Werbung
Deutsche Märkte geschlossen
  • Nikkei 225

    37.628,48
    -831,60 (-2,16%)
     
  • Dow Jones 30

    37.983,47
    -477,45 (-1,24%)
     
  • Bitcoin EUR

    60.152,06
    +404,36 (+0,68%)
     
  • CMC Crypto 200

    1.392,90
    +10,32 (+0,75%)
     
  • Nasdaq Compositive

    15.560,85
    -151,90 (-0,97%)
     
  • S&P 500

    5.035,08
    -36,55 (-0,72%)
     

Kein Land für junge Leute: Wie die Coronakrise das Jobproblem in Italien verschärft

Keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, keine Chance auf einen Ausbildungsplatz: In Italien wächst eine verlorene Generation heran. Und in der Politik haben die Jungen keine Lobby.

In Italien nennt man sie die „precari“. Das ist das Heer der 20- bis 35-jährigen Menschen, die keine feste Stelle haben oder in einer Ausbildung sind und entsprechend schlecht verdienen. Menschen, die sich von Job zu Job hangeln, mal drei Monate, mal länger, mal kürzer. Menschen ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Es sind viele. In ganz Europa gehören laut Eurostat 2,3 Prozent der arbeitenden Bevölkerung zum Prekariat, in Italien sind es 3,4 Prozent. Ende 2019 waren es 3,1 Millionen junge Menschen. Damit wurde „ein historischer Höchststand für Italien“ erreicht, wie das Statistikamt Istat ermittelte.

Mit der Pandemie und dem langen Lockdown sowie dem Produktionsstopp hat sich das Problem der „precari“ drastisch verschärft. In Massen verlieren diese Menschen ihre Jobs. Es sind Menschen wie Fabio Acernese, der am römischen Flughafen Fiumicino für einen externen Dienstleister beim Check-in arbeitete.

WERBUNG

Der 30-Jährige hatte Zeitverträge, die jeweils über vier oder acht Monate liefen, mit einem Gehalt von 900 Euro. Der Dienstleister rief ihn an, wenn er jemanden brauchte. Doch seit März sitzt Acernese zu Hause, mit ihm sind es rund 4000 Saisonkräfte allein in Fiumicino. „Die neuen Unsichtbaren“ nennt man sie auch in Italien.

Von heute auf morgen ohne Job sind auch die Vielzahl der Verkäufer, Hotelangestellten, Kellner und Fremdenführer. Es gibt so gut wie keine Touristen, kaum Konsum und somit auch keinen Job.

„Ich musste meine Empfangsdame und die anderen Hilfskräfte entlassen, alle unter 30, denn die rechnen sich nicht für mich bei den paar Gästen, die kommen“, sagt Antonio Maccarese, dem ein kleines Hotel in Trastevere gehört. Gehen müssen die, die schlecht abgesichert sind. Ihre Chancen auf einen neuen Job tendieren in der Rezession gegen null.

Geburtenrate geht drastisch zurück

Und so verstärkt sich die Fragmentierung der Gesellschaft. Italien ist ein altes Land, mit vielen Pensionären und wenigen Kindern. Viele EU-Staaten verzeichnen einen Bevölkerungsrückgang und eine zurückgehende Geburtenrate, doch in Italien ist sie besonders augenfällig. Allein in diesem Jahr wird es laut dem Jahresbericht von 2020 von Istat 10.000 weniger Geburten geben, im nächsten Jahr bis zu 40.000. Der Grund seien die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, sagen die Statistiker.

Corona und die verheerenden wirtschaftlichen Folgen haben die Strukturprobleme Italiens drastisch verschärft. „Die Pandemie hat die ohnehin schon bestehende Ungleichheit noch verstärkt“, sagt Linda Laura Sabbadini, Direktorin bei Istat, „das gilt bei der Arbeit, in der Gesellschaft und in der Schule“.

In der Politik haben die Jungen keine Lobby. Es gibt zwar einen Minister, der neben Sport auch für Jugend zuständig ist, aber sein Einfluss ist begrenzt. Bei Wahlen wird um die Stimmen der Alten geworben, denn die haben Einfluss, Vermögen und sind viele.

Seit Langem spottet man in Europa über die „mammoni“, die jungen Italiener, die zu Hause bei der „Mamma“ wohnen, sich versorgen lassen und erst mit 40 Jahren finanziell von ihren Eltern unabhängig werden. Doch angesichts der Zukunftsangst, der prekären Arbeitsverhältnisse und der Rezession wird deutlich, dass es um reine wirtschaftliche Not geht. Wer nicht verdient, kann sich auch keine Wohnung leisten und eine Familie gründen. Im Süden Italiens ist das Phänomen beinahe flächendeckend.

Die Arbeit ist das größte Problem der jungen Generation in Italien. Das heißt die Schwierigkeit, überhaupt einen Job zu bekommen, möglichst eine unbefristete Arbeitsstelle. Dazu kommt als zweites Problem die Bildungsmisere, die sich durch die in der Coronakrise lange geschlossenen Schulen verschlimmert. Und als drittes Problem die Schuldenlast des Landes, für die letztendlich die Jungen aufkommen müssen. Mit Generationengerechtigkeit hat das nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: In Italien wächst eine verlorene Generation heran.

Beispiel Arbeitslosigkeit

Unter den bis 25-Jährigen hat die Arbeitslosigkeit in den letzten Monaten am stärksten zugenommen. Der Ökonom Tito Boeri ist noch präziser: „Die Hälfte der Arbeitsplätze, die durch Covid-19 zerstört wurden, betraf Menschen unter 35, obwohl die Beschäftigten in dieser Altersgruppe gerade ein Viertel aller Beschäftigten ausmachen“, so der frühere Chef der staatlichen Sozialversicherung Inps, der Staatlichen Anstalt für soziale Fürsorge.

Der Rückgang habe keine demografischen Gründe – weil es weniger junge Menschen gebe –, sondern es gehe um Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, die nach Ablauf nicht verlängert worden seien – eben die „precari“. Nie habe eine Rezession einen derart asymmetrischen Verlauf in Bezug auf die Altersgruppen gehabt.

Schon lange ist die Jugendarbeitslosigkeit in Italien mit 23,5 Prozent im Europadurchschnitt hoch. Und der strukturell rigide Arbeitsmarkt mit der Begünstigung älterer Festangestellter war schon vor der Pandemie ein Problem. Viel Staatsgeld verschlang die Regelung zur Frühpensionierung, die die Populistenregierung vor zwei Jahren eingeführt hatte.

Nach der „Quota 100“ kann man mit 38 Beitragsjahren und 62 Jahren in Rente gehen. Doch die Rechnung der Regierung, das für jeden Frühpensionär gleich mehrere Junge eingestellt würden, ging nicht auf.


„Es wird in Zukunft nicht einfach sein, die Tragfähigkeit der Pensionskosten zu gewährleisten, die aktuell bei über 293 Milliarden Euro im Jahr liegen, das sind 16,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“, schreibt Paolo Zabeo vom Studienzentrum CGA in Mestre.

„Mit leeren Wiegen und einem immer höheren Durchschnittsalter werden wir in den kommenden Jahrzehnten eine weniger innovative, dynamische Gesellschaft haben, deren Konsum ständig sinkt.“ Aktuell gibt es in Italien 16 Millionen Pensionäre und 23 Millionen Beschäftigte.

Die desolate Lage der Jungen spielt der Mafia in die Hände, die vor Ort, im Süden, Nachwuchs rekrutiert. Innenministerin Luciana Lamorgese warnt, dass die organisierte Kriminalität sehr schnell ihre Strategie geändert hat und Familien und Jugendlichen mit Liquidität aushilft, für die dann später Gegenleistungen verlangt werden.

Was man dagegen tun kann? Ökonom Boeri sagt: „In einem Land, in dem in einigen Gegenden die Jugendarbeitslosigkeit 50 Prozent erreicht, ist es einfach wichtig, die Kinder von der Straße zu holen. Spielplätze, Bolzplätze, Schwimmbäder, man braucht Orte des Zusammenkommens, ohne viel Zement.“

Beispiel Bildungsmisere

Seit Anfang März sind in Italien die Schulen geschlossen. Für die vorgesehene Öffnung Mitte September fehlen durchdachte Ablaufpläne. Der Fernunterricht läuft, scheitert aber in vielen Landesteilen an technologischen Hürden. Nur eine Zahl: Im Süden haben 40 Prozent der Familien keinen PC.

Das sind keine guten Voraussetzungen, um den Akademiker-Rückstand aufzuholen. Die drittgrößte Volkswirtschaft in Europa hat im Durchschnitt eine der niedrigsten Raten an Schulabgängern und Universitätsabsolventen. Auch die Universitäten sind geschlossen. Da die Chancen nach dem Studium gering sind, ist die Abwanderung guter Fachkräfte ins Ausland seit Jahren hoch.

Und am unteren Ende sind die, die gar nicht arbeiten. Auch hier hat Italien einen traurigen Rekord in Europa. Mehr als 28 Prozent der 20- bis 34-Jährigen zählen laut Eurostat vom März zu den sogenannten NEETs (Not in Education, Employment or Training). Das sind Menschen, die weder in Ausbildung noch in der Arbeit oder auf der Schule. Im Europadurchschnitt sind es 16,5 Prozent.

Schuldenlast

Durch Corona steigt die chronisch hohe Staatsverschuldung Italiens noch weiter an. Laut der Ratingagentur Fitch wird sie Ende 2020 auf 160 Prozent ansteigen und bis 2024 auf dem Niveau bleiben. Viele Politiker warnen: Die Enkel müssen zahlen und für die Pensionslast aufkommen.

Dass die Jungen ärmer sein werden als ihre Eltern, ist ein europaweites Problem. Die relative wirtschaftliche Position junger Menschen zwischen 20 und 39 Jahren sei im Vergleich zu allen Erwachsenen in 23 von 31 Ländern zurückgegangen, ist das Ergebnis einer Studie für das European Demographic Data Sheet 2020 des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dazu zählen außer den Niederlanden alle Länder in West-, Süd- und Nordeuropa.

„Schlecht bezahlte und instabile Arbeitsplätze, unbezahlbarer Wohnraum, sinkende relative Einkommen sowie Sorgen um die Zukunft: Der anhaltende wirtschaftliche Druck und die Unsicherheiten, mit denen junge Erwachsene in vielen Ländern konfrontiert sind, tragen zum Trend der sinkenden Geburtenraten bei“, heißt es in der Studie – in die der Corona-Effekt noch nicht eingerechnet ist.

„Next Generation EU“ heißt das gerade beschlossene Hilfspaket der EU. Im Sinn der Generationengerechtigkeit dürfte die Entscheidung, wie die geplanten Schulden zurückgezahlt werden, nicht in die Zukunft verschoben werden.

In Italien gibt es noch einen weiteren Effekt der Coronakrise: Die Pandemie verändert den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft – eine neue Kluft zwischen Alt und Jung ist entstanden, und der von den Populisten seit Langem geschürte Hass auf alles Fremde verbreitet sich.

Da wird auf der einen Seite kritisiert, dass junge Leute die Sicherheitsregeln nicht befolgen und wie in Mailand unbekümmert am Abend den Aperitivo genießen, ohne Maske und ohne Abstand. Auf der anderen Seite ergab eine Umfrage, dass die Mehrzahl der befragten jungen Menschen dafür ist, dass für die Behandlung von Alten weniger Geld ausgegeben werden soll.

Einen „neuen Egoismus“ in Europa in der Coronakrise hat Kardinal Jean-Claude Hollerich ausgemacht, der Vorsitzende der EU-Bischofskommission COMECE: „Wir müssen den neuen Generationen gegenüber fair sein. Wir brauchen Generationengerechtigkeit: Wir müssen den jungen Menschen ein Land hinterlassen, in dem sie leben, glücklich sein und den Sinn ihres Lebens finden können.“