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Hartz-IV ist tot, es lebe Hartz-IV

Für viele Langzeitarbeitslose lohnt es sich nicht zu arbeiten. Ein neues Anreizsystem für Bezieher von staatlichen Hilfsleistungen könnte dies ändern.

Die zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es, die Wachstumskräfte einer Volkswirtschaft zu stärken. Und eine zentrale Aufgabe der Sozialpolitik ist es, Armut zu verhindern. Zwischen diesen beiden Zielen kann es jedoch zu Konflikten kommen. Denn grundsätzlich sorgen hohe Sozialleistungen dafür, dass der Anreiz, eigenes Einkommen zu erzielen, sinkt.

Die verschiedenen Sozialleistungen für eine bedürftige Familie mit mehreren Kindern können sich heute leicht auf einen Betrag summieren, der das Arbeitseinkommen eines Vollzeitbeschäftigen im Niedriglohnsektor übersteigen kann. Der monetäre Anreiz, arbeiten zu gehen, wäre dann gleich Null. Es braucht also Anrechnungsregeln, damit der, der Geld verdient, spürbar sein Nettoeinkommen steigern kann – schließlich kennt auch der Einkommensteuertarif keine Steuersätze von annähernd 100 Prozent.

Doch was in der Einkommensteuer undenkbar ist, ist im Dickicht der Sozialleistungen seit Jahren traurige Realität: Wer als Hartz-IV-Empfänger Geld oberhalb des Freibetrags von 100 Euro dazuverdient, muss für jeden zusätzlich auf dem ersten Arbeitsmarkt verdienten Euro auf mindestens 80 Cent Sozialleistungen verzichten; in einigen Fällen kann ein höheres Bruttoeinkommen gar zu einem niedrigeren Nettoeinkommen führen.

Anstatt alles daran zu setzen, Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, bleiben viele von ihnen somit faktisch ausgegrenzt. Sozial- und Wirtschaftspolitikern müssten bei diesen Fehlanreizen eigentlich die Haare zu Berge stehen: Die Menschen bleiben in der Armut gefangen, und das Arbeitsangebot ist niedriger, als sein könnte.

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Um diesen Missstand zu beheben, hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit nun eine neue Sozialleistung ins Spiel gebracht: den Erwerbszuschuss. Dieser soll die Anreize, einen Arbeitsplatz oberhalb des Minijob-Niveaus anzunehmen, deutlich stärken.

Dazu würde zunächst der bisherige Freibetrag für Hinzuverdienste von Hartz-IV-Empfängern auf 50 Euro halbiert und die Transferentzugsrate für Einkünfte zwischen 50 und 450 Euro von 80 auf 90 Prozent erhöht. Von einem Minijob blieben also netto nur noch 90 statt bislang 170 Euro netto übrig.

Für Einkommen oberhalb von 450 Euro sinkt jedoch die Grenzbelastung spürbar von 80 auf 60 Prozent. Wer also 1000 Euro verdient, hätte netto 310 statt bislang 280 Euro. Wer als Hauptverdiener einer Familie jedoch 40 Wochenstunden zum Mindestlohn arbeitet, hätte im Vergleich zum Status quo gut 200 Euro mehr netto in der Tasche.

Für solche Fälle soll es ab bestimmten Einkommensgrenzen den neuen Erwerbszuschuss geben. Dieses neue Kombi-Lohn-Modell würde für viele Haushalte mit niedrigem Einkommen das Wohngeld und den Kinderzuschlag überflüssig machen und damit die Beantragung erleichtern. Außerdem würde das Transfersystem vereinfacht und Verwaltungskapazitäten eingespart. Rund 700.000 Menschen könnten so aus dem unbeliebten Hartz-IV-System herauskommen und wären stattdessen Bezieher dieser Innovation des deutschen Sozialstaats - oftmals kommt es eben auch auf das Wording an.

Sowohl durch die Brille eines Sozialpolitikers als auch durch die eines Wirtschaftspolitikers brächte solch eine Reform eine Reihe von Vorteilen: Die Armutsquote in der Bevölkerung würde um knapp neun Prozent sinken, bei Familien mit Kindern sogar um 17 Prozent.

Gleichzeitig dürften rund 42.000 Personen neu in den Arbeitsmarkt eintreten, überwiegend Alleinstehende oder Alleinerziehende. Weil aber auch der Anreiz vollzeitig zu arbeiten steigt, dürfte das Arbeitsangebot insgesamt um 110.000 Vollzeitstellen zunehmen. Die Kosten für den Fiskus wären mit 2,7 Milliarden Euro recht überschaubar, wie die IAB-Berechnungen zeigen.

Der deutsche Arbeitsmarkt steht in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Zum einen gilt es, hunderttausende meist junge, aber schlecht ausgebildete Flüchtlinge zu integrieren. Lediglich knapp 300.000 von ihnen waren Ende 2018 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, fast 500.000 suchten hingegen Arbeit. Gleichzeitig herrscht in vielen Branchen und Regionen schon jetzt Arbeitskräftemangel, der sich bald noch verschärfen wird, wenn die Babyboomer-Jahrgänge in den Ruhestand gehen und durch deutlich kleinere Kohorten ersetzt werden müssen.

Ein Ziel der Wirtschaftspolitik muss es also sein, Vollzeitbeschäftigung möglichst attraktiv zu machen. Heute haben jedoch mehr als 40 Prozent der Hartz-IV-Aufstocker lediglich einen Minijob; viele dieser Langzeitarbeitslosen verdienen sich gerade einmal 100 Euro im Monat dazu, weil sie diese „brutto für netto“ erhalten. Vermutlich arbeitet mancher darüber hinaus schwarz, was angesichts der hohen Transferentzugsrate nachvollziehbar wäre.

Für die in der Wählergunst abgesackte Große Koalition hätte solch eine Reform Charme. Die Sozialpolitiker von Union und SPD könnte sich auf die Fahne schreiben, die bei den Gewerkschaften unbeliebten Minijobs für Langzeitarbeitslose unattraktiver zu machen.

Zum anderen kämen hunderttausende Menschen aus dem im Jahr 2005 von SPD-Kanzler Gerhard Schröder eingeführten Hartz-IV-System heraus und kämen stattdessen in den Genuss des neuen Erwerbszuschusses. Und die Wirtschaftspolitiker könnten sich rühmen, den Grundsatz „Fördern und Fordern“ erhalten und alle Überlegungen für bedingungslose Grundeinkommen verhindert zu haben. Das Arbeitsangebot würde also nicht geschwächt, sondern sogar noch weiter erhöht.

Mit dem Erwerbszuschuss liegt jetzt ein praktikabler und finanzierbarer Vorschlag auf dem Tisch. Nun gilt es für die Politik, diese Vorlage zu nutzen und gegebenenfalls noch weiterzuentwickeln, so dass weitere Personenkreise aus dieser Grundsicherung herauskämen.

Denkbar wäre ein etwas höheres Schonvermögen, um die eigene Sparleistung anzuerkennen, ein längerer Bezug von Arbeitslosengeld für Ältere sowie eine Solidar- oder Lebensleistungsrente, also einen Zuschlag zur Grundsicherung für Rentner, die langjährig Beiträge gezahlt haben. So könnte Deutschland vielleicht endlich Frieden mit der Agenda 2010 schließen.

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