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Wie Juncker das europäische Projekt gefährdet

Der unmögliche Präsident - Wie Juncker das europäische Projekt gefährdet

Man kann Jean-Claude Juncker als menschliches Gesamtkunstwerk betrachten. Er ist witzig, wenn er den autoritären ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban mit einem herzlichen „Hello Dictator!“ begrüßt. Er ist ehrlich, wenn er die ausbleibenden Sanktionen für Frankreichs hohes Haushaltsdefizit so begründet: „weil es Frankreich ist“. Er ist cool, wenn er die Reporterfrage, ob der Austritt Großbritanniens den Anfang vom Ende der EU bedeute, mit einem schlichten „No“ bescheidet – und dann unter dem Applaus der übrigen Journalisten die Pressekonferenz verlässt. Er ist menschlich, wenn er montags dem Vernehmen nach gerne mal später ins Büro kommt.

Es gäbe kein Problem mit Jean-Claude Juncker, wäre er nicht Präsident der Europäischen Kommission. All die Eigenschaften, die den Menschen Juncker so liebenswert erscheinen lassen, werfen beim Politiker Juncker die Frage auf: Sitzt da eigentlich der richtige Mann auf dem richtigen Posten?

Eine Frage, die in Europa verstärkt diskutiert wird, seit Juncker vor genau zwei Wochen vor die Brüsseler Presse trat und das Ergebnis des britischen Austritts-Referendums kommentierte. Was er so leidenschaftslos tat („No“), als handele es sich beim Brexit um eine Unregelmäßigkeit in der kommissionseigenen Spesenabrechnung. Juncker weist bis heute jede Verantwortung für den Ausgang des Referendums von sich, will die Briten möglichst schnell aus der EU raushaben und dann weitermachen wie bisher.

Zugleich wurde in diesen zwei Wochen auch deutlich, wie begrenzt Junckers Handlungsspielraum inzwischen ist. Er wurde zurechtgestutzt zu einem Vermittler, der umsetzen darf, was zwischen Paris und Berlin beschlossen wird. Vor allem die Regierungen der osteuropäischen Staaten, die mit den Briten ihren wichtigsten Verbündeten in der EU zu verlieren drohen, gehen auf Distanz. In diesen Momenten wirkt Juncker wie ein Präsident ohne Macht.

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Mit seiner ganzen Biografie steht der Kommissionspräsident für das alte Europa der Ära Kohl – Lux-Leaks-Steuertricksereien inklusive. Es ist schwer vorstellbar, dass ausgerechnet Juncker der EU den Neustart beschert, der jetzt so dringend nötig wäre. Was fehlt, ist die nötige Selbstreflexion. Die Einsicht, dass Europa tatsächlich eine fundamentale Veränderung braucht.

Clemens Fuest, Chef des Münchener Ifo-Instituts, ärgert sich über die Reaktion der Brüsseler Eliten auf das Brexit-Referendum. „Wäre ich jetzt in der Position des EU-Kommissionschefs, würde ich über einen Rückzug nachdenken“, sagt Fuest, der viele Jahre in Großbritannien gelebt hat. Das forsche Auftreten Junckers nach der Brexit-Entscheidung habe gezeigt, dass er nicht mehr der richtige Mann sei, um die Europäische Union aus dieser Misere zu führen. Europa brauche jetzt „keine Visionäre, sondern tatkräftige Krisenmanager, die Signale setzen, etwa in der gemeinsamen Sicherheitspolitik“.

Ein Mann wie Frans Timmermans, der Stellvertreter Junckers, hat dieses Format. Kaum jemand in Brüssel bezweifelt, dass mit dem Niederländer Timmermans ein geeigneter Nachfolger bereitstünde, falls Juncker hinwirft. Das wahrscheinlichste Szenario aber ist, dass Juncker seine bis 2019 dauernde Amtszeit erfüllt und dann nicht erneut kandidiert. Eine Abwahl ist hingegen extrem unwahrscheinlich. Die Kommission kann nur als Ganzes gestürzt werden, was Europa endgültig ins politische Chaos stürzen würde. Notwendig wäre zudem eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, das mehrheitlich hinter Juncker steht. So drohen Europa Jahre der politischen Agonie. Ohne Neuanfang. Ohne große Durchbrüche.

Was für eine bittere Perspektive für den Mann, der 2014 mit einem nie da gewesenen Maß an demokratischer Legitimation an der Spitze der EU gestartet war. Erstmals hatten die beiden großen europäischen Parteienfamilien, die konservative Europäische Volkspartei EVP und die Sozialisten, Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufgestellt. EVP-Mann Juncker trat gegen den deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz an. Es gab Fernsehduelle. Es gab einen europaweiten Wahlkampf. Es fühlte sich an wie echte Demokratie.

Nach Junckers Sieg versuchten mächtige EU-Regierungschefs seine Nominierung als Kommissionspräsident zu verhindern. Sie fürchteten, dass das direkte Mandat der Wähler Juncker zu viel Macht verleihen würde. Briten-Premier David Cameron und Viktor Orban opponierten offen gegen Juncker, Bundeskanzlerin Angela Merkel im Verborgenen. Doch das Parlament stand hinter Juncker und setzte sich am Ende durch.

In seinem neuen Amt startete Juncker furios. Er beendete die Kakofonie der 28 Kommissare, indem er sieben von ihnen zu Vizepräsidenten ernannte, mit Timmermans als Primus inter Pares. Geschickt sorgte Juncker dafür, dass alle wirtschaftlich relevanten Schaltstellen mit stabilitäts- und wettbewerbsorientierten Köpfen besetzt wurden. Es zeugt von seiner Schlitzohrigkeit, dass er beispielsweise den Franzosen den grandios klingenden Posten des Wirtschafts- und Währungskommissars überließ – den von Paris entsandten, notorisch ausgabefreudigen Sozialisten Pierre Moscovici aber faktisch entmachtete, indem er ihm einen Vizepräsidenten vor die Nase setzte.

„Hyänen riechen Blut“

Kommissions-Vize Timmermans bekam als wichtigste Aufgabe zugewiesen, den Brüsseler Regulierungswahn einzudämmen. Alle neuen Vorhaben aller Kommissare müssen über seinen Schreibtisch – und landen häufig im Papierkorb.

„Juncker hat die Kommission vorangebracht in den letzten zwei Jahren. Wir machen weniger als die Hälfte der Gesetze pro Jahr, als es unter Barroso der Fall war“, lobt Elmar Brok, EVP-Abgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Die kleinkarierten Vorgaben, mit denen sich Brüssel in der Vergangenheit so zuverlässig lächerlich gemacht hatte, vom Ölkännchenverbot im Restaurant bis zum Bann von Schokozigaretten, gehören weitgehend der Vergangenheit an. Auch der deutsche Kommissar Günther Oettinger (CDU) zählt zu Junckers engagierten Verteidigern: „Jean-Claude Juncker ist der Helmut Kohl Europas.“ Ohne ihn würde Europa ins Chaos stürzen. Das Europa-Bashing, das sich an seiner Person festmache, sei mehr als unfair: „Ein paar Hyänen riechen jetzt Blut, wenn es um den Posten von Herrn Juncker geht. Ich kann nur davor warnen. Lasst ihn in Ruhe arbeiten.“

Der Vergleich mit Helmut Kohl passt überraschend gut. Fast 20 Jahre Erfahrung als luxemburgischer Regierungschef, acht Jahre Euro-Gruppenchef. Griechenlandkrise, Euro-Krise, Lux-Leaks. All das hat Juncker aus unmittelbarer Nähe miterlebt – und überlebt. Politische Korrektheit ist ihm fremd. Das macht ihn als Gesprächspartner interessant, aber auch unberechenbar – für Verbündete und politische Gegner. Medienkompatibel will er schon lange nicht mehr sein. Auf Fragen von Journalisten reagiert Juncker gerne mit längeren Schweigephasen. Nicht etwa, um nachzudenken, sondern auch, um sein Gegenüber zu irritieren. So als wollte er seinem Gesprächspartner die Gelegenheit zur Selbstkorrektur geben, für einen intelligenteren Vorstoß vielleicht.

Mit Kohl teilt Juncker auch die Dünnhäutigkeit: Langjährige Beobachter Junckers sind überrascht, wie emotional er in diesen Tagen auf Kritik reagiert. Er kanzelt einen Journalisten des Brüsseler Blogs „Politico“ ab, das über seine angegriffene Gesundheit, seinen angeblich ausschweifenden Alkoholkonsum und eine angeblich eigens installierte Zigarettenrauchabsauganlage in seinem Büro geschrieben hat. Er beendet seine Antwort mit „Das ist mir egal“ – seine Suada machte das Gegenteil deutlich. Und als ausgerechnet der Abgeordnete Bernd Lucke, Chef der Splitterpartei Alfa und somit weit unter Junckers Gewichtsklasse, ihn bei der Debatte im EU-Parlament vergangenen Dienstag zum Rücktritt auffordert, geht Juncker dem Ex-AfD-Chef direkt an: „Herr Lucke, wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll ich zurücktreten. Ich ziehe mir den Schuh nicht an, dass die EU-Kommission schuld ist am Brexit-Referendum.“


Juncker hat die Bewegungsfreiheit einer Marionette

Nichts scheint der sonst so joviale Juncker dieser Tage weglächeln zu können. Auch Kommissionsbeamte räumen ein, dass ihr Chef vom Votum der Briten persönlich getroffen, ja beleidigt sei. Auf eine Niederlage des „Remain“-Lagers war Juncker weder emotional noch politisch eingestellt. Das Bild, das Juncker seit dem Brexit abgibt, erscheint ausgesprochen unprofessionell.

So wundern sich viele in Brüssel, dass Kommission und Rat nach dem Brexit erst mal darüber zu streiten scheinen, wer in den anstehenden Austrittsverhandlungen die größere Rolle spielen soll. Diplomaten mehrerer Mitgliedstaaten ärgern sich, dass die Kommission die rechtliche Position durchzusetzen versuche, Großbritannien sei schon vor dem endgültigen Austritt wie ein Drittstaat zu behandeln, wodurch die Kommission ähnlich umfassende Rechte hätte wie bei Beitrittsverhandlungen. Der Rat will der Kommission dagegen nur die technischen Details überlassen und ernannte rasch den belgischen Diplomaten Didier Seeuws zum Chefverhandler.

Die Kommission bestreitet, dass es überhaupt einen Konflikt gab. Doch allein das Gerede darüber bestätigt Kritiker in ihrem Eindruck, die Kommission setze im Nachgang des Brexits die falschen Prioritäten: „Am Tag danach hatte die Kommission schon das Rechtsgutachten parat, dass sie alleine ohne den Rat die Austrittverhandlungen führen soll. Das war die einzige Frage, auf die sie vorbereitet war“, ätzt der CSU-Politiker Markus Ferber, stellvertretender Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses im Europäischen Parlament und eigentlich Junckers EVP-Parteifreund. Die Briten hätten für mehr Bürgernähe gestimmt, Juncker versuche als Reaktion darauf, weitere Kompetenzen an sich zu ziehen.

Machtgerangel und Schienbeintreterei statt Selbstkritik. Das politische Brüssel gibt in den Tagen nach dem Referendum ein elendes Bild ab – und das liegt auch an Junckers fehlendem Fingerspitzengefühl. Wenige Tage nach dem Brexit-Referendum brach er einen Streit über die Ratifizierung des Freihandelsabkommens der EU mit Kanada vom Zaun. Die Frage, ob für das Handelsabkommen Ceta mit Kanada eine Zustimmung der nationalen Parlamente zwingend erforderlich ist, ist eigentlich eher eine juristische als eine politische. Doch gerade in Deutschland kam Junckers Ankündigung, das umstrittene Abkommen mit Kanada als „EU only“ zu behandeln, als undemokratische Unverschämtheit an. „Unglaublich töricht“, wetterte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) gegen die Entscheidung.

Dass Juncker antwortete, ihm sei „schnurzegal“, ob die nationalen Parlamente zustimmen, half da nicht weiter. Manchmal denkt Juncker wie der Geisterfahrer, der alle entgegenkommenden Autos für Falschfahrer hält. Was der Luxemburger eigentlich als Kompromisssignal meinte, kam in Berlin als weitere Frechheit an. Zwei Tage später war der Versuch, europäische Normalität zu simulieren, endgültig gescheitert. Nun erklärte die Kommission, die Parlamente sollten doch gefragt werden. Juncker hat gleich dreimal verloren: Den Ceta-Kritikern gilt er als instinktlos, den Befürwortern als kraftlos. Und als kaltschnäuzig all jenen, die sich nach dem Brexit-Debakel ein bisschen Einkehr und Besinnung erhofft hatten.

Denn Junckers eilige Selbstrechtfertigung, er könne ja nichts für die Referendumsniederlage, ist bestenfalls halb richtig. Stimmt, die Abstimmung in Großbritannien haben David Cameron und Konsorten verbockt, die sich ausdrücklich Wahlkampfhilfe vom Kontinent verbeten hatten. Doch die Faktoren, die zur Unbeliebtheit der EU in Großbritannien geführt haben, lassen sich in nahezu allen EU-Staaten beobachten. Die Zustimmung zur EU sinkt, weil Freihandel und Freizügigkeit den Europäern zwar insgesamt mehr Wohlstand bescheren, aber eben auch Verlierer hervorbringen, deren Arbeitsplätze verloren gegen und die mit Zuwanderern womöglich auch noch um knappe Wohnungen und Sozialleistungen konkurrieren. Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Arbeitslosenquote in der EU von 7,2 auf 9,4 Prozent gestiegen. Das sind 5,8 Millionen Arbeitslose mehr. Betroffen sind vor allem junge Menschen.

Für eine faire Entschädigung dieser Verlierer hat Europa niemals eine angemessene Methode gefunden. Der Brexit ist keine Laune eines spleenigen Inselvolks, sondern Teil eines europäischen Megatrends.

Präsident von Berlins Gnaden

Es gäbe mithin reichlich Anlass zur grundsätzlichen Reflexion. Der liberale Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, einer der Unterstützer Junckers, fordert daher einen Europäischen Konvent, „ein Zusammentreffen von nationalen Regierungen, Europaparlamentariern und nationalen Parlamentariern“. Es solle ein öffentlicher Kongress sein und kein technisches Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn, so Lambsdorff: „Wir brauchen eine Debatte, welches Europa wir in Zukunft wollen. Es gibt eine große Nachfrage nach Teilhabe und Demokratisierung.“

Eine solche Generaldebatte über einen europäischen Neustart wäre dringend nötig. Doch selbst wenn Juncker sie wollte – die entscheidenden Mitgliedstaaten lehnen sie ab. Und deshalb findet sie bisher auch nicht statt. „Juncker steckt in einem Dilemma“, so Lambsdorff. „Wenn er als politischer Kommissionspräsident Visionen skizziert, schlägt ihm aus den Mitgliedstaaten oft harte Ablehnung entgegen, besonders aus Berlin. Auf der anderen Seite ist es aber seine Aufgabe, die EU dahin zu bringen, wo die Bürger sie erwarten.“

Letztlich ist Juncker wieder da gelandet, wo alle Kommissionspräsidenten vor ihm standen: irgendwo auf halbem Weg zwischen Brüssel und Paris. Er sei eine „wirkungslose Führungsfigur“, konstatiert man im US-Außenministerium über Juncker. Ein vernichtendes Urteil.

Was ein Kommissionspräsident darf und was nicht, welche Erfolge ihm zugestanden werden und welche die jeweiligen Regierungschefs lieber für sich verbuchen, wird wie eh und je in den beiden Hauptstädten entschieden. Das zeigt das Beispiel Flüchtlinge. Juncker war bereits mit der Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik in den Wahlkampf gezogen, doch in der Berliner Regierungskoalition galt noch der nassforsche Satz des damaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU): „Lampedusa liegt in Italien.“ Sollte heißen: Die Italiener können selbst sehen, wie sie mit den Flüchtlingen klarkommen, die damals in großer Zahl auf Lampedusa strandeten. Erst als im Sommer 2015 die Flüchtlinge an der deutschen Grenze standen, erhielt Juncker den Auftrag, einen europäischen Asylkompromiss auszuhandeln, und zwar hopp, hopp. Die osteuropäischen Staaten, die sich diesem Kompromiss verweigerten, mussten konsterniert erleben, wie schnell sich europäische Positionen ändern, wenn sich die deutsche Position ändert. Ähnliches gilt bei der Vertiefung der Euro-Zone, die dringend um eine gemeinsame Haushalts- und Finanzpolitik erweitert werden müsste. Juncker will hier nur aktiv werden, wenn Paris und Berlin sich vorab einigen. Was unwahrscheinlich ist.

Angela Merkel, so heißt es in Regierungskreisen, pflegt dabei zu Juncker das gleiche nüchterne Verhältnis, das sie mit den meisten anderen Politikern pflegt. Sie wollte ihn verhindern, als er nach der gewonnenen Europawahl zu mächtig zu werden drohte. Aber solange Juncker sich Merkels Vision von Europa fügt, darf er gerne bleiben. Diese Vision hat Merkel im November 2010 in einer Rede am Europakolleg in Brügge dargelegt. In Deutschland wurde diese Rede kaum beachtet. Im politischen Brüssel wird sie bis heute herumgereicht unter denen, die endlich diese Deutschen verstehen wollen.

Kaum verklausuliert weist Merkel in der Rede die sogenannte Gemeinschaftsmethode in ihre Schranken – also den klassischen Weg in der europäischen Gesetzgebung, bei dem die Kommission die Initiative ergreift und Europäischer Rat und Parlament zustimmen. Merkels Schlüsselsatz in Brügge: „Eine Lösung ist ja nicht automatisch und allein dadurch besser, dass sie durch EU-Organe herbeigeführt oder ausgeführt wird.“ Merkel favorisiert stattdessen den sogenannten Intergouvernementalismus, den Vorrang für Regelungen, die die Regierungen der EU-Staaten direkt untereinander aushandeln. Dem Kommissionspräsidenten bleibt bei dieser Methode nur die Rolle des interessierten Zaungastes. Am vergangenen Wochenende war es an Wolfgang Schäuble, Juncker seine begrenzte Rolle einmal mehr in Erinnerung zu rufen: „Wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen. Dieser intergouvernementale Ansatz hat sich in der Euro-Krise bewährt“, sagte Schäuble.

Bewegungsfreiheit einer Marionette

Junckers Bewegungsfreiheit wird mit solchen Sätzen auf die Bewegungsfreiheit einer Marionette reduziert. Das Interview eröffnet ein weiteres Kapitel in einer komplizierten On-und-off-Beziehung zwischen zwei Männern, sie sich beide als große Europäer achten. Einerseits. Doch wo bei der Kanzlerin nüchternes Machtkalkül waltet, pochen bei Juncker und Schäuble heiße Herzen. Weshalb die beiden Karlspreisträger andererseits gerne mal so richtig aneinandergeraten. Zuletzt, als Schäuble 2015 die Griechen vorübergehend aus der Euro-Zone werfen, Juncker ihnen hingegen eine weitere Bewährungsfrist einräumen wollte. Danach gab es dem Vernehmen nach ein Versöhnungsessen, doch der Konflikt zwischen beiden kann jederzeit wieder ausbrechen.

Vergleichsweise unkompliziert ist dagegen Junckers Beziehung zum deutschen Vizekanzler. Wenn er glaubt, damit Punkte machen zu können, koffert Sigmar Gabriel Juncker öffentlich an – siehe Ceta. Aber ansonsten weiß Gabriel genau, dass Juncker viel näher an sozialdemokratischen Vorstellungen liegt als Merkels CDU. In Gabriels Umfeld heißt es: Insgesamt sei Juncker aus gutem Grund bei den Sozis beliebter als im eigenen Lager. Er mache keine verbissene Jagd auf Defizitsünder, pflege auch ansonsten einen pragmatischen Politikansatz und habe die Bedeutung von Investitionen verinnerlicht. Gabriel habe keinerlei Veranlassung, an Junckers Stuhl zu rütteln.

Das Gleiche gilt für die sozialistische Regierung in Paris. Für Frankreich, das so wie Deutschland politische Macht nur ungern nach Brüssel abgibt, ist Juncker zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht ein wichtiger Verbündeter. Präsident Hollande hat am Mittwoch seinen Premier Manuel Valls beauftragt, für September einen Vorschlag für einen „europäischen Ruck“ zu erarbeiten. Eines der Themen im Mittelpunkt sollen Investitionen sein.

Doch auch Frankreich hadert mit der nonchalanten Art Junckers. Nach seiner Bemerkung, die europäischen Budgetregeln würden nicht in aller Schärfe auf Frankreich angewendet, weil „Frankreich eben Frankreich“ sei, sah sich Finanzminister Michel Sapin genötigt zu betonen: „Wir haben nie eine Vorzugsbehandlung erfahren.“ Witzig fand das in Frankreich niemand: „Damit hat er Frankreich überhaupt keinen Dienst erwiesen“, hieß es in französischen Regierungskreisen. „Regelgebundene Politik ist nicht die Stärke Junckers“, sagt Sven Giegold, Sprecher der Grünen im Europaparlament, mit Blick auf Junckers saloppe Frankreich-Äußerung. Das Gleiche gelte für die „Diskussion über die chronischen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands“, wo Juncker scharfe Töne gegenüber Berlin meidet. Lange Jahre haben Junckers politische Verbündete und Gegner sein eigenwilliges Politikverständnis akzeptiert. Doch seit dem Brexit-Referendum ist vieles anders.


Wenn's Ärger gibt, hilft Bimbes

Nun rächt sich auch, dass Juncker seine Verbündeten in Kerneuropa gesucht und die später beigetretenen Mitgliedstaaten weitgehend ignoriert hat. Mit genügend Verbündeten in Osteuropa könnte Juncker im Rat auch mal etwas gegen den Willen von Deutschland oder Frankreich durchsetzen. Aber: „Die Kommission hat ein Ohr für Paris, für Berlin und Rom. Für uns hat sie selten eines“, sagt der EU-Botschafter eines osteuropäischen Mitgliedstaats. Polens rechtskonservativer Präsident Jarosław Kaczyński sieht Juncker gar in der „direkten Verantwortung“ für den Brexit. Trotzdem wollen selbst seine schärfsten Kritiker den Kommissionspräsidenten derzeit nicht stürzen: „Das würde derzeit nur zu weiterer Destabilisierung führen“, sagt einer. Der tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek legte ihm zwar in einer Fernsehdiskussion erst den Rücktritt nahe, inzwischen rudert sein Ministerium aber zurück.

Das ist die Ironie des Briten-Austritts für Juncker: Kurzfristig hält er ihn sogar im Amt, schon weil niemand den Brexiteers Junckers Kopf als Abschiedsgeschenk darbieten will.

Das politische Sonnensystem des Luxemburgers sind seit jeher die Gründungsmitglieder der Europäischen Union, Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux. Seine politischen Methoden sind die der Ära Kohl. Politik, das heißt für Juncker, hieß für Kohl: Beziehungspflege, am liebsten per Telefon. Falls es Ärger gibt, hilft Bimbes. „Bimbes muss halt vorhanden sein“, heißt es aus Kommissionskreisen über Junckers Verhältnis zum Geld. Bimbes, das war Helmut Kohls Ausdruck für Geld. Für Kohl wie Juncker ist „Bimbes“ ein politischer Möglichmacher. Kaum ein Problem, das sich nicht mit dem Verteilen von Geld lösen lässt. Und ohne Geld zum Verteilen macht Politik keinen Spaß. So funktionierte Europa jahrzehntelang. Und um Bimbes dreht sich auch fast alles in Junckers Heimat Luxemburg.

Wer sehen will, was Juncker in seinem Heimatland geschaffen hat, der muss sich nicht weit vom Stadtzentrum wegbewegen. Es ist ein überschaubares Areal, ein Plateau, knapp 400 Hektar groß. Der Kirchberg, nur einen halben Kilometer von der Altstadt entfernt, ist zum Symbol geworden für den Wohlstand im kleinen Großherzogtum. Hier, wo früher Acker war, agieren heute mehr als 150 Banken, Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfer. Hier trifft die globale Finanzindustrie auf engstem Raum zusammen. Die kurzen Wege, sie sind Teil des Geschäftsmodells. Unzählige Fonds haben Luxemburg nach New York längst zum weltweit wichtigsten Standort der Fondsindustrie mit mehr als zwei Billionen Euro Anlagevermögen gemacht. Dass das Land den Wandel geschafft hat, weg von der dominierenden Stahlindustrie, hin zum Finanzzentrum, das ist auch und vor allem Junckers Verdienst. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist in dem kleinen Land so hoch wie in Liechtenstein und Monaco, der Wert liegt um ein Zweieinhalbfaches über Europas Durchschnitt.

Mehr als 20 Jahre hat Juncker, Jahrgang 1954, die Geschicke Luxemburgs gelenkt, erst als Finanzminister, dann zusätzlich als Premier. Juncker, der als Sohn eines Stahlarbeiters im Süden Luxemburgs aufwuchs und nach dem Abitur Jura in Straßburg studierte, war jahrelang die dominante Figur und hat die Geschicke des Landes geprägt wie kein Zweiter. Die Menschen haben ihn immer dafür gemocht, dass sie so gut leben können von der Kombination aus globaler Finanzwirtschaft und einem über die Maßen gut bezahlten Staatsdienst, für ihre sehr guten Renten, für den Mindestlohn, den es seit Jahrzehnten gibt, überhaupt für Junckers Fürsorgepolitik. Er war es, der die Probleme der Menschen im Stillen gelöst hat. Weil er in Luxemburg fast jeden kennt. Juncker, der Netzwerker.

Erst gefeiert, dann gefallen

Doch wie nachhaltig ist das Geschäftsmodell, das er entwickelt hat? Wer heute durch Luxemburg geht, der sieht, wie sich die Bevölkerung mit dem Wachstum des Wohlstands verändert hat. Rund 45 Prozent der 550 000 Einwohner sind Ausländer. Es sind vor allem Portugiesen, die hier die Jobs machen, die die Luxemburger, die vorwiegend im Staatsdienst tätig sind, nicht haben wollen. Zusätzlich pendeln täglich fast 150 000 Menschen nach Luxemburg. Es sind Deutsche, Belgier, Franzosen – Grenzgänger, die morgens zur Arbeit ins reiche Nachbarland fahren und abends wieder nach Hause. Für viele von ihnen ist der Kirchberg das Ziel. Sie profitieren von den hohen Löhnen und den niedrigen Steuern. Doch in Luxemburg sind eben nicht nur die Einkommen sehr hoch, sondern auch die Renten. Experten werfen Luxemburg daher vor, dass es bislang versäumt habe, seine großzügigen Systeme auf den demografischen Wandel vorzubereiten. Die implizite Staatsverschuldung beträgt laut Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft fast 1 000 Prozent. Selbst in Griechenland sind es nur knapp 400 Prozent.

Juncker, so scheint es, haben diese finanziellen Probleme nie interessiert. In seinem Land, da war er beliebt, wurde geschätzt. Den Menschen ging es mit ihm gut. Kritik wurde nur selten laut. Der erste Skandal, er führte auch gleich zu seinem Rücktritt als Premier im Jahr 2013. Dabei wurde ihm vorgehalten, Missstände beim Geheimdienst zu lange geduldet zu haben – oder zumindest nicht ernsthaft genug dagegen vorgegangen zu sein. Es ging um die Aufarbeitung der sogenannten „Bombenlegeraffäre“ aus den 1980er-Jahren, bei der ein Mensch ums Leben gekommen ist, um Abhöraktionen, um heimlich mitgeschnittene Gespräche. Juncker gestand Fehler ein, befand die Missstände aber nicht als schwer genug, dass sie einen Rücktritt rechtfertigen würden. Genutzt hat ihm das nicht.

Nahezu gleichzeitig mit Junckers Amtsantritt als EU-Kommissionspräsident deckt dann ein internationales Rechercheteam unter dem Namen Luxemburg-Leaks auf, dass das Großherzogtum in Junckers Amtszeit seit 2002 komplizierte Steuerabkommen mit weit mehr als 300 internationalen Konzernen abgeschlossen hat. Die fragwürdigen Praktiken, mit deren Hilfe Luxemburg zur Steueroase im Herzen Europas wurde, zum Schlaraffenland für Konzerne, gelten in Luxemburg als legal. Im Ausland dagegen hat Junckers Ansehen mit dem Skandal schwer gelitten.

Mit welcher Glaubwürdigkeit soll sich Juncker, der jahrelang Konzernen bei der Steuervermeidung geholfen hat, jetzt für eine gerechtere Verteilung der Globalisierungsgewinne innerhalb der EU einsetzen?

So, wie Junckers jahrzehntelanges Wirken in Luxemburg ein trauriges Ende nahm, so droht Juncker auch in Brüssel zu scheitern. Er ist in mehrfacher Hinsicht zum unmöglichen Präsidenten geworden. Unmöglich, dass er seine Mission als Retter Europas noch erfüllen kann. Unmöglich auch, dass er in einer Rolle als bloßer Verwalter und Vermittler glücklich wird.

Wie kaum ein anderer ist Juncker die Verkörperung der europäischen Idee. Fast alle, auch seine Kritiker, nehmen ihm ab, dass er für diese Idee kämpft. Sie wissen, dass diese Idee einen großen Teil seines Lebens geprägt hat. Doch Juncker ist womöglich selbst einer der größten Hinderungsgründe zu einer Realisierung dieser Idee. Ihm, dem „animal politicum“, scheint der politische Instinkt abhandengekommen zu sein.