchers zur Selbstbedienung, faktisch also zur Mitarbeit am Produkt oder an der Dienstleistung, ist ein Thema, das in Wellen immer wieder hochkocht. Das passiert immer dann, wenn neue technische Entwicklungen neue Möglichkeiten der Steuerung und Nutzung von Kunden bieten. Mit unserem Buch „Der arbeitende Kunde“ haben meine Kollegin Kerstin Rieder und ich schon 2005 einen Megatrend in diese Richtung beschrieben, der sich immer weiter verfestigt. Megatrend ist ein großer Begriff, aber ich finde ihn an der Stelle nicht übertrieben. Problematisch finde ich an der Entwicklung die Scheinheiligkeit. Während die Anbieter mit besserem Service durch Automaten oder neue digitale Vertriebskanäle werben und den Kunden Preisvorteile versprechen, reden Ökonomen in ihrem Fachjargon bei den gleichen Sachverhalten ganz unverblümt vom Outsourcing an den Kunden. Das ist entlarvend.

An welche Unternehmen denken Sie?
Klassisches Beispiel ist die Möbelkette Ikea. Sie hat die personalintensive Endmontage der Teile auf den Kunden überwälzt und verkauft diese Strategie als Service, weil der Kunde zum Beispiel Platz beim Transport spare und günstige Preise erhalte. Ich möchte das nicht nur beklagen, denn manche sehen es tatsächlich als Vorteil, wenn sie ihr Mobiliar für einen Umzug rasch zerlegen können. Manche erleben beim Eigenaufbau aber auch schnell ihre handwerklichen Grenzen und merken schmerzhaft, wie viel Arbeit das alles am Ende doch macht. Und ob die Preise wirklich so günstig sind, sollte man genau prüfen. Unternehmen nutzen solche Strategien ganz sicher nur, wenn sie insgesamt einen deutlichen ökonomischen Vorteil davon haben.

Ich denke beim Aufbau von Ikea-Möbeln eher an harmlose Kabaretteinlagen à la Loriot, weniger an die gesellschaftsspaltende Ausbeutung des Kunden durch gierige Konzerne. Ist das wirklich eine der großen Fragen unserer Zeit?
Wenn damit satirisch umgegangen wird, ist es immerhin ein Zeichen, dass es sich um ein gesellschaftlich bewegendes Thema handelt. Zudem ist Ikea auch nur ein besonders plakatives Beispiel, das zeigt, worum es im Prinzip geht. Die Kunden müssen an immer mehr Stellen eine Arbeit übernehmen, die bisher Betreibe geleistet haben. Außerdem funktionierte das Ikea-Prinzip schon lange nicht mehr nur in der analogen Welt der materiellen Produkte. Nehmen wir mal die Computer- oder Softwareindustrie. Diese Branche hat es wie keine andere geschafft, ihre Nutzer, also die Kunden, zu Mitarbeitern zu machen. Man spricht nicht zufällig bei manchen neuen Produkten von Bananenversionen, die beim Kunden reifen. Das ist zynisch: Die Nutzer sollen die Probleme erkennen und möglichst auch Lösungen finden - schließlich handelt es sich nicht um Freeware, sondern um oft teure Produkte.

Die Schwarmintelligenz der Masse ist dem Genie von Ingenieuren und Programmierern vielleicht sogar überlegen.
Das ist tatsächlich nicht selten der Fall. Weil die Unternehmen das wissen, nutzen sie das gezielt aus. Die Hilfefunktionen vieler Softwareprogramme laufen nicht selten ins Leere und stattdessen wird auf Internetforen verwiesen, in denen andere Nutzer die Probleme ihrer Leidensgenossen lösen - kostenlos, aber mit einem erheblichen Zeitbedarf. Gegen Schwarmintelligenz ist nichts zu sagen, aber Hersteller besorgen sich mit solchen Strategien eine Leistung, die sie eigentlich selbst erbringen müssten. Jeder ökonomisch denkende Mensch muss sich fragen, wer hier eigentlich den Vorteil hat.

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Verbraucher werden zu willigen Gehilfen

Warum begehrt niemand dagegen auf?
Uns Verbrauchern ist nicht klar, wie viel Zeit, Kosten und Arbeitsaufwand wir tatsächlich in Aufgaben stecken, die eigentlich der Job von Herstellern oder Dienstleistern wären. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns oft zu willigen Gehilfen von Organisationen machen. Unser Frust richtet sich dann aber vor allem gegen Mitmenschen, andere Kunden und Mitarbeiter, und weniger gegen die Verantwortlichen für solche Entwicklungen. Denken Sie an die Supermarktkasse: Mit nahezu militärischer Disziplin bedienen wir uns ohne Klagen der Warentrennriegel, die uns die gestresste Kassenkraft zuschiebt und genervt schaut, wenn wir nicht ordentlich mitarbeiten. Und nur zu gern würden wir über diejenigen herfallen, die in der Schlange trödeln, Fragen haben, ihre Einkäufe nicht flott genug verpacken oder sich zu viel Zeit beim Herausklauben des Wechselgelds lassen. Es gibt in solchen Situationen meist nur wenige Mutige, die das Ladenpersonal zur Öffnung einer zweiten Kasse auffordern und nicht selten fehlt dann dafür ausreichend Personal.

Ich fühle mich ertappt.
Das ist kein Vorwurf. In unserer modernen Massengesellschaft erfolgt Kontrolle immer weniger durch übergeordnete Autoritäten und immer mehr über Selbstdisziplinierung durch gesellschaftlichen Druck, also Gruppendruck. Moderne Großunternehmen genauso wie Gefängnisse sparen viel Aufwand, wenn sie es schaffen, dass Mitarbeiter und Insassen sich gegenseitig selbst überwachen.

Der Weltmeister in dieser Disziplin sind vielleicht gar nicht die Unternehmen, sondern der Staat. Er lässt die Bürger auch ihre Steuer selbst erklären.
Weil das enorm Aufwand spart. Eine geniale Strategie, die viel billiger ist, als Steuereintreiber in jedes Haus zu schicken. Dabei ist die steuerliche Selbsterklärung ja nichts Neues. Neu ist, dass wir etwa beim Steuerprogramm Elster inzwischen selber verantwortlich sind zu prüfen, ob alles richtig berechnet ist und nichts in eine falsche Rubrik eingetragen wurde. Wir sind für alles zuständig und wenn wir zu unseren Ungunsten Fehler machen, ist das unser Risiko. Die Sachbearbeiter machen oft nur noch Stichproben oder greifen auffällige Anträge heraus. Die Kosteneinsparung wiegt die Verluste mehr als auf, selbst wenn Bürger bei der Erklärung Fehler machen oder Angaben vergessen. Ärger kriegen wir aber trotzdem, wenn etwas auffällt. Übrigens bedienen sich auch die Medien kräftig dieses weit verbreiteten Prinzips, indem sie ihre Leser Beiträge schreiben und Kommentare beisteuern lassen oder zu Reportern machen. In manchen Bereichen kann das sogar die Schnelligkeit der Berichterstattung steigern, etwa wenn ein Unglück passiert und anfangs noch keine Journalisten vor Ort sind.

Es gibt also auch Vorteile?
Klar, aber die Sache ist zweischneidig und die Frage ist wie gesagt, wer vor allem die Vorteile hat. Wenn Konsumenten immer mehr Tätigkeiten selbst übernehmen, versetzt sie das einerseits in die Lage, Dienste unabhängig von Öffnungszeiten in Anspruch zu nehmen. Ihr Onlinebanking können Sie unterwegs oder zuhause bedienen, auch wenn die Filiale geschlossen hat – wenn es sie überhaupt noch gibt. Das spart den Unternehmen eine Menge Kosten und macht uns aber viel Arbeit. Aber der wesentlich wichtigere Grund, immer mehr Tätigkeiten auf die Kunden abzuwälzen, ist die gigantische Wertschöpfung, die dadurch möglich wird, vor allem durch das Internet.

Zum Beispiel?
Etwa durch die Daten über das Verhalten und die Vorlieben der Kunden, die dadurch massenhaft aufgesogen werden. Aus diesen Erkenntnissen entstehen ganz neue Produkte und Dienstleistungen mit gigantischen Gewinnchancen, oft auch Innovationen für Produkte oder Abläufe, auf die man auf herkömmlichen Wegen nie gekommen wäre.

Jetzt klingt es das alles plötzlich gar nicht mehr so bedrohlich wie am Anfang.
Für die Unternehmen sowieso nicht, aber für die Verbraucher sieht das anders aus. Viele Ältere werden sich wohl nicht mehr daran gewöhnen können. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Mutter in den 1950er Jahren lange Zeit nur mit Mühe damit klarkam, in den damals neuen SB-Märkten ihre Waren selber zusammenzusuchen und zur Kasse zu schleppen. Die jeweils jüngere Generation hat erfahrungsgemäß weniger Probleme mit solchen Trends als ihre Eltern. Wir müssen uns als Konsumenten aber immer mehr darauf einstellen, dass wir für Produkte und Dienstleistungen nicht nur bezahlen sollen, sondern erheblichen persönlichen Aufwand, sprich Arbeit, investieren müssen. Der Kunde der Zukunft wird immer öfter nicht allein mit Geld bezahlen, sondern mit Lebenszeit, Lebensenergie sowie seinen Lebensdaten.