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Hoffnung made in Germany: Biontech und der Corona-Impfstoff

Ein Mainzer Gründerpaar gibt der Welt neuen Mut im Kampf gegen Corona. Die Technologie dahinter könnte eine Jahrhundert-Revolution für die Pharmabranche auslösen.

Rund fünf Jahre lang arbeitete das Unternehmen an den wissenschaftlichen Grundlagen für sein Impfkonzept. Foto: dpa
Rund fünf Jahre lang arbeitete das Unternehmen an den wissenschaftlichen Grundlagen für sein Impfkonzept. Foto: dpa
  • Bei der Suche nach einem Corona-Impfstoff ist Biontech der Durchbruch gelungen. Außergewöhnlich ist nicht nur der kurze Zeitraum, in dem das deutsche Unternehmen den Impfstoff entwickelt hat, sondern auch dessen Wirkungsweise.

  • Gelingt es, Biontechs neuartige mRNA-Technologie durchzusetzen, könnte das einen grundlegenden Umbruch in der Medizin vorantreiben. Bringt das Mainzer Unternehmen Deutschlands Pharmabranche zurück in die Führungsrolle?

  • Die Bundesregierung bemüht sich, ausreichend Impfstoffdosen zu sichern. Aber wie sollen diese möglichst flächendeckend in der Republik verteilt werden? Und wer bekommt den Vorzug? Ein Blick auf Deutschlands Impfstrategie.

  • Im globalen Rennen um einen Corona-Impfstoff liegen derzeit Biontech und Pfizer vorne. Doch eine Reihe von anderen börsennotierten Unternehmen ist ihnen dicht auf den Fersen. Welche Pharma-Aktien in den kommenden Wochen vom Durchbruch im Kampf gegen Corona profitieren könnten.

So unauffällig kommen Revolutionen bisweilen daher. Hinter der Fassade der Biontech SE könnte sich ebenso gut die Verwaltung eines mittelständischen Automobilzulieferers verbergen. Direkt gegenüber liegt das Obdachlosenasyl der Caritas, nebenan beginnen Kleingärten. Und zum Mittagessen haben die gut 1000 Biontech-Angestellten die Auswahl zwischen den Gaststätten „Crazy Wok“ und „City Baguette“. Allenfalls die Adresse lässt erahnen, dass hier Großes geschieht: An der Goldgrube 12, 55131 Mainz.

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Am Montag wurden von hier aus die globalen Finanzmärkte bewegt. Als die Mainzer Firma und ihr US-Partner Pfizer erste positive Zwischenresultate aus ihrer großen Studie mit einem potenziellen Covid-19-Impfstoff bekanntgaben, rollte eine Welle der Hoffnung um den Erdball und elektrisierte die Weltbörsen: Mit einer Wirksamkeit in mehr als 90 Prozent der Fälle übertraf der Impfstoff im Test die Erwartungen der meisten Experten.

Biontech und Pfizer sind auf Kurs für eine Zulassung noch in diesem Jahr und stärken indirekt auch die Zuversicht für eine ganze Reihe weiterer Impfstoffprojekte: Die Daten liefern den ersten Beleg, dass Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 tatsächlich funktionieren könnten. Die EU, viele nationale Behörden und auch die Bundesregierung bereiten sich nun darauf vor, die Impfstoffe möglichst rasch zu beschaffen, zu verteilen und zunächst jenen Menschen zu verabreichen, deren Leben das Coronavirus besonders bedroht.

Ugur Sahin, der Chef und Mitgründer von Biontech, kommentierte die Nachricht ganz im Stil des vorsichtigen Wissenschaftlers: „Die erste Zwischenanalyse unserer globalen Phase-3-Studie weist darauf hin, dass ein Impfstoff Covid-19 verhindern kann. Dies ist ein Sieg für die Innovation, Wissenschaft und weltweite Zusammenarbeit.“

Der Weg dorthin war indes ungewöhnlich. Es ist ein Sieg für die Wissenschaft. Falls der Impfstoff hält, was er verspricht, wäre es sogar ein Sieg für die ganze Menschheit. In jedem Fall aber ein Sieg für ein paar Prinzipien, die es nicht leicht hatten in den vergangenen Jahren: Weltoffenheit und Vertrauen, Kooperation, Bildungshunger und Aufstiegswillen. Und ja, auch Kapitalismus und Marktwirtschaft haben diesen Erfolg möglich gemacht.

1. Die Forscher und ihre Investoren: Zwei Paare finden sich

Ugur Sahin kam 1965 im Süden der Türkei zur Welt. Als Vierjähriger zieht er mit seiner Mutter nach Köln, wo der Vater bereits lebt und in einer Autofabrik von Ford arbeitet. Schon als Schüler entwickelte Sahin großes Interesse für Naturwissenschaften und Technik. Eine Fernsehsendung von Hoimar von Ditfurth weckt schließlich seine Begeisterung für die Immunologie, ein Thema, das Sahin seither nie mehr losgelassen hat.

Nach dem Medizinstudium in Köln folgt er seinem Doktorvater an die Universitätsklinik des Saarlands in Homburg, wo er seine Frau Özlem Türeci kennenlernt. Auch sie wurde in der Türkei geboren, kam als Kind nach Deutschland, ist gelernte Ärztin und vor allem: Sie teilt mit Sahin die Passion für Wissenschaft und Forschung.

Unternehmer wollten beide eigentlich nie werden. Eher aus der Not heraus, um die Entwicklung neuer Therapieprojekte voranzubringen, wurden sie schließlich doch zu Entrepreneuren und gründen 2001 ihre erste Firma, Ganymed in Mainz. Ziel war es, neuartige, spezifische Antikörper gegen Krebs zu entwickeln.

In den Folgejahren lernen sie die Hürden und Unwägbarkeiten des Biotechgeschäfts kennen. Die Projekte kommen langsamer voran als geplant. Die Anfangsinvestoren werden nervös. Und nachdem 2006 die Würzburger Biotechfirma Tegenero mit einem Antikörperprojekt spektakulär gescheitert war, weil lebensgefährliche Nebenwirkungen auftraten, verlieren die meisten Geldgeber ihr Vertrauen in Ganymed und wenden sich ab.

Einer, der ausgerechnet in dieser schwierigen Phase Vertrauen in Türeci und Sahin entwickelt, heißt Thomas Strüngmann. Der erfahrene Pharma-Unternehmer und sein Bruder Andreas hatten wenige Jahre zuvor ihren Arzneimittelhersteller Hexal für mehr als fünf Milliarden Euro an den Novartis-Konzern verkauft und investierten seither unter anderem in junge deutsche Biotechfirmen. Strüngmann selbst formuliert es eher so: „Wir investieren nicht in Firmen, sondern in Menschen.“

Auf Empfehlung seines Co-Investors Michael Motschmann trifft Thomas Strüngmann 2007 das Mainzer Unternehmer-Paar und war, wie er es selbst beschreibt, schon nach dem ersten Gespräch überzeugt, die idealen Gründer und Biotechunternehmer gefunden zu haben. „Sahin und seine Ehefrau Özlem Türeci“, sagt er heute, „sind Ausnahmeerscheinungen mit dem, was sie an wissenschaftlichen Grundlagen für die Firma geschaffen haben und mit welcher Passion sie das vorantreiben.“

Die „Strüngmänner“ stellten nicht nur die Weiterfinanzierung von Ganymed sicher, sondern waren wenig später auch zur Stelle, als Sahin das Konzept für ein neues Unternehmen entwickelte. Die Idee: eine völlig neuartige Klasse von individualisierten Krebsimpfstoffen auf Basis von Boten-Nukleinsäure (mRNA) zu erforschen.

Das Grundkonzept: Weil jeder Tumor ein besonderes Profil an Mutationen aufweist, sollte auch das Medikament oder Vakzin gegen den Tumor eigens dafür zugeschnitten sein. „Wir erstellen eine Art genetisches Fahndungsfoto des individuellen Tumors“, beschreibt Sahin das Konzept. „Dann bringen wir dem Immunsystem bei, die Krebszellen zu erkennen.“

So ähnlich funktioniert nun auch der Covid-Impfstoff aus den Mainzer Laboren. Das Fahndungsfoto, das die mRNA in diesem Fall transportiert, ist der Bauplan für das sogenannte Spikeprotein auf der Virushülle.

Nicht nur in der Forschung, auch strategisch ging das Mainzer Unternehmen neue Wege. Sahin und seine Geldgeber waren von vornherein entschlossen, ihre Projekte mit vollem Einsatz voranzutreiben und das Feld nicht den meist besser finanzierten US-Konkurrenten zu überlassen.

Eine ungewöhnlich große Anfangsfinanzierung von 150 Millionen Euro sicherte den Gründern Ressourcen und Freiraum, um sich voll auf die Forschung zu konzentrieren und ihre Projekte ebenso zügig wie gründlich voranzutreiben. Es war die mit Abstand größte sogenannte Serie-A-Runde in der europäischen Biotechszene, ein gewaltiger Vertrauensvorschuss der Investoren in die Gründer.

Rund fünf Jahre lang arbeiteten Sahin und seine Mannschaft weitgehend im Verborgenen an den wissenschaftlichen Grundlagen für das neue Konzept, bevor erste Publikationen in der Zeitschrift „Nature“ zumindest die Fachwelt auf das Mainzer Start-up aufmerksam machten.

Es folgten schnell die ersten Deals mit großen Pharmakonzernen und ein rasantes Wachstum der Projekte. Der Schweizer Roche-Konzern stieg mit seiner Tochter Genentech im Zuge einer großen Allianz in das Projekt der individualisierten Krebsimpfstoffe ein.

Mit dem US-Konzern Lilly vereinbarte Biontech die Entwicklung von Zelltherapien gegen Krebs. Mit Sanofi die Erforschung von RNA-Vakzinen gegen bestimmte Rezeptoren von Krebszellen. Mit der dänischen Genmab die Entwicklung von Antikörpern gegen Krebs.

Schon 2016 avanciert das Unternehmen, gemessen an der Mitarbeiterzahl, zur größten privaten Biotechfirma in Europa. Der Kapitaleinsatz ist für deutsche Verhältnisse enorm. Trotz großer Zuflüsse aus den Pharma-Allianzen sind bis heute fast 800 Millionen Euro Verlust aufgelaufen. Eine Vorleistung, die sich nun mehr als auszahlt.

Im August 2018 besiegelte Biontech die erste Allianz mit dem US-Pharmariesen Pfizer für die gemeinsame Entwicklung von Impfstoffen gegen Grippe und andere Infektionskrankheiten. Diese Kooperation hat nun auch den Hoffnungsträger in Sachen Corona hervorgebracht.

Solche Partnerschaften zwischen kleinen, forschungsstarken Start-ups und etablierten Konzernen sind in der Pharmabranche üblich. Pfizer bringt als einer der führenden Impfstoffhersteller das nötige Know-how für Entwicklung, Produktion und Vertrieb des Impfstoffs mit und beteiligt sich auch an den Entwicklungskosten.

Unter anderem baut Pfizer seine Produktionskapazitäten aus, damit die Partner im kommenden Jahr die angepeilten 1,3 Milliarden Corona-Impfdosen herstellen können. Pfizer hat bereits mehr als zwei Milliarden Dollar in die Impfstoffentwicklung und den Aufbau der Distribution gesteckt. Da die Impfstoffe bei minus 70 Grad Celsius transportiert werden müssen, sind spezielle Kühlzentren und Transportkoffer nötig.

Gemessen am umfangreichen Engagement in der Krebsforschung indes war der Kampf gegen Infektionskrankheiten für Biontech eher ein Randgebiet. Noch im vergangenen Herbst schien es völlig ausgeschlossen, dass das Mainzer Unternehmen ausgerechnet auf diesem Feld so schnell für Furore sorgen würde und sein erstes marktreifes Produkt hervorbringen sollte.

Der Biontech-Börsengang im Oktober 2019 verlief eher holprig. Für den Sprung an die US-Technologiebörse Nasdaq musste Biontech sowohl beim Emissionspreis als auch beim Volumen Zugeständnisse machen. Die Anfangsbewertung von etwa 3,1 Milliarden Dollar war damals ansehnlich für ein deutsches Biotechunternehmen, aus heutigem Blickwinkel aber geradezu bescheiden. In den ersten Tagen verlor die Aktie gegenüber dem Ausgabekurs von 15 Dollar sogar an Wert.

Einen Börsengang in Deutschland hatte das Mainzer Unternehmen nicht einmal in Erwägung gezogen. „Wir hätten hier keine Chance gehabt“, ist Großaktionär Strüngmann überzeugt. Zu gering erschienen die Risikobereitschaft und das Interesse deutscher Investoren an Biotech.

Ein Jahr später sieht die Welt auch in dieser Hinsicht völlig anders aus. Gemessen am aktuellen Börsenwert von rund 22 Milliarden wäre der Biotech-Star aus Mainz heute theoretisch ein Kandidat für den Dax, wenn er denn in Frankfurt gelistet und die Zahl der frei gehandelten Aktien größer wäre. Doch das ist vorerst nicht in Sicht.

Die Brüder Strüngmann halten über ihr Family Office noch knapp 50 Prozent am Unternehmen und Sahin selbst etwa 18 Prozent. Weder für die Haupteigner noch für den Firmengründer ist der Verkauf von Anteilen ein Thema. „Sahins Traum deckt sich mit dem unsrigen“, so Thomas Strüngmann. „Wir wollen etwas Nachhaltiges, Bleibendes aufbauen, um grundlegend neue, bessere Therapien zu entwickeln.“

Mit ihrem potenziellen Covid-Impfstoff stehen das türkischstämmige Wissenschaftlerpärchen und die milliardenschweren Zwillingsbrüder Strüngmann nun an der Schwelle, ihren Traum erstmals mit einem marktreifen Produkt zu erfüllen. Die vier bindet eine ebenso ungewöhnliche wie zwingende Allianz: Die Gründer hätten nicht ohne das Geld und das Vertrauen der Investoren loslegen können, die Investoren nicht ohne die Ideen und den Erfolgswillen der Gründer.

2. Die Technologie und ihre Tücken: Getarnte Moleküle finden ins Ziel

Ungeachtet des ersten Erfolgs und der Euphorie sind aber noch viele Fragen offen, vor allem was die Qualitäten des Impfstoffs betrifft. Noch ist nicht geklärt, inwieweit das Produkt auch die Zahl der schweren Krankheitsverläufe reduzieren kann, wie gut er bei alten Menschen wirkt und wie lange die Schutzwirkung anhält.

Nicht einmal der genaue Wirkmechanismus ist vollständig bekannt. Ist eher die Antikörper-Konzentration relevant für die Schutzwirkung des Impfstoffs? Oder die Reaktion der T-Zellen im Immunsystem? All das wird man erst im Laufe der nächsten Wochen und Monate erkennen und analysieren können.

Fachleute zeigen sich zuversichtlich, dass weitere Impfstoffe ähnlich gute Resultate liefern könnten, nachdem Biontech und Pfizer nun erstmals bestätigt haben, dass Impfungen bei Sars-CoV-2 tatsächlich funktionieren. Noch im laufenden Jahr werden voraussichtlich auch die US-Firma Moderna und die britische Astra-Zeneca erste Zwischenresultate aus ihren großen Impfstoffstudien publizieren.

Moderna testet ebenfalls einen mRNA-basierten Impfstoffkandidaten in Kooperation mit dem Nationalen Institut der USA für Infektionskrankheiten (NIAID) und hat am Mittwoch die Zwischenresultate bei einem unabhängigen Expertengremium eingereicht.

Das russische Gamaleya-Institut und die chinesische Sinopharm behaupten unterdessen bereits, dass ihre Impfstoffe ähnlich gute Resultate wie das Biontech-Vakzin erzielen. Allerdings ist deren Datengrundlage unklar.

In der ersten Hälfte des kommenden Jahres werden jedenfalls voraussichtlich eine Reihe weiterer Firmen Daten aus größeren Impfstoffstudien präsentieren. Dazu gehört etwa der US-Konzern Johnson & Johnson, die französische Sanofi und die Tübinger Firma Curevac, die sich ebenfalls zu den Pionieren in der mRNA-Technik zählt. Curevac werde zwar nicht den ersten Covid-Impfstoff auf den Markt bringen, so Haupteigner Dietmar Hopp, „aber wir wollen das Rennen um den besten Impfstoff gewinnen“.

Weltweit befinden sich nach Daten der WHO inzwischen mehr als 200 Impfstoffprojekte in der Entwicklung, davon rund ein Viertel in der Phase der klinischen Erprobung. Zehn Produkte sind bereits in der finalen Testphase angelangt.
Bei den Corona-Impfstoffen zeigt die Branche damit eine Leistungsfähigkeit, die vor der Pandemie kaum vorstellbar erschien. Entwicklungsschritte, die normalerweise mehrere Jahre dauern, wurden auf zehn Monate verdichtet.

Nicht nur vor diesem Hintergrund wirkt der Rekord von Biontech geradezu sensationell, sollte er wirklich noch vor Ende des Jahres zu einer Zulassung für den ersten Corona-Impfstoff führen. Biontech hätte nicht nur irgendein Rennen im Pharmabereich gewonnen, sondern das Rennen mit den meisten Teilnehmern und dem größten Einsatz in der Geschichte der Medizin.

Auch für den Technologiewettbewerb im Impfstoffbereich setzt dieser Erfolg ein Signal, das kaum zu überschätzen ist. Denn mit dem Biontech-Impfstoff würde erstmals überhaupt ein Pharmaprodukt auf Basis von Boten-Nukleinsäuren (mRNA) zugelassen. Das Mainzer Unternehmen liefert den „proof of concept“ für eine neue Produktkategorie im Pharmabereich, den vorläufigen Beweis, dass mRNA tatsächlich als Arzneimittel taugen. Weitere Produkte auf ähnlicher Grundlage könnten dann in Kürze folgen.

„Die übergeordnete Botschaft ist, dass ein völlig neues Impfprinzip erstmalig seine Effektivität bewiesen hat und bewährte Strategien auf der Basis von aufwendigen Virusvektoren oder ähnlichem damit in den Hintergrund rücken“, sagt der Infektiologe und Tropenmediziner Clemens Wendtner, der die Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen am Münchener Klinikum Schwabing leitet. „Das Herstellungsverfahren ist im Vergleich zu klassischen Impfstoffen sehr viel schneller und kann auch relativ schnell bei Auftreten von Virusmutationen angepasst werden.“

Biontech-Chef Sahin sieht sich selbst dabei keineswegs als Technologie-Apostel und sein Unternehmen auch nicht als reine mRNA-Firma. „Wir sind eigentlich technologie-agnostisch und in erster Linie eine patienten-zentrierte Firma“, sagt er. „Wir nutzen dazu jeweils die Technik, die dem Patienten am besten hilft.“

Das umfangreiche Krebsforschungsprogramm von Biontech mit inzwischen elf Produkten in klinischen Tests nutzt neben mRNA auch andere Produktkategorien wie Zelltherapien, Antikörper und auch klassische, chemisch synthetisierte Arzneiwirkstoffe.

Klar erscheint indessen, dass sich mRNA-Impfstoffe dank ihrer Vorteile gegenüber etablierten Techniken zur disruptiven Kraft auf dem 50 Milliarden Dollar großen Impfstoffmarkt entwickeln könnten, indem sie konventionelle Impfstoffe verdrängen und zugleich den Markt mit neuen Vakzinen erweitern.

„Diese Impfstoffe bieten riesige neue Möglichkeiten“, zeigt sich Stéphane Bancel überzeugt. Schon bevor von Corona überhaupt die Rede war, kalkulierte der Chef des amerikanischen Biotechunternehmens Moderna das Potenzial der eigenen mRNA-Produktkandidaten auf sechs bis zwölf Milliarden Dollar.

Die großen Erwartungen an die Technologie ergeben sich aus den besonderen Eigenschaften des Biomoleküls mRNA. Es spielt eine Schlüsselrolle in der Biologie, indem es genetische Informationen aus dem Zellkern in die Proteinfabriken der Zellen, die sogenannten Ribosomen transportiert. mRNA fungiert damit als Zwischenglied zwischen Genen und Proteinen (Eiweißsubstanzen), den Arbeitspferden des molekularen Stoffwechsels. Manche Experten beschreiben mRNA daher auch als eine „Software des Lebens“, die Daten aus dem Speicher (DNA) abliest und damit die Applikationen (Proteine) steuert.

Dank dieser Funktion bietet sich mRNA im Prinzip als geradezu idealer Arzneiwirkstoff an. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich Zellen theoretisch so programmieren, dass sie jedwede Art von Proteinen erzeugen. Statt komplizierte Eiweißwirkstoffe oder Impfstoffe in teuren Biotechanlagen zu produzieren, so die Vision der mRNA-Spezialisten, könnte man die Körperzellen der Patienten selbst zu Pharmafabriken umfunktionieren.

Die entscheidende Hürde besteht darin, synthetische RNA von außen in Zellen einzuschleusen. Fremde RNA wird normalerweise vom Körper schnell erkannt und zersetzt. Lange Zeit schien es damit ausgeschlossen, RNA therapeutisch zu nutzen.

Doch im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte gelang es Forschern nach und nach, die Abstoßung von RNA zu überwinden, indem man die Moleküle modifizierte und in spezielle Lipidhüllen verpackte. Bereits im Jahr 2000 gründete der Biologe Ingmar Hoerr in Tübingen die Firma Curevac, die nun ebenfalls im Kampf gegen die Corona-Pandemie weit vorn mitspielt.

Knapp ein Jahrzehnt später gingen Sahin und Türeci mit Biontech an den Start. In den USA gründeten die Biologen Derrick Rossi und Tim Springer die RNA-Forschungsfirma Moderna.

Der Durchbruch der RNA-Pioniere könnte weit über die Impfstoffe hinausreichen. Denn im Prinzip lassen sich Zellen mit mRNA auf die Produktion aller möglichen Proteine programmieren, selbst solche, die in der Natur bisher gar nicht vorkommen. Manche Protagonisten trauen der Technik daher zu, dass sie einen größeren Umbruch einleiten könnte als die klassische Gentechnik. Die machte es in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts möglich, Mikroorganismen per Gentransfer auf die Produktion von therapeutischen Proteinen umzupolen. Solche Biotechmedikamente – darunter etwa Insuline, Gerinnungsfaktoren, Wachstumsfaktoren, Rheumamedikamente und zahlreiche Krebsmittel – stellen heute den Löwenanteil der umsatzstärksten Arzneimittel.

Indes: Ähnlich wie damals die Gentechnik müssen auch die neuen, noch unerprobten mRNA manche Bedenken in der öffentlichen Debatte überwinden. Vor allem geht es dabei um die Frage, welche Folgen es hat, wenn man sich Teile der Erbinformation eines Coronavirus injizieren lässt. Die oft gestellte Frage lautet etwa: Kann diese RNA in das menschliche Erbgut eindringen und es dauerhaft verändern?

Doch in der Wissenschaft wird dieses Risiko mittlerweile als äußerst gering betrachtet. Denn die RNA ist nur der Botenstoff, der die Maschinerie einer Körperzelle am Laufen hält. Sie dringt nicht in den Zellkern ein und wird zudem nach ihrer Botenleistung schnell abgebaut.

Theoretisch gäbe es zwar Wege, auf denen eine genetische Information der RNA in die DNA gelangt. Doch die Wahrscheinlichkeit dieser sogenannten reversen Transkription geht nach Angaben des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik gegen null. Selbst wenn dies passieren würde, wäre der Effekt der erwünschte: Denn die Zelle mit veränderter DNA würde fortan ein Virusprotein produzieren und somit von der Immunabwehr abgetötet. Noch unwahrscheinlicher sei es, dass die Information dann in die Keimbahn gelänge und damit an Nachfahren vererbt wird.

Auch das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und das Paul-Ehrlich-Institut halten eine Übertragung in die DNA für praktisch ausgeschlossen.

3. Die Hoffnungsträger und ihre Zulieferer: Zurück zur „Apotheke der Welt“?

Gelingt es, die neuartige mRNA-Technologie durchzusetzen, wäre das auch eine riesige Aufwertung der deutschen Biotech- und Pharmaindustrie. Immerhin sind mit Biontech und seinem Tübinger Konkurrenten Curevac gleich zwei deutsche Firmen an vorderster Front bei der neuen Technologie mit dabei. Es wäre das erste Mal seit mehr als einem Jahrhundert, dass die deutsche Pharmabranche einen grundlegenden Umbruch in der Medizin vorantreibt.

Damals hatten Forscher wie Robert Koch, Paul Ehrlich und Emil von Behring Pionierarbeit in der Immunologie und bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen Krankheiten wie Diphterie, Milzbrand oder Tuberkulose geleistet – und damit den Ruf Deutschlands als „Apotheke der Welt“ begründet, der aber schon lange nicht mehr gerechtfertigt ist.

Denn spätestens seit Ende der 30er-Jahre hat Deutschland seine Führungsrolle im Pharmabereich an Länder wie die USA verloren, und mit der Biotechrevolution ab Ende der 70er-Jahre hat sich der Rückstand eher noch verstärkt.

Bringt der Biontech-Durchbruch nun die Renaissance? „Das bedeutet für die forschende Pharmaindustrie einen enormen Schub und könnte eine Kettenreaktion auslösen, die uns hier in Deutschland sehr hilft“, sagt Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) und frühere Deutschlandchef des US-Pharmakonzerns Bristol-Myers Squibb. „Die großen Impfstoffprojekte laufen darauf hinaus, dass wir hier etwas ganz Neues etablieren, was auch nachhaltig sein dürfte.“

Der Effekt betrifft nicht allein die Pharmabranche. Auch Zulieferer profitieren vom möglichen Boom der mRNA-Impfstoffe. Dazu gehören etwa Firmen wie Merck in Darmstadt mit ihrem umfangreichen Life-Science-Geschäft oder die Healthcare-Sparte des Spezialchemiekonzerns Evonik, die Pharmaunternehmen weltweit mit Wirkstoffen, fertigen Arzneianwendungen (sogenannten Formulierungen) und Zellkulturstoffen beliefert. Im kanadischen Vancouver hat Evonik seinen globalen Standort für eine Technologie aufgebaut, ohne die mRNA-Therapien nicht möglich wären.

Denn mRNA-Moleküle sind instabil und flüchtig, sie werden im Körper in kürzester Zeit wieder abgebaut. Werden sie bei der Impfung eingesetzt, so müssen die Stoffe nach der Injektion unbeschadet und wirkungsbereit in die Zellen transportiert werden. Das geling nur, wenn sie in einer Art Transportkoffer gepackt werden, der ihnen auf dem Weg Schutz bietet. Bei der mRNA werden dafür sogenannte Lipidnanopartikel (LNP) eingesetzt. Das sind winzige Teilchen, die aus Fetten und Wachsen bestehen. Ihre Zusammensetzung ist komplex und muss passgenau sein: Zuerst muss die Hülle die mRNA schützen, an der Zelle angelangt muss sie den Botenstoff aber so freigeben, dass er dort eindringen kann.

2016 hat Evonik die in Vancouver ansässige Transferra Nanosciences gekauft und übernimmt seither die komplette Anwendungsentwicklung von mRNA-Produkten für die Pharmabranche. Die Konkurrenz in der Stadt ist groß, denn Vancouver hat sich als globales Zentrum für die globale LNP-Forschung herausgebildet. Biontech arbeitet mit der dort ansässigen Acuitas Therapeutics bei der LNP-Technologie zusammen, auch Curevac kooperiert mit Acuitas. Vom Aufstieg der mRNA-Therapien dürften aber letztlich alle größeren Zulieferer profitieren – inklusive Evonik.

Es sind aber nicht nur die Pharmaspezialisten, denen die schiere Menge an benötigten Impfseren ein gutes Geschäft verspricht. Weltweit sind in den vergangenen Monaten bereits große Produktionsanlagen gebaut worden, weitere werden noch kommen. Bei Biontech ist in der Fertigung die Siemens AG ein wichtiger Lieferant. Die Münchener sind der ausgewählte Partner des Biotechunternehmens für die digitale Steuerung der Fabriken. Mit Siemens-Software werden dort alle Arbeitsschritte so überwacht und koordiniert, dass ein Maximum an Dosen gefertigt werden kann.

Eine entscheidende Rolle für die sichere Produktion des Biontech-Impfstoffs wird zudem der schwäbische Familienbetrieb Rentschler Biopharma spielen. Das Unternehmen aus dem südwestlich von Ulm gelegenen Laupheim ist dafür verantwortlich, dass die mRNA im Impfstoff möglichst sauber ist.

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Rentschler übernimmt dazu die Weiterverarbeitung des Ausgangsmaterials, filtert und reinigt die synthetisch hergestellten Botenmoleküle. Nur in hochreinem Zustand kann der Wirkstoff genutzt werden, ansonsten bestehen Sicherheitsprobleme und die Gefahr von Unverträglichkeiten beim Menschen.

Die Beispiele machen deutlich, wie weit der Erfolg von Biontech über die Firma selbst hinausstrahlt. Was an der Mainzer Goldgrube zwischen Kleingärten und Obdachlosenasyl erdacht wurde, könnte nicht nur den Anfang vom Ende der Corona-Pandemie markieren. Es könnte den Beginn einer neuen Ära für die deutsche Pharmabranche markieren.
Mitarbeit: Bert Fröndhoff, Maike Telgheder