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Ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie: Wie das Leben in Wuhan weitergeht

In der chinesischen Provinzhauptstadt brach die größte Gesundheitskrise der neueren Geschichte aus. Wie sieht es heute in Wuhan aus? Ein Report.

Als der Lockdown am 23. Januar um 22 Uhr über Wuhan verhängt wurde, schlief Zhang Jinjin in einem Apartment seines damaligen Arbeitgebers. Seine Mitbewohner erreichte abends die Nachricht der Lokalregierung, dass die Stadt in wenigen Stunden völlig abgeriegelt werden würde. Sie verließen Wuhan fluchtartig.

Doch Zhang schlief schon. Als er wieder aufwachte, war die Stadt geschlossen, und er durfte Wuhan nicht verlassen. Kurze Zeit später riegelte das Nachbarschaftskomitee seine Wohnanlage in Wuhan ab. Nun konnte er noch nicht einmal mehr aus seiner Wohnung treten. Es war der Moment, als die ganze Welt auf die chinesische Provinzhauptstadt schaute – ungläubig und schockiert, was zur Bekämpfung eines Virus nötig schien.

Heute fährt Zhang auf seinem Weg zur Arbeit jeden Tag am ehemaligen Huanan-Markt vorbei, dem Ort, an dem das Coronavirus vor rund einem Jahr zum ersten Mal entdeckt wurde. Von hier aus, so der Verdacht, verbreitete es sich in der ganzen Welt.

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Das ganze Jahr über hat die pandemiegeplagte Welt auf Wuhan geschaut. Was früher eine chinesische Mega-Stadt unter vielen war, ist inzwischen international bekannt. Doch wie sieht es in der Elf-Millionen-Einwohner-Stadt heute aus? Wie haben die extremen Ereignisse die Bewohner geprägt?

Zhang sitzt auf einem reich verzierten Sessel im Foyer des Fußmassagesalons, den er heute leitet. Die Decke ist mit vergoldetem Stuck und barocken Gemälden verziert, opulente Kronleuchter hängen im Raum. Das schmucklose Gebäude, in dem der Salon untergebracht ist, liegt direkt gegenüber dem Huanan-Markt. „Es war sehr deprimierend, zu Hause bleiben zu müssen“, erinnert er sich.

Um der Langeweile und der Enge zu entfliehen, meldete er sich als Freiwilliger, um bei einem psychiatrischen Krankenhaus auszuhelfen. Er dachte, er sollte nur Kisten tragen, doch als er im Krankenhaus eintraf, bat man ihn, sich um die Patienten zu kümmern, die an Covid erkrankt waren. Fünf Stunden am Tag musste er Schutzkleidung tragen, die Menschen baden und füttern. „Zuerst hatte ich Angst“, sagt er. Dann stellte sich bei ihm aber ein Gefühl der Erfüllung ein. „Die Menschen spürten, dass man es gut mit ihnen meint.“

Erst seit Mai kann Zhang wieder in seinem Beruf arbeiten. „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt er rückblickend, „die Zeit war sehr lang.“ Wie hat ihn die Krise verändert? „Ich glaube, ich schätze jetzt meine Arbeit und mein Leben mehr, und mein Denken ist positiver“, sagt er.

Zwar ist noch keine völlige Normalität in Wuhan eingekehrt, auch wenn die Zeit des Lockdowns lange vorbei ist – seit Juni haben die Behörden in Wuhan keine neuen Fälle von lokalen Corona-Infektionen gemeldet. Die Geschäfte laufen noch nicht so gut, wie sie sollten. Aber Zhang glaubt daran, dass die Dinge sich zum Besseren entwickeln werden.

Nur ein paar Hundert Meter von dem Fußmassagesalon entfernt steht noch immer das braune Gebäude, in dem der Huanan-Markt beherbergt war. Es sieht auf den ersten Blick unscheinbar aus. Alle drei Meter sind Palmen in Pflanzkübeln aufgestellt, chinesische Gemälde verzieren die schlichte Absperrung. Hellblaue, rund drei Meter hohe Wände verbergen, was dahinter einmal war.

Nichts erinnert mehr daran, dass vor rund einem Jahr hier die größte Gesundheitskatastrophe der jüngeren Weltgeschichte ihren Ursprung gehabt haben soll. Autos brausen vorbei, am Eingang zur nahe gelegenen U-Bahn stehen zwei Mitarbeiterinnen von einem Immobilienentwickler und reichen bei nasskaltem Wetter vorbeigehenden Passanten Becher mit heißer Ingwer-Cola. Der Markt sei geschlossen, sagt eine von ihnen.

Am 1. Januar ließ die Stadtregierung den Eingang verbarrikadieren. Vorher habe es dort keine Mauer gegeben, nur viele kleine Ladenfronten, erzählen die Frauen. Das Schild über dem Markt wurde inzwischen abmontiert, die Zufahrt für Lieferungen ist versperrt.

Über den Hallen des ehemaligen Marktes sind auf einer großen und schmucklosen Verkaufsfläche noch immer Dutzende Brillenläden untergebracht. In Glasvitrinen bieten Händler Tausende Modelle an. Sie warten auf Kundschaft, manche essen noch ihr Frühstück: warme Nudeln aus Pappschalen. Fast alle Verkäufer tragen Masken, nur ihre Augen sind zu sehen.

Nur wenige Kunden sind an diesem Morgen in den Verkaufsräumen zu sehen. „70 Prozent Nachlass!“, rufen die Verkäufer, wenn jemand an ihrem Laden vorbeigeht und „Kommt, schaut mal!“

Der 59-jährige Wu Zhibiao hilft im Ausstellungsraum seiner Nichte aus. Als ein Stockwerk unter ihnen die Krise ausbrach, mussten seine Nichte und die anderen Händler ihre Läden verlassen. Erst Anfang Mai konnten sie wieder öffnen.

Die Krise hat Wuhan so hart wie kaum eine andere Stadt in China getroffen. Die Umsätze der Einzelhändler brachen in der Metropole im ersten Halbjahr um fast 35 Prozent ein, landesweit waren es 11,4 Prozent. Und während sich die Verkäufe seit August in anderen Teilen des Landes wieder erholten und der Einzelhandel sogar wieder Zuwächse im Vergleich zum Vorjahr verzeichnete, liegen die Verkaufszahlen in Wuhan noch immer unter denen vom Vorjahr.

Auch jetzt bleiben die Kunden noch fern. „Die Menschen sind vorsichtiger, und ihr Einkommen ist durch die Krise gesunken“, sagt Verkäufer Wu. Viele würden jetzt länger ihre alte Brille nutzen, statt ein neues Modell zu kaufen. Andere Händler bestätigen das. Die Menschen hier lassen sich nicht unterkriegen, viele sind voller Zuversicht, dass die Wirtschaft bald besser läuft und das Virus nicht zurückkommt.

Doch weil der Markt eine Etage tiefer nicht mehr da ist, kommt auch weniger Kundschaft in die Läden. Früher, sagt eine Verkäuferin, hätten die Menschen erst Lebensmittel gekauft und dann noch nach Brillen geschaut. Sie will, wie die vielen anderen Verkäufer, mit denen wir hier reden, ihren Namen nicht nennen. Dann wird sehr deutlich, warum. Ein Sicherheitsmann kommt herbeigelaufen. „Keine Interviews“, herrscht er sie an. „Ich habe doch gar nichts gesagt“, verteidigt sich die Verkäuferin.

Peking will die Deutungshoheit behalten

Die Kommunistische Partei (KP) will das Narrativ darüber kontrollieren, was hier passiert ist. Andere Stimmen werden unterdrückt. Kritiker des Regimes sagen Gespräche mit Journalisten erst zu, dann wenig später wieder ab. Sie haben Angst vor Repressionen. Viele Menschen, die über die Krise berichteten, sind bereits verschwunden, etwa der Geschäftsmann Fang Bin, der Videos von den überfüllten Krankenhäusern gezeigt hatte. Seit Februar fehlt von ihm jede Spur.

Rund 30 Minuten Autofahrt von dem ehemaligen Markt entfernt sieht man, wie die Partei die Geschichte der Pandemie erzählt haben will. „Die Menschen zuerst, das Leben zuerst – Spezialausstellung zum Kampf gegen die Covid-19-Epidemie“ steht in großen Schriftzeichen über dem Eingang einer riesigen Halle mit geschwungenem Dach. Seit dem 15. Oktober stellt die örtliche KP hier ihre Version der Ereignisse rund um das Virus aus. Die Ausstellung soll insgesamt drei Monate laufen.

Über dem Eingang hängen fünf rund acht Meter hohe Bilder der Helden von Wuhan: Ärzte in Schutzanzügen, Soldaten der Volksbefreiungsarmee und von der Partei abgestellte Nachbarschaftshelfer.

Im Inneren wird jedoch deutlich, wer in der Darstellung der Partei der eigentliche Held der Krise ist: Xi Jinping. Gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt eine mehr als zehn Meter lange Zeitreihe, welche Maßnahmen Chinas Staats- und Parteichef ergriffen hat, um die Krise zu bewältigen.

„Nach dem Ausbruch der Epidemie maß Generalsekretär Xi Jinping dem Leben und der Gesundheit der Menschen größte Bedeutung bei, plante die Gesamtstrategie und überwachte und leitete persönlich den Kampf gegen die Epidemie“, steht gleich zu Beginn der Ausstellung auf einer Tafel.

Die Zeitreihe fängt mit dem 7. Januar an. Bei einem Treffen des Politbüros der Kommunistischen Partei, so steht es dort, habe Xi die „Anforderungen an Prävention und Kontrolle erhöht“. Kritiker werfen dem Regime jedoch vor, erst viel später und viel zu halbherzig reagiert zu haben.

Die Ausstellung beschreibt, wie die chinesische Zentralregierung und die Volksbefreiungsarmee, aber auch die vielen Ärzte und Krankenschwestern in der Krise agierten. An diesem Montagnachmittag sind außer uns keine Besucher da. Fotos machen dürfen wir nicht – ohnehin werden wir nur als Ausnahme reingelassen, weil ausländische Journalisten eigentlich eine vorherige Anmeldung beim Amt für Auswärtige Angelegenheit der Provinz Hubei benötigen.

Es ist eine hochwertig gemachte Ausstellung, sogar Elemente zum Mitmachen sind dabei wie die kleinen Zellen, in denen man sich fühlen soll wie in einem PPE-Anzug, und Pappaufsteller für das Social-Media-Foto.

Begleitet von dramatischer Musik wird ein Heldenepos, die Reaktion auf das Virus als Krieg inszeniert. „540.000 medizinische Fachkräfte in Wuhan und Hubei kämpften an der Front“, heißt es auf einer Tafel.

Der vielen Toten, die das Virus in China forderte, wird in der Ausstellung allenfalls am Rande gedacht. Und auch das Chaos, das in den ersten Wochen herrschte, wird nur verkürzt erwähnt.

Dass Menschen in den ersten Wochen neben Leichensäcken auf eine Behandlung warten mussten, dass viele überhaupt keinen ärztlichen Beistand bekamen und Hunderte Menschen verzweifelt über soziale Medien um Hilfe flehten, dass viele allein zu Hause starben, das alles wird nicht erwähnt.

Gerade einmal fünf Fotos in der ganzen Ausstellung zeigen die überfüllten Krankenhausflure, die in der Anfangszeit der Krise an der Tagesordnung waren.

Auch dass der Wuhaner Arzt Li Wenliang, der bereits Ende Dezember vor dem Virus gewarnt hatte, von Parteifunktionären mundtot gemacht wurde, wird verschwiegen. Später starb Li an Covid. „Das Virus kam ganz plötzlich“, heißt es auf der Tafel neben den Fotos.

Die Umdeutung hat System: Anfang des Jahres war die Kritik groß, die Staatsführung um Xi bekam Angst, dass sie für die Versäumnisse verantwortlich gemacht werden würde. Also entließen sie erst mal die lokalen Kader in Wuhan, die Sündenböcke. Dann wurde Kritik jeglicher Art massiv unterdrückt, wurden Missstände verschwiegen. Nur wenige trauen sich jetzt noch, ihren Unmut zu äußern.

Viele Unternehmenspleiten

Von den großen Verdiensten der Partei beim Kampf gegen das Virus, die in der Ausstellung suggeriert werden, schwärmen jedoch nur wenige Wuhaner. „Am Anfang war es sehr chaotisch“, sagt Wei Fang, „die Menschen waren aufeinander angewiesen, um an Informationen zu kommen, es gab keine Informationen seitens der lokalen Verwaltung.“

Vor der Krise hatte die 43-Jährige in einer der hübschen erhaltenen Straßen von Wuhan einen Laden betrieben, in dem sie zusammen mit ihrem Ehemann He Kai Kleidung aus Südkorea verkaufte. „Am 20. und 21. Januar wurden die Menschen auf einmal nervös“, erinnert sie sich. Am 20. Januar beschlossen sie und He, den Laden in dem kleinen, grauen Haus vorerst zu schließen.

Schätzungen zufolge sind Hunderttausende Unternehmen in China während der Krise bankrottgegangen, offizielle Zahlen gibt es nicht. In der Wuhaner Lokalpresse wird das Thema totgeschwiegen.

„Direkt nach der Epidemie gab es sehr viele leere Läden“, erinnert sich Wei. Nach der Krise änderten sie und He das Konzept, weil sie wegen der Reisebeschränkungen nicht mehr nach Südkorea fliegen konnten, um neue Kleidung für den Verkauf auszuwählen. Wei und He machten aus dem Laden eine Bäckerei. Dass die Stadt in Massentests alle Einwohner auf Corona testen ließ, habe ihnen Sicherheit gegeben, sagen sie.

Ein Tresen aus Beton ziert nun den kleinen Raum, an dessen einem Ende steht eine kleine Vitrine mit liebevoll zubereitetem Gebäck.

Die Krise hat nicht nur Weis Laden, sondern ganz Wuhan verändert. Auf der Brücke über den Jangtse, auf der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem letzten Besuch in China im vergangenen Jahr im September stand, und im Rest der Stadt staut es sich jetzt öfter, erzählen die Taxifahrer. Viele Menschen hätten sich ein eigenes Auto gekauft, weil sie fürchten, sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln anzustecken.

Und mit dem Winter kommt auch die Angst vor einer zweiten Welle wieder zurück. Fast alle Wuhaner tragen nun Maske – selbst im Freien. Das war im Sommer noch anders.

Die Krise hat Wuhan verunsichert, die Menschen sind vorsichtig geworden. Die Taxifahrer lassen trotz eisiger Kälte ihre Fenster immer einen Spalt auf. „Im Moment heißt leben, sein Glück zu versuchen“, sagt Wei. Man wisse nicht, wann man sich anstecken könnte. „Aber du kannst dein Leben wegen des Virus nicht komplett abschließen. Du musst weitermachen.“

Das Leben in Wuhan geht weiter. Nicht nur in der Altstadt oder beim ehemaligen Huanan-Markt. Auf der anderen Seite des Jangtse, etwa 45 Minuten Autofahrt von der Bäckerei entfernt, liegt das Leishenshan-Krankenhaus, eines von zwei Notkrankenhäusern für Covid-Patienten, die die Lokalregierung innerhalb weniger Tage von Tausenden Arbeitern aus dem Boden stampfen ließ. Zwischen Februar und April wurden in dem provisorischen Krankenhaus mehr als 2000 Menschen behandelt. Nun ist das riesige Gelände verwaist.

Nur wenig erinnert noch an die dramatischen Szenen, die sich hier Anfang des Jahres abspielten. Die Straßen rund um das Gelände sind lehmverschmiert und menschenleer, Baulaster brettern vorbei, in der Ferne schlägt ein Bauarbeiter mit einem Hammer auf Stahl, Kräne drehen sich.

Unweit des Ortes, wo die ersten Covid-Patienten Anfang des Jahres ums Überleben kämpften, entstehen gerade Dutzende neue Hochhäuser, Tausende Wohnungen sollen bald bezogen werden.

Abreißen will die Stadtregierung das Krankenhaus jedoch nicht - für den Fall, dass das Virus zurückkommt.

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