Werbung
Deutsche Märkte öffnen in 4 Stunden 47 Minuten
  • Nikkei 225

    38.317,33
    +765,17 (+2,04%)
     
  • Dow Jones 30

    38.503,69
    +263,71 (+0,69%)
     
  • Bitcoin EUR

    62.278,43
    -200,06 (-0,32%)
     
  • CMC Crypto 200

    1.437,44
    +22,68 (+1,60%)
     
  • Nasdaq Compositive

    15.696,64
    +245,33 (+1,59%)
     
  • S&P 500

    5.070,55
    +59,95 (+1,20%)
     

Der Krake Kapitalismus

WirtschaftsWoche: Herr Damler, die kapitalistische Wirtschaftsordnung wird, nicht nur von ihren Kritikern, oft als undurchsichtiges, anonymes, auch bedrohliches System wahrgenommen. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler etwa sprach von den Finanzmärkten als Monstern, der SPD-Politiker Franz Müntefering prägte das Bild der Heuschrecke. Sind das zulässige Bilder?
Daniel Damler: Jedenfalls sind sie unvermeidlich, schon deshalb, weil es ein Bedürfnis gibt, abstrakte Zusammenhänge greifbar, sinnlich fassbar zu machen. Das gilt für die politische Öffentlichkeit, aber auch für den wissenschaftlichen Diskurs. Das Denken in Bildern gehört zu unserer kognitiven Ausstattung. Wir brauchen Metaphern, um die Welt zu verstehen. Die Frage ist allerdings, ob man die richtigen Metaphern wählt und ob man sich bewusst ist, welche Implikationen sie haben. Wenn Bilder einmal in die Öffentlichkeit gelangt sind, ist es schwer, sie zu beherrschen.

Weil sie sich verselbstständigen?
Sie entwickeln ein Eigenleben, unter Umständen auch gegen die Interessen ihres Schöpfers. Bestimmte Aspekte können dann eine Bedeutung bekommen, die er vielleicht gar nicht im Sinn hatte. Etwa die diffuse Angst, der namenlose Schrecken, der von Monstern ausgeht, ihre Riesenhaftigkeit und Unbeherrschbarkeit. Das Problem ist die Suggestivkraft von Bildern. Sie sind zulässig, oft hilfreich, aber auch gefährlich.

Die moderne Konzernwirtschaft wird mit Bildern des Bösen assoziiert. Der „Raubtierkapitalismus“ ist sprichwörtlich geworden. Gibt es einen Fundus von Bildern, der von Kritikern mobilisiert werden kann und der die undurchsichtigen Machtstrukturen der Konzerne besonders gut erfasst?
Ja, aber dazu gehören nicht nur Tiere, wie etwa die Spinne, die über die Fäden des Netzes ihre Beute gefangen hält. Es genügt, dass es sich um Phänomene handelt, die in einer bestimmten Epoche als gefährlich wahrgenommen werden und eine Strukturähnlichkeit haben mit dem, was man kritisieren will. Ein Beispiel ist die moderne Stadt, der Moloch, mit seinen staatsfreien Räumen, seinen Ganovenvierteln und Migrantenghettos, vor allem: mit seiner Anonymität. Bindungslosigkeit und Anonymität sind besonders populäre Formeln der Großstadt- und Kapitalismuskritik. So wie sich der vereinzelte Stadtmensch in den riesenhaften Steinwüsten New Yorks oder Berlins bewegt, entwurzelt und unerkannt, so agiert der egoistische Kapitalist in der Deckung eines eng verwobenen Netzes aus Kapitalgesellschaften. Die Kapitalismuskritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielte immer auf die Beseitigung des „anonymen Kapitals“. Solche antiurbanistischen Denkfiguren prägen bis heute das Verständnis des korporativen Kapitalismus.

Die Zeitgenossen brauchen zum Verständnis der als „irgendwie“ gefährlich wahrgenommenen unternehmerischen Großkomplexe starke Bilder, suchen visuelle Analogien?
Ja, und das funktioniert auch umgekehrt, mit positiv belegten Zuschreibungen: Dann wird das Unternehmen etwa als Familie dargestellt, im Sinne eines harmonischen Gegenmodells zum Moloch. Immer geht es darum, ein abstraktes juristisches Gebilde – den Konzern – sinnlich zu erden. Spätestens seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gibt es dafür hoch spezialisierte PR-Abteilungen. Sie sind ausschließlich damit befasst, ein positives, freundlich in die Öffentlichkeit strahlendes Bild des Unternehmens zu schaffen.

WERBUNG

Worin besteht die abstrakte Qualität von Kapitalgesellschaften, die nach visueller Verständlichkeit verlangt?
In der Fiktionalisierung der Rechtsträgerschaft. Der „normale“ Rechtsträger ist ein konkreter Mensch, ein Wesen aus Fleisch und Blut. Aber die Briefkastenfirmen zum Beispiel, über die heute so viel gesprochen wird, sind Gebilde, die gar nicht als sinnliche Erscheinung auftreten. In dem Moment, in dem man Kapitalgesellschaften, wie in den USA im ausgehenden 19. Jahrhundert, gestattet, Anteile an anderen Kapitalgesellschaften zu erwerben, kommt es zu einer Art Denaturierung des Personenbegriffs – mit Rückwirkungen auch auf den Status der natürlichen Person.


Inkarnation des Bösen

Die Verantwortlichkeit ist nicht mehr zurechenbar.
Richtig. Vor allen Dingen: Man weiß nicht mehr auf den ersten Blick, wer eigentlich handelt in dieser byzantinischen Struktur von Haupt-, Tochter-, Enkel- und Urenkelgesellschaften.

Was war der Grund für die Entmachtung der natürlichen durch die juristische Person?
Nicht zuletzt die Möglichkeit, mit relativ wenig Kapital sehr großen Einfluss entwickeln zu können, denn sie brauchen in der Regel nur die Hälfte des stimmberechtigten Kapitals an einem Unternehmen, um es beherrschen zu können. Und die Kapitalgesellschaft, die man unter Kontrolle gebracht hat, braucht ihrerseits wieder nur 50 Prozent, wenn sie andere erwirbt. Am Beispiel der New Yorker Verkehrsgesellschaften um 1900 kann man zeigen, wie innerhalb kurzer Zeit auf diese Weise etliche Unternehmen erworben werden, die weiterhin rechtlich selbstständig bleiben, auch wenn ein anderer, der Mehrheitsgesellschafter, die unternehmerischen Entscheidungen fällt. Nach außen hin wird das überhaupt nicht sichtbar, was natürlich von Vorteil sein kann. So machen es heute auch ausländische Investoren, wenn sie in Deutschland auf Einkaufstour gehen. Das Unternehmen bleibt nach außen intakt, mit Markennamen und Image, aber der eigentliche Akteur sitzt jetzt in Peking oder Dubai.

Sie beschreiben diese Verschleierung als Coup: Keine technische Innovation, sagen Sie, habe clevere, auch kriminelle Geschäftsleute zu Beginn des 20. Jahrhunderts so schnell so reich machen können wie die „Corporate Revolution“.
Richtig, erst auf ihrer Grundlage war es möglich, Kapital in großem Stil zu akkumulieren, zu investieren – und abzuschöpfen. Das ist elementar für die moderne Wirtschaft, auch für die Entwicklung von Infrastrukturprojekten wie der Eisenbahn oder für das weltweite Agieren von Unternehmen. Das mit den Konzernverschachtelungen einhergehende Unsichtbar-Werden von Macht führt eben nicht nur zu großem Wohlstand, sondern unter Umständen auch zu Manipulationen und Betrügereien: Man lädt das Publikum ein, in Gesellschaften zu investieren, aus denen das Kapital hernach abgezogen wird, um es in die eigene Tasche zu leiten.

Hier kommt die Visualisierung ins Spiel: Die Kritik am korporativen Kapitalismus wird in das Sinnbild des Konzernkraken übersetzt. Weshalb hat das so gut funktioniert?
Weil Bild und Wirklichkeit einander so ähnlich sind. Bestimmte Merkmale seiner Anatomie und seines Verhaltens haben den Kraken zur emblematischen Figur des Kapitalismus prädestiniert. Das gilt für seine erstaunliche Beweglichkeit: Er kann sich dehnen und schrumpfen. Aber auch für seine Anpassungsfähigkeit: Er kann sich tarnen, kann sich dem Blick entziehen. Wobei das Zentrum der Handlung, das Gehirn, immer in der Mitte ist. Die eigentlichen Handlungen vollziehen sich über die Greifarme, weit entfernt vom Zentrum. Die Analogie zu Konzernstrukturen ist schlagend: Es gibt eine Muttergesellschaft, die über ihren Einfluss auf Tochtergesellschaften an ganz anderer Stelle, in weiter Ferne handelt, ohne als Zentrum erkennbar zu sein.

Spielt auch eine Rolle, dass der Krake diffuse Ängste mobilisiert?
Unbedingt, seit dem 19. Jahrhundert gilt er als Inkarnation des Bösen. Seine Karriere korrespondiert mit dem Aufstieg des Marxismus-Leninismus und des Nationalsozialismus, der zum Teil eine stark antikapitalistische Stoßrichtung hat. Beide sind Anti-Kraken-Parteien. Ebenso wie der Progressivismus um Theodore Roosevelt, den ersten „modernen“ Präsidenten der USA.

Und zu den Fußtruppen der antikapitalistischen Politik gehören die Journalisten...
...die den Kampf aufnehmen mit dem Kraken. Das ist damals eine Riesenherausforderung für den Wirtschaftsjournalismus in den USA: diese neuen, hochkomplexen Phänomene so darzustellen, dass die Leser sich dafür interessieren. Den Cartoonisten fällt das leicht. Der Krake wird zu ihrem Favoriten, wenn es darum geht, die Staat und Gesellschaft unterlaufende Macht der Konzerne ins Bild zu setzen. Die Visualisierung der anonymen, unsichtbaren Macht ist dabei immer Aufklärung und Dramatisierung zugleich. Man darf nicht vergessen: Unter den Immigranten im explosionsartig wachsenden New York um 1900 gibt es unendlich viele, die kein Englisch verstehen oder Analphabeten sind. Die Sprache der Cartoons hat jeder begriffen.


Transparenzgedanken gegen den Kapitalismus

Hat der Krake auch in Deutschland Karriere gemacht, wo die Entwicklung zum korporativen Kapitalismus etwas später eingesetzt hat als in den USA?
Durchaus, aber die sehr strittige Diskussion um die Zulässigkeit der GmbH & Co. KG entzündete sich zunächst an der Frage, ob Kapitalgesellschaften Gesellschafter von Personengesellschaften sein können. Das haben viele Juristen nicht ganz zu Unrecht als problematisch empfunden, als eine Art von Camouflage, denn das hohe Ansehen einer Personengesellschaft basiert gerade auf dem Kredit der natürlichen Person. Aber wenn man sich die Sprache der Juristen genauer anschaut, stellt man fest, dass bei ihrer Kritik nicht nur sachliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen, sondern auch ästhetische: Ihre Aversion gegen die Verbindung von Kapital- mit Personengesellschaften speist sich aus einem in Deutschland besonders wirksamen Reinheitsfetisch, aus einem puristischen Metadiskurs, der nicht nur im Denken des deutschen Bildungsbürgertums seine Spuren hinterlässt, sondern auch in der Architektur, in der Literatur, in der Ökonomie.

Für die Unternehmen heißt das: Sie bekommen ein Problem mit ihrer Imagepolitik.
So ist es. Große Gesellschaftskonglomerate können nicht mehr, wie es traditionell üblich war, als junge, makellose, göttliche weibliche Lichtgestalten dargestellt werden. Auch das Familienmodell kommt bei derart hybriden Rechtsformen an sein Ende, es wirkt einfach unglaubwürdig. Das zeigt: Die Metaphernlage ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Kritiker des Kapitalismus günstiger als für seine Freunde.

Und sie hat fortgewirkt in die zweite Jahrhunderthälfte. Die Reinheitsmetapher, die von den Nazis aus rassenideologischen Gründen gespielt wurde, war, wie Sie sagen, auch nach dem Krieg anschlussfähig. Kann man den Ordoliberalismus als Fortsetzung des Reinheitsgebots mit anderen demokratischen Mitteln bezeichnen?
Jedenfalls ist auch er Teil der Anti-Kraken-Bewegung, seine Anfänge weisen ja in die Zeit von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit. Dazu passt, dass er das Bild der „Stunde Null“ pflegte, auch dass er sich mit der „guten“ Bundesrepublik gleichsetzte vor dem Hintergrund des „bösen“ Nationalsozialismus. Dabei stand er ursprünglich regulatorischen Systemen viel näher als marktliberalen. Wir übersehen gern, dass es von den Zwanzigerjahren bis in die frühe Bundesrepublik und die Sechzigerjahre eine intellektuelle Linie gibt, ein Denkschema, das den Reinheits- und Klarheitsimperativ gegen den Kapitalismus stark macht: den Transparenzgedanken.

Sie sprechen sogar von einer ordnungspolitischen „Glaskultur“ des Ordoliberalismus.
Ja, alles Chaotische, Unübersichtliche, wozu auch die Verschachtelungen der Kapitalgesellschaften gehörten, war Leuten wie Müller-Armack zuwider. Bei Fragen der Haftung sollte der Verantwortliche nicht hinter einem Meer von Tochterunternehmen verschwinden, sondern für seine Handlungen sichtbar geradestehen. Das ist eine durchaus erwägenswerte, sachlich gut begründete Forderung angesichts der Exzesse korporativer Praktiken. Trotzdem weiß man nie genau, ob es die Kraft des Arguments ist, die hier den Autor motiviert, oder ob die Macht der Bilder, die Kontinuität der Reinheitsidee, seiner Argumentation die Richtung vorgibt.

Ist das Anti-Kraken-Bild der Transparenz bis heute die dominante Denkfigur? Oder haben wir in der Finanzkrise nicht das Gegenteil erlebt: dass Machtstrukturen und Risiken systematisch versteckt wurden von der Bankenbranche und die Sensibilität für Transparenz und Ordnung verloren ging?
Verglichen mit Großbritannien und den USA, ist diese Sensibilität in Deutschland immer noch ausgeprägt. Die Deregulierung der Märkte und die postmoderne Ästhetik mit ihrer Nobilitierung der Unübersichtlichkeit muss man als Parallelveranstaltung verstehen, die, in den Achtzigerjahren hierzulande abgeschwächt, mit einer gewissen Verzögerung ankommt. Statt Ronald Reagan und Margaret Thatcher haben die Deutschen Helmut Kohl bekommen, die Pfälzer Variante des Postmodernismus. Es gibt ein Zitat des Gründers von Transparency International, Peter Eigen, eines Deutschen. Als es darum ging, einen Namen für diese Anti-Korruptions-Organisation zu finden, hat er sofort Transparency, Klarheit, vorgeschlagen. Ausländische Kollegen wandten darauf ein: „Bei diesem Begriff denke ich an Kondome. Besser wäre Honesty oder Integrity.“

Kondome? Diese Assoziation hätten wir auch nicht gehabt.
Sehen Sie, vielleicht weil Sie Deutsche sind. Für uns hat die Nachkriegsmoderne, die Anknüpfung ans Bauhaus, etwas Reinigendes gehabt: Die Betonung der Glasbauweise im Unterschied zur repräsentativen Steinarchitektur der Nationalsozialisten, die Idee der Transparenz hat den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik, auch die kollektive Identität der Westdeutschen stark geprägt.

Wir wurden Weltmeister darin, selbst durchsichtig sein zu wollen?
So ist es.

KONTEXT

Zur Person

Daniel Damler

Daniel Damler, 41, ist Privatdozent an der Universität Tübingen, assoziierter Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und Rechtsanwalt in der Sozietät Schilling, Zutt & Anschütz.