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Das japanische Coronarätsel

Eigentlich hätte es in Japan eine Explosion von Covid-19-Erkrankungen geben müssen. Aber davon ist nichts zu sehen. Die verschiedenen Erklärungen sind so lehrreich wie unterhaltsam.

Die Japaner kehren in kleinen Schritten zum normalen Alltag zurück. Foto: dpa
Die Japaner kehren in kleinen Schritten zum normalen Alltag zurück. Foto: dpa

Als der Milliardär Masayoshi Son vergangene Woche auf Twitter ankündigte, er wolle den Japanern eine Million Virentestkits für den Heimgebrauch spenden, erlebte er eine Überraschung. Viele User forderten ihn auf, sein Angebot zu überdenken. „Wollen Sie das Gesundheitssystem zum Zusammenbruch bringen? Lassen Sie das bitte“, schrieb ihm ein User zurück. Ein anderer erklärte ihm, ein Abstrich in der Tiefe der Nasenhöhle sei nicht einfach, daher könne das Testergebnis falsch sein. Der Gründer und Chef der Softbank Group nahm sich die Kommentare zu Herzen und spendete stattdessen eine Million Gesichtsmasken.

Sein Erlebnis wirft ein Schlaglicht auf ein großes Coronarätsel: Japan unterhält einen regen Austausch von Touristen und Geschäftsleuten mit dem Nachbarland China, wo die Epidemie begann, und hat seinen über 126 Millionen Bürgern nur zahme Maßnahmen gegen die Virusverbreitung zugemutet. Die Schulen wurden Anfang März geschlossen und fast alle Veranstaltungen mit vielen Teilnehmern abgesagt. Aber Geschäfte, Kaufhäuser und Restaurants blieben offen. Dennoch meldete das japanische Gesundheitsministerium erst zehn Cluster mit bislang 892 Infizierten, täglich kommen nur wenige Dutzend dazu. Dabei sind seit der ersten Infektion schon zwei Monate vergangen. Eine weitere Anomalie: Japan weist mit über 28 Prozent den höchsten Bevölkerungsanteil an über 65-Jährigen auf, die als besonders gefährdet gelten. Dennoch forderte Covid-19 offiziell bisher nur 31 Tote.

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Daher erklärte Regierungschef Shinzo Abe vor einer Woche, die Experten hielten es nicht für erforderlich, den nationalen Notstand auszurufen. Seitdem kehren die Japaner in kleinen Schritten zum normalen Alltag zurück. Die Nachhilfeschulen gehen wieder in Betrieb, die Kinder sitzen dabei auf Abstand in gelüfteten Räumen. Einige Freizeitparks öffnen, aber nur die Außenanlagen, und am Eingang wird die Körpertemperatur gemessen. Fiebrige müssen draußen bleiben. Unter den Kirschbäumen packen kleine Gruppen ihre Essensboxen und Bierdosen aus und genießen die Blütenpracht mit Masken vor Mund und Nase. Die Pendlerzüge fahren mit häufiger Lüftung oder geöffneten Fenstern.

Kritiker erklären die japanische Sonderlage mit der geringen Zahl von Tests auf das Coronavirus. Die Inselnation ignoriert den „Testen, testen, testen“-Rat der WHO an alle Regierungen und hat nur 14.000 Abstriche untersucht, rund 20 Mal weniger als im Nachbarland Südkorea. Nur Patienten mit schwersten Symptomen würden getestet, berichtete der Virologe Masahiro Kami vom Medical Governance Research Institute. Die Dunkelziffer sei daher sehr hoch. Dahinter vermutete der Politologe Koichi Nakano von der Sophia-Universität eine politische Absicht: „Premier Abe will den Eindruck erwecken, Japan sei ein sicheres Land, damit die Olympischen Spiele im Sommer stattfinden können.“

Gegen solche Kritiker hat sich das Nationale Institut für Infektionskrankheiten schon Anfang März gewehrt. Man konzentriere sich auf die „aktive epidemiologische Untersuchung“ der Krankheit, teilte das Institut mit. Um akkurate Daten zu erheben, teste man in den 860 Gesundheitszentren nur Patienten mit eindeutigen Symptomen. Die indirekte Botschaft für den Laien: Bei vielen Krankheiten komme es zwar auf eine schnelle Entdeckung an, aber da sich Covid-19 nicht behandeln lasse, seien frühe Tests aus Medizinersicht nicht notwendig.

Die akademischen Erläuterungen änderten nichts an der Spaltung der Öffentlichkeit. Ein Teil der Japaner fühlt sich an die Tsunami-Katastrophe im März 2011 erinnert, als die Regierung die Kernschmelzen im AKW Fukushima Daiichi wochenlang nicht offiziell bestätigen wollte. „Damals hatten die Japaner Angst vor Radioaktivität, aber seitdem haben viele ihr früheres Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Beamten und Medien verloren“, meinte die Soziologin Barbara Holthus vom Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio. Deswegen gebe es wegen der geringen Zahl von Tests nun Misstrauen und Unzufriedenheit.

Ein anderer Teil der Bevölkerung hängt der Theorie an, dass die Japaner besonders gute Abwehrkräfte hätten, vor allem aufgrund ihrer Ernährung. Als Beweis führten Twitter-Nutzer die Region Ibaraki an, die nur einzige Infektion aufweise. Dort sind viele Hersteller von Natto angesiedelt, gekochte und fermentierte Sojabohnen, die eklig-klebrige Schleimfäden bilden. Natto enthält die meisten K-Vitamine in einem Lebensmittel sowie entzündungshemmende Isoflavone. Die Schleimbohnen beugen Schlaganfälle vor und helfen laut Nationalem Krebszentrum bei Herz-Kreislauf-Problemen. Daher ist Natto überall ausverkauft, so wie andere funktionale Nahrungsmittel für ein stärkeres Immunsystem, etwa Milchgetränke mit Laktobazillen.

Die Expertengruppe des Gesundheitsministeriums erklärte die geringe Infiziertenzahl damit, dass man viele Häufungen von Ansteckungen frühzeitig genug erkannt habe. So reagierte die Nordinsel Hokkaido auf einen Ausbruch der Seuche mit Schulschließungen und der Ausrufung des Notstands. Nach drei Wochen war die Verbreitung gestoppt. Doch im Prinzip hat die ganze Nation schon im Februar in einen Anti-Infektions-Modus umgeschaltet. In allen Geschäften und an allen Serviceschaltern stehen seitdem Desinfektionsmittel für die Hände. Das Tragen von Masken wurde zur Bürgerpflicht.

Wer erkältet war, trug auch früher eine Gesichtsmaske, um andere nicht anzuhusten. Schon vor dem neuen Coronavirus verbrauchte ein Japaner im Schnitt 43 Wegwerfmasken pro Jahr. Diese Quote dürfte jetzt deutlich gestiegen sein. Weil Masken kaum noch zu bekommen sind, verkaufen Drogerien zugeschnittene Stoffe und Kaffeefilter mit einer Anleitung, wie man daraus einen Gesichtsschutz herstellen kann. Zwar sind die normalen Masken für Viren durchlässig. Aber das massenhafte Tragen scheint sich trotzdem auszuwirken. Die Zahl der Grippekranken ist in den sieben Wochen seit dem Ausbruch des Coronavirus im Vergleich zum Vorjahr stark gesunken.

Das Vorbeugen von Infektionskrankheiten lernen die Japaner schon im Kindergarten. Wer nach Hause zurückkehrt, wäscht sich die Hände und gurgelt mit einer Desinfektionslösung. Bei einer Grippewelle müssen die Eltern jeden Morgen bei ihrem Schulkind die Temperatur messen und auf einem Formular eintragen. Die Rückkehr in die Schule nach einer Infektionserkrankung ist nur mit einer ärztlichen Bestätigung möglich. Auch eine soziale Etikette ohne körperliche Berührungen beugt der Übertragung von Viren vor: Man verbeugt sich mit Abstand voreinander, kein Händeschütteln, kein Wangenkuss.

Jedoch sonnt sich die Regierung nicht im Glanz ihrer Erfolge. Sie fürchtet eine zweite Erkrankungswelle, falls ihre Aufmerksamkeit nachlässt. Daher sollen zum Beginn des neuen Schuljahres Anfang April vorerst nur Schulen in Gebieten ohne Coronakranke den Betrieb aufnehmen. Größere Veranstaltungen finden weiter nicht statt. Das Hauptaugenmerk gilt jedoch ausländischen Besuchern. Nach den Südkoreanern müssen neuerdings alle Europäer draußen bleiben. Ab Samstag gilt eine Visumpflicht für alle Staatsbürger der Schengen-Staaten, also auch Deutschland. Alle erteilten Visa für Nichttouristen werden ungültig. Nur wer einen Wohnsitz in Japan hat, darf ins Land, muss aber bei einer Ankunft aus Europa 14 Tage in Quarantäne. Die Maßnahmen sind vorerst bis Ende April befristet. Die Aufhebung dürfte ganz von Europas Erfolgen gegen das Coronavirus abhängen.