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Joe Biden: Der gute Mensch von Delaware will Donald Trump schlagen

Die Umfragen sind eindeutig: Ein 77-jähriger Politpensionär hat sehr gute Chancen, im November der nächste US-Präsident zu werden. Woher kommt Joe Biden – und wofür steht er?

Es sind nur wenige Schritte für den Kandidaten, aber es ist ein großer Sprung für seine Kampagne. Über Wochen hinweg hat Joseph „Joe“ Biden alle Wahlkampfauftritte aus einem improvisierten Fernsehstudio im Keller seines Privathauses absolviert. Der immer gleiche Hintergrund ist fast schon zum Markenzeichen des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers geworden: das Bücherregal, der lederne Football. Dazu das künstliche Licht, das Biden so alt aussehen lässt, wie er wirklich ist.

Um die Corona-Ansteckungsgefahr für den 77-Jährigen so gering wie möglich zu halten, wird selbst die Kamera von einem weit entfernten Wahlkampfbüro aus ferngesteuert. „Ich wünsche ihm wirklich, dass er es noch mal aus seinem Keller herausschafft“, spottete US-Präsident Donald Trump über seinen Gegner.

Am Montag vergangener Woche kam der Kandidat tatsächlich aus dem Keller, wenn auch nur zwei Treppen weit. Während einer Onlinekonferenz für Bürger mit lateinamerikanischer Herkunft („Latinos“) sitzt Biden vor einer großen Fensterfront im Obergeschoss seines Hauses. Draußen wogen Bäume im Wind, das natürliche Gegenlicht lässt Biden plötzlich jünger erscheinen.

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Im stahlblauen Jackett und mit offenem Hemdkragen, Stars-and-Stripes-Pin am Revers, prangert Biden die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen und Fleischfabriken an, unter deren Beschäftigten sich das Coronavirus rapide ausbreitet. Über die Hälfte der Arbeiter in der Branche sind Latinos.

Biden verspricht einen befristeten Lohnzuschlag von 13 Dollar pro Stunde für alle „frontline worker“ in infektionsgefährdeten Bereichen. Kämpferisch ruft er in die Kamera: „Genug ist genug ist genug! Wir werden erst das Virus besiegen und dann das System verändern.“

In diesem Moment erscheint plötzlich vorstellbar, was die Umfragen seit Wochen als wahrscheinliches Szenario nahelegen: dass Joe Biden am 3. November tatsächlich zum nächsten Präsidenten der USA gewählt wird. US-weit führt Biden in allen seriösen Umfragen mit rund fünf Prozentpunkten Vorsprung vor Trump. Biden liegt auch in den wichtigsten „Swing States“ vorn. Das sind jene zwischen Demokraten und Republikanern besonders umkämpften Bundesstaaten, in denen letztlich die Entscheidung über den nächsten US-Präsidenten fällt.

Höchste Zeit also, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wer ist dieser Kandidat, an den man sich in Deutschland bestenfalls noch als Vizepräsident an der Seite von Präsident Barack Obama erinnert? Für welche Politik stünde ein Präsident Biden? Und was treibt den Mann an, der bei seiner Amtseinführung mit 78 Jahren der älteste Präsident in der Geschichte der USA wäre – und nach John F. Kennedy erst der zweite Katholik an der Spitze des Landes?

Der bewunderte Vater

Die Barley Mill Road am Rande von Wilmington im Bundesstaat Delaware schlängelt sich Meile um Meile durch dichtes Grün. Die Villen links und rechts liegen weit von der Straße zurückgesetzt. Auf Höhe der Hausnummer 1209 versperrt eine weiße Limousine den Weg in eine Sackgasse. Secret-Service-Beamte in Kakihosen und dunklen Windjacken mustern misstrauisch jeden, der hier auch nur ein paar Momente verweilt.

Das Haus von Joe Biden und seiner Frau Jill liegt am Ende dieser Sackgasse an einem Seeufer.

Häuser waren immer wichtig für Biden. Bereits als junger Anwalt hat er sie gekauft, renoviert, vermietet, nicht immer besonders planvoll. Es ging ihm vor allem um den symbolischen Wert einer Immobilie. Um den Nachweis, es aus der Arme-Leute-Gegend von Wilmington endlich ins richtige Viertel geschafft zu haben.

Bidens Vater war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, bevor ihn finanzielle Fehlschläge verarmen ließen.

Fortan versuchte er, als Autoverkäufer seine Familie durchzubringen. Biden schreibt in seiner Autobiografie voller Bewunderung über seinen Vater. Laut Biden ein stolzer Mann, der alle Rückschläge wegsteckte und nie die Hand gegen seine Kinder erhob, denn: „Nur kleine Menschen schlagen kleine Kinder.“

Dank eines Stipendiums kann der junge Biden die Archmere Academy besuchen, eine elitäre katholische Privatschule. Joes Noten sind mittelmäßig. Doch dafür verhilft er seiner Football-Mannschaft zu einer Siegesserie und gilt bald als der natürliche Anführer seines Jahrgangs. Er träumt von einer Karriere als Politiker – oder als Footballprofi. Mit viel Ausdauer gelingt es Biden sogar, das Stottern zu überwinden, das ihn seit seiner Kindheit plagt.

Beim Jurastudium in Syracuse im Staat New York schreibt Biden für eine Seminararbeit aus einer Jura-Fachzeitschrift ab, ohne die Zitate ausreichend kenntlich zu machen. Sein Abschluss zählt am Ende zu den schlechtesten des Jahrgangs. „Offensichtlich hoffen Sie, hier aufgrund Ihres guten Aussehens eingestellt zu werden“, spottet der Partner einer Anwaltskanzlei in Wilmington über Bidens Bewerbung – um ihm dann tatsächlich einen Job anzubieten.

Den Anwaltsberuf sieht Biden nur als Startpunkt für seine politische Karriere. Wie viele in seiner Generation bewundert er John F. Kennedy und verachtet Richard Nixon.

1969 gelingt Biden der Sprung in den örtlichen Kreistag mit einem damals ungewöhnlichen Wahlkampfthema: Umweltschutz. Durch seinen Kampf gegen ein Autobahnprojekt und eine Raffinerie macht er sich schnell die örtliche Unternehmerschaft zum Gegner.

Ausgerechnet die spendet wenig später großzügig für Bidens Kandidatur für den US-Senat. „Wir machen alles, damit dein Bruder aus dem Kreistag verschwindet“, erklärt ein Bauunternehmer Bidens Schwester und Wahlkampfmanagerin Val.

Val Biden ist Teil jener irisch geprägten Großfamilie, die sich selbst als den „Biden-Clan“ bezeichnet und die auch bei schlimmen Schicksalsschlägen für Stabilität in Joe Bidens Leben sorgt. Kurz nach seiner Wahl in den US-Senat 1972 sterben seine erste Frau und seine kleine Tochter bei einem Autounfall. Val übernimmt die Erziehung der beiden Söhne, bis Biden Jahre später wieder heiratet.

36 Jahre lang gehört Biden dem Senat an, wird Vorsitzender des Rechts- und später des Auswärtigen Ausschusses. In der Schlangengrube namens Washington gilt Biden als der gute Mensch von Delaware: einer, auf dessen Zusagen man sich verlassen kann, der mit Republikanern wie Demokraten gut kann, mit Schwarzen wie Weißen, der auf niemanden herabschaut und seine Macht nicht missbraucht. Der sich aber auch ideologisch kaum einordnen lässt.

„Loyal“, „patriotisch“, „humorvoll“ sind Eigenschaften, die Moe Vela zu Biden einfallen. Vela war zu Beginn von Bidens Vizepräsidentschaft sein Verwaltungsdirektor und sieht sich bis heute als Freund der Familie. Es gebe bei Joe und Jill Biden „keinen Unterschied zwischen dem freundlichen und warmherzigen Bild, das sie vor der Kamera abgeben, und ihrem wirklichen Charakter“.

Karriereziel Weißes Haus

Eine Eigenschaft hält Vela für besonders bemerkenswert: „Joe Biden hat sich seine Verletzbarkeit bewahrt.“ Gerade in der Coronakrise fühle er wirklich mit den Menschen, die ihm von seinen Sorgen um den Arbeitsplatz oder um ihre Angehörigen erzählen.

Es sind diese Charakterzüge, die es für Bidens Weggefährten unmöglich machen, die Anschuldigungen von Tara Reade zu glauben, einer ehemaligen Mitarbeiterin in Bidens Senatsbüro. Sie beschuldigt Biden, sie 1993 sexuell attackiert zu haben. Biden sagt, die Episode habe sich niemals zugetragen.

Zweimal hat Biden während seiner Zeit im Senat versucht, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden. Der erste Versuch endet 1988 im Desaster: In einer Fernsehdebatte übernimmt Biden sein Abschlussstatement wörtlich aus einer Rede des damaligen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei und vergisst, den Urheber zu erwähnen. Kurz darauf verbreiten politische Gegner die Plagiatsaffäre aus Bidens Unizeit. Fertig ist das Bild vom Ehrgeizling, der mit geklauten Inhalten seine fehlende Substanz überspielt.

Bei seiner zweiten Kandidatur 2008 ist Biden von Anfang an chancenlos gegen die beiden Rivalen Barack Obama und Hillary Clinton. Der siegreiche Obama bietet Biden schließlich den Vizeposten an.

Obama habe seinen Stellvertreter nie wirklich für voll genommen und aus allen wichtigen Vorgängen herausgehalten, lautet die Wahlkampfrhetorik der Republikaner. Die Demokraten hingegen verweisen auf ein Schlüsselprojekt, das Obama Biden übertragen hatte: den 2009 verabschiedeten Recovery Act, ein fast 800 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm, das den USA helfen soll, die Folgen der Finanzkrise zu überwinden.

Die Parallelen zur derzeitigen Coronalage sind offensichtlich. Dank seiner guten Kontakte zu den Republikanern besorgt Biden eine Parlamentsmehrheit für das Paket. Anschließend setzt er eine Taskforce ein, die im Eiltempo geeignete Investitionsmöglichkeiten für das Geld findet. Eine Untersuchungskommission konstatiert bei den Projekten einen bemerkenswert geringen Anteil an Missbrauch und Verschwendung.

Gegen Ende von Obamas zweiter Amtszeit spielt Biden mit dem Gedanken, sich um dessen Nachfolge zu bewerben. Unter anderem wegen eines weiteren Schicksalsschlags entscheidet er sich dagegen: Sein Sohn Beau Biden stirbt 2015 an einem Gehirntumor.

Vor Biden liegt zu diesem Zeitpunkt ein Lebensabend als geachteter Politpensionär. In seiner Heimatstadt Wilmington haben sie schon den Bahnhof und ein Freibad nach ihm benannt. Doch das politische Feuer in Joe Biden ist noch nicht verloschen. Getrieben, so berichten es Weggefährten, werde er vom eigenen Ehrgeiz, aber auch von der Überzeugung, dass nur ein demokratischer Kandidat der Mitte eine zweite Amtszeit für Trump verhindern kann.

Anders als sein linker innerparteilicher Rivale Bernie Sanders ist Biden zum Beispiel gegen eine rein staatliche Krankenversicherung, die viele konservative Amerikaner als Sieg des Sozialismus fürchten. Die derzeitigen privaten Versicherungen will Biden lediglich um eine staatliche Option ergänzen. Als radikalste Forderung in Bidens Wahlprogramm sticht die Verdoppelung des US-weiten Mindestlohns auf 15 Dollar heraus.

Im April gelingt es Biden, sich die Nominierung der Demokraten zu sichern. Das Duell gegen Trump will er weniger mit einer anderen Politik als mit einem anderen Politikstil gewinnen. Zu diesem Stil gehört auch, dass Biden demonstrativ den offiziellen Lockdown-Regeln folgt und sein Grundstück nicht verlässt.

Was hat Europa, was hat Deutschland von einem Präsidenten Biden zu erwarten? „Auf der Oberfläche werden sich die transatlantischen Beziehungen, speziell die zwischen den USA und Deutschland, schnell wieder an das herzliche Verhältnis zu Zeiten von Präsident Obama annähern“, sagt Todd Mariano, US-Direktor des Thinktanks Eurasia Group.

Um die Bündnistreue der USA müssten sich die übrigen Nato-Partner dann keine Sorgen mehr machen. Auch will Biden die USA in das Pariser Klimaabkommen zurückführen. In der Handelspolitik rechnet Mariano hingegen nicht damit, dass sich die Zollstreitigkeiten zwischen den USA und der EU unter Biden auflösen. Auch die Rivalität der USA mit China würde unter Biden andauern, die Konfrontation mit Russland womöglich sogar härter werden.

Sein internationales Netzwerk müsste sich Biden als Präsident neu aufbauen. Von den vielen Regierungschefs, zu denen er als Senator und Vizepräsident Kontakte geknüpft hatte, ist kaum noch einer im Amt.

Ein Bundeskanzler ist Biden besonders im Gedächtnis geblieben. Beim ersten Treffen hatte Biden verschlafen, kam zu spät ins Kanzleramt und musste sich erst einmal anranzen lassen. Biden gab ordentlich Kontra, was offenbar Eindruck machte: Wenige Monate später hatte sich der Kanzler mit dem US-Präsidenten überworfen und verlangte ausdrücklich nach einem Besuch von Senator Biden. Hals über Kopf flog der nach Deutschland, um die Beziehung zum Verbündeten zu kitten. Das war 1978, und der schlecht gelaunte Kanzler hieß Helmut Schmidt.