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Der Kampf um den Pharma-Jackpot

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Die Krankenkassen in Europa wie auch etliche Pharmahersteller haben auf diesen Tag lange gewartet. Der Patentablauf beim Pharma-Spitzenprodukt Humira am gestrigen Mittwoch eröffnet für die Kassen eine Chance, die Arzneimittelbudgets zu entlasten. Für mehrere Pharmakonzerne ist das Potential noch größer: sie hoffen auf das große Geschäft mit so genannten Biosimilars, den Nachahmer-Kopien von biotechnisch hergestellten Medikamenten.

Denn im Fall Humira geht es nicht um eine Allerwelts-Arznei, sondern gewissermaßen um den Jackpot im Pharmageschäft. Das Medikament gegen Rheuma und diverse andere entzündliche Immunerkrankungen wie Morbus Crohn und Schuppenflechte, das bisher exklusiv vom US-Konzern Abbvie produziert und vertrieben wird, ist – mit inzwischen etwa 20 Milliarden Dollar Jahresumsatz – das kommerziell mit Abstand erfolgreichste Medikament der Welt.

Alleine die deutschen Krankenkassen haben 2017 für das Rheumamittel von Abbvie fast eine Milliarde Euro ausgegeben, das entspricht fast drei Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben. Weltweit erzielte der US-Konzern Abbvie mit dem Mittel im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 18,4 Milliarden Dollar (umgerechnet gut 16 Milliarden Euro), hinzu kommen etwa 400 Millionen Dollar Umsatz beim japanischen Lizenznehmer Eisai.

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Entsprechend intensiv dürfte auch der Konkurrenzkampf unter den Generikaanbietern ausfallen, wie jetzt auch die ersten publizierten Preise für die Nachahmer-Produkte bestätigen. So bietet der US-Konzern Biogen seine Humira-Kopie Imraldi nach eigenen Angaben um bis zu 40 Prozent unter dem Listenpreis der Originalherstellers an. Entwickelt wurde der Wirkstoff von Samsung Bioepis, einem Joint Venture, das Biogen und die koreanische Samsung Biologics 2012 eigens für die Entwicklung von Biosimilars gegründet haben. Das Joint Venture mit Sitz in Korea hat zuvor bereits zwei weitere Biosimilars gegen Rheuma durch die Zulassung in Europa gebracht, die ebenfalls von Biogen vertrieben werden.

Mit der Humira-Kopie geht der US-Konzern nun besonders offensiv in den Markt: Gegenüber Jahrestherapiekosten von derzeit 21.300 Euro laut Listenpreis für Humira ergibt sich damit für die deutschen Krankenkassen ein Sparpotenzial von fast 7,900 Euro pro Patient und Jahr, rechnet Biogen vor. „Wir entlasten damit das Gesundheitssystem und schaffen Freiräume für die Behandlung neuer Indikationen mit innovativen Medikamenten“, heißt es bei dem Biotechunternehmen, das unter anderem auch Mittel für die Behandlung von Multipler Sklerose und Muskelatrophie vertreibt.

Ein solcher Preisabschlag gilt als ungewöhnlich hoch im Bereich der Biosimilars, Üblich sind bei Markteinführung bisher eher Abschläge von zehn bis 20 Prozent. Denn anders als bei klassischen, chemisch synthetisierten Wirkstoffen geht es bei den Biotechmedikamenten um komplizierte Eiweißmoleküle, die mit Hilfe genmodifizierter Zellkulturen produziert werden. Die Entwicklung und Produktion ist daher auch für die Nachahmer wesentlich aufwendiger. Sie müssen eigene klinische Studie durchführen.

Humira indessen ist angesichts des großen Marktvolumens ein besonders attraktives Produkt. Neben Biogen sind auch der US-Biotechkonzern Amgen und die Novartis-Tochter Sandoz unmittelbar nach Patentablauf in Deutschland und Europa mit eigenen Humira-Biosimilars angetreten. Amgen unterbietet den Originalpreis bisher allerdings nur um etwa 18 Prozent, Sandoz liegt 21 Prozent unter dem Originalpreis.

Für beide dürfte das aber nicht das letzte Wort sein. „Wir werden uns dem Preiswettbewerb stellen“, sagte ein Sprecher der Sandoz-Tochter Hexal. Über Rabattverträge, die die Hersteller mit den Kassen vereinbaren, dürften die Preise zusätzlich abrutschen. Die darin vereinbarten, aber nicht publizierten Konditionen bewegen sich in der Regel um mindestens zehn Prozent unter den offiziellen Listenpreisen.

In Kürze dürfte auch der amerikanisch-niederländische Pharmahersteller Mylan mit seiner Humira-Kopie Hulio antreten. Der deutsche Pharmahersteller Boehringer, der ebenfalls eine Zulassung für ein Humira-Biosimilar hält, verzichtet dagegen auf eine Markteinführung seines Mittels Cyltezo in Europa aufgrund patentrechtlicher Auseinandersetzungen mit Abbvie in den USA.

Eine Reihe weiterer Unternehmen, darunter auch Fresenius und der US-Konzern Pfizer haben Biosimilars zu Humira in der klinischen Entwicklung oder bereits zur Zulassung eingereicht. Weltweit arbeiten nach Branchenangaben rund 30 Firmen an Nachahmer-Produkten zu dem Biotech-Wirkstoff.

Seine medizinische Wirkung entfaltet Humira durch die Hemmung des Tumor-Nekrose-Faktors (TNF), eines Signalmoleküls, das Entzündungsprozesse im Körper maßgeblich reguliert. Diese Blockade von TNF hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte als außerordentlich erfolgreiche Therapie gegen Rheuma und andere so genannte Auto-Immunerkrankungen erwiesen, bei denen Entzündungsprozesse aus dem Ruder laufen.

Neben Humira sind mit den Medikamenten Enbrel und Remicade zwei weitere TNF-Blocker auf dem Markt. Sie erzielen ebenfalls Milliardenumsätze, kommen aber an den Markterfolg von Humira nicht heran.

Rund sechs Milliarden Dollar nahm Abbvie zuletzt außerhalb der USA ein. Der Europa-Umsatz mit Humira wird auf umgerechnet etwa 3,5 Milliarden Euro geschätzt. Aber selbst dieses Teilsegment des globalen Humira-Geschäfts bietet für die Nachahmer-Produzenten eine hochattraktive neue Marktgelegenheit.

Das Rheuma-Mittel wird damit zum einem gewichtigen Testfall für den künftigen Wettbewerb im Biotechsektor. Zugleich zeigt der intensive Wettbewerb um das Biosimilargeschäft, dass sich die Grenzen zwischen Pharma- und Generikabranche nach und nach verschwimmen. Den Löwenanteil des Geschäfts mit den Humira-Kopien, so zeichnet sich ab, werden nicht spezialisierte Generikafirmen bestreiten, sondern etablierte Pharma- und Biotechkonzerne, die wie Amgen, Biogen oder Novartis selbst innovative Arzneimittel entwickeln.

Zwei Milliarden Euro Sparpotenzial

Wie stark sich die Marktanteile verschieben, bleibt vorerst offen. Mit Spannung warten Branchenbeobachter nun, wie Abbvie auf die aggressiven Einstiegspreise der Nachahmer reagieren wird. Bisher will sich der US-Konzern dazu nicht äußern.

Ian Henshaw, der Chef der Biosimilar-Sparte von Biogen, geht davon aus, dass die neue Konkurrenz innerhalb von zwei Jahren 60 bis 70 Prozent des Marktes erobern werden. In Nordeuropa könne der Anteil bis 90 Prozent erreichen. „Für die europäischen Krankenkassen ergibt sich ein Sparpotenzial von 1,9 bis zwei Milliarden Euro“, glaubt Henshaw.

Beim Rheumamittel Enbrel entfielen nach Daten des Marktforschers Insight Health im zweiten Jahr nach Patentablauf in Deutschland 47 Prozent der Verordnungen auf die Nachahmer-Produkte, bei Remicade waren es immerhin gut 61 Prozent.

Allerdings sorgen die preiswerteren Biosimilars in aller Regel auch für eine Ausweitung des Marktes. Ärzte neigen dazu, die Produkte intensiver zu verordnen, wenn die Therapiekosten weniger hoch sind. So verweist das wissenschaftliche Institut der AOK (Wido) darauf, dass das Rheumamittel Enbrel nach Patentablauf 19 Prozent häufiger verordnet wurde, beim Mittel Remicade (Infliximab) betrug das Wachstum sogar 48 Prozent.

Ein ähnlicher Effekt dürfte auch bei Humira eintreten. Diese Entwicklung wiederum könnte den Spareffekt aus dem Preisverfall ein Stück weit dämpfen.

Denn das Marktpotenzial für TNF-Blocker ist groß. So gehen Schätzungen davon aus, dass insgesamt etwa zwei Prozent der Bevölkerung an entzündlichen rheumatischen Erkrankungen leiden, ein Drittel davon an schwereren Formen, für die eine Therapie mit TNF-Blockern theoretisch in Frage kommt.

Aber nur etwa ein Fünftel dieser mehr als 500.000 Patienten in Deutschland wird bisher mit den modernen TNF-Blockern behandelt, etwas mehr als 40.000 davon mit Humira. Jürgen Braun, der ärztliche Direktor des Rheumazentrums Ruhrgebiet und Inhaber des Lehrstuhls für Rheumatologie an der Ruhruniversität Bochum, rechnet daher mit weiter steigenden Behandlungszahlen. „Je stärker sich die Biosimilars etablieren und Ärzte ihre Hemmung verlieren, diese Produkte zu verordnen, desto mehr Rheumakranke werden auch mit den Wirkstoffen behandelt.“

Die TNF-Blocker zeichnen sich dadurch aus, dass sie Entzündungsprozesse effektiver und vor allem mit weniger Nebenwirkungen dämpfen als etwa der klassische Wirkstoff Kortison. „Die Krankheitsaktivität wird durch diese Wirkstoffe im Schnitt erheblich reduziert“, so Rheuma-Experte Braun. Rheumakranken bieten sie daher eine deutlich bessere Lebensqualität. Zudem senken sie das Risiko für Folgeschäden der Entzündungsprozesse wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich.

Alles in allem eröffnet sich damit für die Biosimilar-Produzenten ein Markt mit längerfristigem Wachstumspotenzial. Wie stark der Preisverfall dabei weitergeht, dürfte unter anderem von den jeweiligen Produktionskosten für die Biotechprodukte abhängen.

Patent-Dickicht

Hinzu kommt im Falle Humira das Problem, dass Abbvie sein Geschäft offenbar mit einer besonders aggressiven Patent-Strategie abgesichert hat. Um sich gegen mögliche Patentrisiken abzusichern, haben sich alle vier Biosimilar-Anbieter auf einen Vergleich mit dem US-Konzern eingelassen. Sie erhielten in diesem Zuge grünes Licht für die Vermarktung ihrer Produkte in Europa, zahlen dafür aber zunächst noch in gewissem Umfange Lizenzgebühren an Abbvie und haben sich außerdem mit Abbvie darauf geeinigt, ihre Produkte auf dem weitaus lukrativeren US-Markt erst Anfang oder Mitte 2023 einzuführen.

Der kommerzielle Effekt des Patentablaufs wird sich daher für Abbvie vorerst in Grenzen halten. Während das Geschäft in Europa angesichts der neuen Konkurrenten unter Druck geraten wird, dürfte es in den USA weiter zulegen. Im laufenden Jahr dürfte der Umsatz mit Humira trotz erster Generikakonkurrenz um weitere mehr als zehn Prozent zulegen und mühelos die 20-Milliarden-Dollar Schwelle überschreiten.

Denn auf dem heimischen US-Markt, wo Abbvie zwei Drittel der Humira-Erlöse verbucht, muss der US-Konzern dank einer starken Patent-Position vorerst offenbar keine Konkurrenz fürchten. Die britische Analysefirma Evaluate Pharma geht daher davon aus, dass der Marktführer erst ab 2023 angesichts der dann aufkommenden US-Konkurrenz auch auf dem Heimatmarkt stärker unter Druck geraten und der Umsatz im Folgejahr auf etwa 15 Milliarden Dollar fallen werde.

„Wir haben ein außerordentlich robustes Patent-Portfolio, das unser Investment in die Entwicklung und Produktion von Humira schützt“, verteidigte Firmenchef Rick Gonzales die zweigleisige Abwehrstrategie gegen die Nachahmer.

Allerdings sind sich nicht alle Beobachter einig, ob der Patentschutz in den USA wirklich so lange halten wird. Bei Boehringer Ingelheim gibt man sich kämpferisch spricht man von einem „Patent-Dickicht“ aus Hunderten von überlappenden Patenten, mit denen sich Abbvie umgeben habe. So war es dem US-Pharmariesen schon gelungen, den ursprünglichen Patentablauf des Wirkstoffs im Jahr 2016 um zwei Jahre hinauszuzögern.

Anders als die Konkurrenten lässt sich Boehringer bisher von dem US-Patentdickicht nicht abschrecken. Der Konzern ist der einzige Hersteller mit einem von der FDA zugelassenen Humira-Biosimilar, der sich nicht auf einen Vergleich mit Abbvie verständigt hat. „Wir sind entschlossen, Cyltezo den amerikanischen Patienten so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen, und dies sicherlich vor 2023“, erklärte eine Sprecherin des Konzerns.

Würde das dem Ingelheimer Konzern tatsächlich gelingen, hätte er deutlich mehr zu gewinnen als in Europa.