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Wie die Kalifornier ihren Corona-Erfolg verspielten

Bis Juni war der größte US-Bundesstaat ein Vorbild im Kampf gegen Corona. Doch jetzt steigen die Fallzahlen drastisch. Was ist schiefgelaufen?

Die Espresso- und Weinbar Breck’s liegt in San Franciscos Bezirk Inner Richmond, zwischen Golden Gate Bridge und Golden Gate Park. Jeden Tag unterhält Breck’s Kunden und Flaneure mit wechselnden Witzen und Karikaturen im und vor dem Schaufenster. In den vergangenen Wochen ist der Humor apokalyptischer geworden.

Im Fenster hängt nun ein mit Photoshop bearbeiteter Ausdruck des berühmten Selbstporträts von Vincent van Gogh. Ein Mundschutz baumelt an van Goghs verbliebenem Ohr, was der niederländische Künstler mit „Ach, Mist“ („Well, Crap“) kommentiert. Und auf der Tafel, die der Betreiber jeden Morgen auf den Boulevard vor die Tür stellt, ersinnt er einen Film „2020“ – „Drehbuch von Stephen King, Regie von Quentin Tarantino“. Eine fiktive Koproduktion zweier Künstler, die Angst, Horror, Blut und Tod verspreche.

Denn die anfänglichen Erfolge bei der Eindämmung des Virus, die der bevölkerungsreichste Bundesstaat der USA zunächst feierte, scheinen seinen Politikern und Bewohnern seit einigen Wochen durch die Finger zu rinnen. Und schuld daran ist nicht mehr nur der in Kalifornien mit Verve gehasste US-Präsident Donald Trump, sondern es sind auch die Kalifornier selbst.

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Lagen die Fallzahlen pro Kopf vor wenigen Monaten noch auf einem Niveau mit Deutschland, ist die Gesamtzahl der berichteten Covid-Ansteckungen in Kalifornien bei etwa halber Bevölkerung inzwischen fast doppelt so hoch wie in Deutschland.

Seit der Staat Mitte Juni die Wiedereröffnung einleitete, ist die Zahl der neuen Covid-Fälle rasant gestiegen. Lag sie in dem Staat mit 40 Millionen Einwohnern Ende Mai noch bei unter 2000 pro Tag, waren es am Montag mehr als 8500. Über die Hälfte aller mehr als 326.000 Infektionsfälle seit Beginn der Pandemie fallen in die sechs Wochen seit Anfang Juni.

Seit jeher die Heimat der Grenzgänger

Damit ist Kalifornien auch ein warnendes Beispiel, wie eine Gesellschaft jeden Erfolg in der Coronakrise mit Selbstgefälligkeit zerstören kann. Und wie die Krise jeder Gesellschaft die Disziplin eines Marathonläufers abfordert. Optimismus ist das Grundgefühl, das Kalifornien und seine nördlichste Metropole San Francisco im Besonderen ausmacht. Die vage Hoffnung auf Gold trieb die Siedler an der Frontier im 19. Jahrhundert überhaupt erst ans westliche Ende des Kontinents.

Ein bisschen Glücksritter sind die Menschen zwischen San Francisco und San Diego immer geblieben – ob sie nun mit Hauptrollen in Hollywood oder Halbleitern in Palo Alto reich werden oder mit harter Arbeit einem ärmlichen Leben südlich der US-Grenze entfliehen wollen. Levi Strauss, Carl Laemmle und Walt Disney, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Elon Musk – Kalifornien war seit jeher die Heimat der Grenzgänger.

Blickt man auf die Aktienkurse der ikonischen kalifornischen Konzerne, scheint alles in bester Ordnung: Die Papiere von Apple, Google, Facebook und Netflix stehen alle auf oder nahe ihrem Jahreshoch. Daran haben auch die stark gestiegenen Infektionszahlen in Kalifornien nichts geändert. Teslas Kurs hat sich seit Jahresbeginn verdreifacht, obwohl der Autobauer zwischenzeitlich sein Hauptwerk in Fremont schließen musste und sein Chef Elon Musk gegen die „faschistischen“ Anti-Corona-Maßnahmen wütete.

Gleichzeitig aber nagen die Corona-Pandemie und die bald vier Monate unentwegten Ausgangssperren an der kollektiven Psyche des „Golden State“.

„Wir werden die Kurve wieder nach unten biegen“

Obwohl die neuen Fälle zunehmend junge, häufig resilientere Menschen sind, lag die Zahl der Todesfälle in Kalifornien an mehreren Tagen im Juli bereits über 100. Pro Kopf ist Kalifornien zwar weniger hart getroffen als Staaten wie Arizona oder Florida, wo eine Laisser-faire-Haltung in der Bevölkerung auf eine chaotische politische Führung trifft, die wie Trump den Rat von Experten geringschätzt. Doch auch Kaliforniens demokratischer Gouverneur Gavin Newsom musste Anfang der Woche einen politischen U-Turn hinlegen: Friseursalons, Gotteshäuser und Geschäfte, die nicht lebensnotwendige Produkte verkaufen, müssen wieder schließen.

Restaurants und Cafés dürfen ihre Gäste nur noch unter freiem Himmel bedienen. „Wir haben die Kurve schon einmal nach unten gebogen. Wir werden sie wieder nach unten biegen“, sagt Newsom. Wie sich die kalifornische Wirtschaft dabei schlägt, ist zentral für die US-Wirtschaft, denn der Bundesstaat hat mit fast 15 Prozent den größten Anteil an der amerikanischen Wirtschaftskraft.

In den ersten Monaten der Corona-Pandemie war Kalifornien der Klassenbeste, das goldene Gegenbeispiel zu den Pleiten, Pech und Pannen der Trump-Regierung bei der Eindämmung des Virus. Newsom führte am 20. März die erste staatenweite „Shelter-in-Place“-Regel ein, die das Verlassen der eigenen Wohnung für die meisten Menschen in nicht notwendigen Situationen verbot.

Obwohl republikanische Politiker Newsom damals kritisierten, folgte der Rest der USA Kalifornien bald. Im Juni schätzten Forscher der Universität Berkeley, die Maßnahme in Kalifornien habe 1,7 Millionen Corona-Fälle verhindert. Der Staat stellte 10.000 Menschen als Corona-Tracer ein, die die Infektionsketten per Telefoninterview minutiös nachzeichnen sollen.

Die Initiative für eine Warn-App wie in Deutschland, die immerhin von den örtlichen Großkonzernen Apple und Google ermöglicht wurde, verlief in Kalifornien aber im Sande. Als der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen wuchs, hielt die Politik nicht dagegen. Und da für jeden Landkreis je nach Schwere des Ausbruchs dort andere Regeln galten, sahen die Bürger an Orten mit restriktiveren Regeln, was ein paar Meilen entfernt alles schon wieder erlaubt war.

„Für die Bürger ist das schrecklich verwirrend“, sagt Sara Cody, die oberste Gesundheitsbeamtin des Silicon-Valley-Landkreises Santa Clara County, die zu den Architektinnen des frühen Erfolgs in der Region gehört. „Was ist die Botschaft? Wie kann etwas an einem Ort okay sein, und im Nachbarlandkreis ist es das nicht?“

Elon Musk eröffnete sein Werk in Fremont nahe San Francisco im Mai, einige Tage bevor er das durfte, und forderte die Behörden auf, ihn eben festzunehmen. Nichts geschah.

Nun, zwei Monate später, berichtet die Fach-Website „Electrek“ unter Berufung auf ein internes Tesla-Dokument, dass es in Fremont bereits mehr als 130 Corona-Fälle gegeben haben soll. Mehr als 1500 Beschäftigte im Tesla-Werk sollen Kontakt zu Infizierten gehabt haben.

Armut treibt die Fallzahlen

Am härtesten getroffen aber ist der Süden des Staates. Rund die Hälfte der Fälle werden im Landkreis von Los Angeles gezählt, viele auch in der Grenzregion zu Mexiko. Latinos, die größte Bevölkerungsgruppe in Kalifornien, sind unter den Covid-Erkrankten deutlich überrepräsentiert.

Armut, enge Wohnungen, die Arbeit in der Landwirtschaft, wo Social Distancing schwer möglich ist, all das trägt zur zweiten Welle in Kalifornien bei. „Die wichtigste Frage wird sein, wie wir die Übertragung in den ärmsten Schichten stoppen“, sagt der Epidemiologe George Rutherford von der Universität San Francisco.

In der Bay Area, der Gegend um San Francisco und das Silicon Valley, sei das gelungen. Hier steigt die Zahl der Fälle zwar auch, doch moderater.

Ein Grund dafür ist wohl auch: Da die gut bezahlten Beschäftigten der Tech-Konzerne die Mieten in die Höhe treiben, können es sich Arme längst nicht mehr leisten, in San Francisco zu wohnen. Die Durchschnittsmiete für eine Einzimmerwohnung lag vor der Krise jenseits von 3000 Dollar, soll seitdem aber nach Schätzung von Immobilienportalen um mehr als zehn Prozent gefallen sein.

Bei einer Arbeitslosenquote von staatenweit mehr als 16 Prozent ziehen viele aus Geldmangel weg. Das drückt die Mieten kurzfristig. Langfristig könnte auch eine Rolle spielen, dass viele der Tech-Konzerne in der Region es ihren Beschäftigten freistellen, ob sie überhaupt wieder in einem Büro in San Francisco oder dem Silicon Valley arbeiten wollen.

Uber und Airbnb trifft es hart

Das schadet besonders der Stadt San Francisco. Historisch gehört sie gar nicht zum Silicon Valley, wo sie nur „The City“ genannt wird. Erst in den 2000ern entstanden dort große Unternehmen wie Twitter oder Uber.

Während die großen Unternehmen aus dem Valley – Apple, Google, Facebook oder Netflix – stark genug sind, die Krise durchzustehen, sind gerade die in San Francisco in und nach der Finanzkrise gegründeten Unternehmen wie Uber oder Airbnb hart davon getroffen und mussten jeweils Tausende Mitarbeiter entlassen.

Facebook, Google, Uber oder Twitter haben ihre Mitarbeiter schon vor Monaten nach Hause geschickt und wollen bis mindestens 2021 niemanden zwingen, ins Büro zurückzukehren. Ob die Region jemals zu ihrer Prä-Corona-Normalität zurückkehrt, steht zumindest infrage.

Zuletzt schwor auch Deidre O’Brien, Apples Retail- und Personalvorständin, die Mitarbeiter in Nord- und Südamerika auf Arbeit im Homeoffice bis mindestens Jahresende ein.

Für Apple ist der Wechsel ins Homeoffice ein besonderer Einschnitt. Der Konzern ist legendär verschwiegen. Die Gefahr, dass der Prototyp eines neuen i- oder Air-Geräts verloren geht oder gestohlen wird, steigt, wenn Beschäftigte nur von zu Hause aus daran arbeiten können.

Hoffnungslosigkeit – ein unkalifornisches Gefühl

Selbst die „Geniuses“, die sonst als Kundenberater durch die Apple Stores wuseln, sollen stattdessen als Callcenter-Mitarbeiter iPad- und iPhone-Probleme am Telefon lösen. Apples weiß-leuchtende Konsumtempel in US-Städten werden ebenso leer stehen wie Apples erst 2017 gestarteter ufoförmiger Campus. „Das ist nicht die Erfahrung, die wir für unsere Kunden anstreben“, sagte O’Brien in der Videobotschaft.

Das gilt nicht nur für Apple, gewissermaßen gilt es für den ganzen Staat. Die Hoffnungslosigkeit, die die nicht enden wollende Krise nährt, ist ein ganz und gar unkalifornisches Gefühl.

Dass Restaurants ihre Gasträume nun ein zweites Mal schließen müssen, bricht bei manchen, so scheint es, den letzten Willen. Fast täglich gibt es Nachrichten über Traditionsrestaurants, die nach jahrzehntelangem Betrieb nun endgültig schließen.

Breck’s, das Café in San Francisco, hat wohl das Glück, neben Kaffee und offenem Wein auch ganze Flaschen zu verkaufen. Die stoßen in der Coronakrise, so heißt es, eher auf höhere Nachfrage. Zudem bringt das Café auf dem Bürgersteig immerhin zwei Metall-Tischchen unter.

Auf dem „San Francisco Chronicle“ im Zeitungsautomaten daneben prangt über der Titelgeschichte zu den erneuten Schließungen in „Dewey Defeats Truman“-großen Buchstaben die Überschrift „Pulling Back“.

Die Kalifornier, die sonst jede Grenze nach vorn verschoben – sie sind gerade auf dem Rückzug.