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Mit Hartz IV aufgewachsen, jetzt Jung-Politiker: So kämpfen drei junge Menschen gegen die Sozialreform

Jeremias Thiel (SPD), 20 Jahre, und Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend), 20 Jahre: Beide wuchsen mit Hartz IV auf und wollen das System nun politisch verändern.
Jeremias Thiel (SPD), 20 Jahre, und Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend), 20 Jahre: Beide wuchsen mit Hartz IV auf und wollen das System nun politisch verändern.

„Hartz IV ist der größte Scheiß", schreibt Sarah-Lee Heinrich im August vor drei Jahren auf Twitter. Bis heute hat der Tweet über 10.000 Likes eingesammelt und wurde fast 3000 Mal geteilt. Heinrich ist damals 17 Jahre alt und kritisiert, dass sie gerne von zu Hause ausziehen würde, aber kein Geld dafür habe. Denn als Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin kann sie mit Schülerjobs nicht mehr als 100 Euro im Monat verdienen, ohne dass ihr Geld abgezogen wird. „Kann mir jemand erklären, wie man sich einen Auszug leisten soll, wenn man nichts zurücklegen kann?", fragt sie auf Twitter ihre Community.

Es ist nur eine von vielen Regelungen im Hartz-IV-System, die Heinrich wütend macht. Lange Zeit habe sie gedacht, sie sei selbst schuld daran, dass sie und ihre Mutter arm seien. „Ich habe mich geschämt. Doch irgendwann habe ich mit 14 im Politik-Unterricht begriffen, dass es auch eine politische Entscheidung ist, nach welchen Regeln Hartz IV konzipiert ist". Inzwischen sitzt die 20-Jährige im Bundesvorstand der Grünen Jugend und gehört zu den bekanntesten Hartz-IV-Kritikerinnen.

Dabei ist sie nicht die einzige: Auch Jeremias Thiel, 20 Jahre alt, wächst mit Hartz-IV auf. Er erlebt, wie das System weder seinen Eltern helfen kann, noch ihm, um der Armut zu entkommen. Im Alter von 14 tritt er in die SPD ein, um Hartz-IV zu verändern. „Sanktionen sind der absolute Mist", sagt Thiel. Im gleichen Alter fängt auch Anton W. (Name geändert) an, das System zu hinterfragen, nachdem er sein Vermögen gegenüber dem Jobcenter offen legen muss, weil seine Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. Heute will der 21-jährige Hartz IV in der jetzigen Form abschaffen und ist inzwischen FDP-Mitglied.

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Mit Jeremias Thiel, Anton W. und Sarah-Lee Heinrich ist eine neue Generation an Hartz-IV-Kritikern herangewachsen. Sie alle eint die Wut gegen politische Entscheidungen, die vor ihrer Zeit beschlossen wurden und die sie nun verändern wollen. Dabei haben sie einen ganz eigenen Weg der Rebellion gefunden: Sie legen ihre persönlichen Lebensgeschichten offen und erzählen, welche Missstände sie unter Hartz IV erlebt haben.

Anton W.: „Am Ende habe ich für 2 Euro die Stunde gearbeitet"

Als Anton W. das erste Mal an die Grenzen von Hartz IV stößt, ist er gerade mal 14 Jahre alt. Sein Vater ist schwerbehindert, kann kaum arbeiten, seine Mutter verdient Geld mit Putzen. Anton W. will sich damals einen Laptop für die Schule kaufen, doch in der Familie ist dafür kein Geld da: Deshalb geht in einer Metallfabrik am Fließband arbeiten, verdient rund 600 Euro, so erzählt er es.

Was Anton W. damals nicht weiß, es gibt sogenannte Zuverdienstgrenzen für Kinder von Hartz-IV-Empfänger-Familien: In Ferienjobs dürfen Kinder aus sogenannten „Bedarfsgemeinschaften" bis zu 1.200 Euro pro Jahr dazu verdienen. Doch eine Arbeit am Fließband ist kein Ferienjob: Anton W. darf deshalb lediglich einen Freibetrag von 100 Euro behalten, von allen weiteren 100 Euro werden 80 Prozent des Betrags mit dem Hartz-IV-Satz verrechnet. „Am Ende habe ich für 2 Euro die Stunde gearbeitet", erzählt Anton W.. Es habe ihm damals den Anreiz genommen, nochmal arbeiten zu gehen, und viel Wut gegen das Jobcenter geschürt.

Dabei ist seine Erfahrung mit den Zuverdienstgrenzen später auch ein Grund für ihn, in die FDP einzusteigen: Im Wahlprogramm verspricht die FDP nun diese sogenannten Zuverdienstgrenzen anzuheben, um Eigeninitiative zu belohnen: Das Einkommen von Jugendlichen aus Familien, die ALG II beziehen, soll bis zu einer Höhe eines Minijobs, also 450 Euro nicht angerechnet werden. Für Anton W. ist das eine Kernforderung, die vor allem für eine größere Idee steht: das Aufstiegsversprechen, dass die FDP erneuern will. Die Herkunft aus dem Elternhaus soll nicht mehr über den Lebensweg von Kindern entscheiden. Vielmehr soll durch Bildung und Ehrgeiz jeder aufsteigen können.

Sarah-Lee Heinrich: „Für mich und meine Mutter war das Jobcenter ein Ort der Angst"

Dabei versuchte die FDP auch Sarah-Lee Heinrich für ihre Aufstiegs-Ideen zu gewinnen: Vor drei Jahren retweetete die Partei den viralen Tweet von Heinrich, in dem sie sich über Hartz IV und die Zuverdienstgrenzen beschwert. Heinrich wiederum hält nichts vom Aufstiegsversprechen durch Bildung: „Aufstiegserzählungen verblenden, weil sich nicht jeder unter den gleichen Bedingungen hochkämpfen kann", sagt sie, die es mittlerweile aus Hartz-IV geschafft hat und Sozialwissenschaften an der Universität in Köln studiert. Heinrich ist deshalb für einen Systemwechsel: „Kinder sollten sich nicht alleine aus der Armut rausarbeiten müssen". Im Gegenteil: Ihnen stünde auch ohne Arbeit ein Existenzminimum an Geld zu, wie es die Grünen als "Kindergrundsicherung" ins Wahlprogramm mit aufgenommen haben. Statt Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibetrag und Hartz-IV-Regelsatz soll es dann nur eine monatliche, feste Zahlung geben.

Für Familien ohne Einkommen schlägt das Bündnis Kindergrundsicherung dafür monatlich maximal 695 Euro vor. Je mehr Geld die Eltern haben, desto kleiner die finanzielle Unterstützung. Dabei beruft sich das Bündnis auf das Existenzminimum für Kinder, dass das Bundesverfassungsgericht festgelegt hat. Kinder von Hartz-Empfängern wie Anton W. oder Sarah-Lee Heinrich müssten dann nicht mehr für jede Leistung extra Geld beantragen für etwa Nachhilfe, Klassenfahrten oder Sportvereine und hätten nur noch mit einer Behörde zu tun statt mit vielen wie Jugendamt oder Jobcenter.

Ihre Forderungen nach höheren Regelsätzen leitet Heinrich dabei auch aus der eigenen Geschichte ab: Sie weiß, wie Hartz IV mit aktuell rund 1,9 Millionen Kindern und Jugendlichen, das Leben mit Eltern und Freunden beeinflusst: „Ich habe um jeden Cent gefeilscht", erzählt sie. Ihre Mutter hätte auf alles, was ginge, verzichtet, damit sie mal Döner mitessen oder mit ins Schwimmbad gehen konnte. „Aber irgendwann hatte auch meine Mutter ihre finanziellen Grenzen erreicht und ich konnte trotzdem nicht an die anderen Kinder aufschließen, in einem Alter, in dem es so wichtig ist, dazuzugehören", so Heinrich, die im Ruhrgebiet aufgewachsen ist. Inzwischen schäme sie sich dafür, weil ihre Mutter es nicht hätte besser machen können, weil sie krank sei und deshalb auch auf Hartz IV angewiesen sei.

Und noch eine Sache stößt Sarah-Lee Heinrich auf: Sanktionen, also Kürzungen des Regelsatzes, wenn Hartz-IV-Empfänger gegen Regeln des Jobcenters verstoßen und beispielsweise Termine verpassen.

„Für mich und meine Mutter war das Jobcenter ein Ort der Angst", sagt Sarah-Lee. Man könne nicht helfen und zeitgleich sanktionieren. Als Beispiel nennt sie den „berühmten Termin beim Jobcenter", zu dem fast alle Jugendliche aus ALG-II-Haushalten nach der 10. Klasse oder kurz vor dem Abitur eingeladen werden. Es ginge darum, sich mit den Beratern zur eigenen berufliche Zukunft zu unterhalten, ganz egal wie gut die Noten seien, so Heinrich. Auch sie bekommt mit 17 Jahren eine Einladung als sie gerade ihr Abitur schreibt. Doch diese klingt alles andere als ein Hilfsangebot: „Wenn du nicht kommst, kürzen wir in drei Monaten den Regelsatz um 10 Prozent", habe in einem der letzten Sätze gestanden, erzählt die 20-Jährige. „Ich wollte nicht zu diesem Gespräch gehen, weil mir direkt gedroht wurde", sagt sie. Kindern würde allein, weil sie aus einem Hartz-IV-Haushalt kämen, direkt das Gefühl vermittelt werden, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Deshalb gehörten Sanktionen abgeschafft.

Wie sehr das System aus Hartz-IV-Sanktionen Kinder beeinflusst, hat auch Anton W. erlebt: Seine Eltern hätten oft Briefe vom Jobcenter erhalten. Jedes Mal habe er Angst gehabt, dass der Familie wieder Geld gestrichen worden sei. Dabei hinterlässt der ständige Stress seine Spuren: Anton W. entwickelte eine regelrechte Prüfungsangst: „Ich habe angefangen zu stottern und war versetzungsgefährdet, weil ich so große Angst hatte, in der Schule zu versagen und später auch mal kein Geld zu haben", erzählt er. Am Ende habe er sich nicht mal mehr getraut zu melden und musste in Therapie.

Jeremias Thiel: „Ich wurde mit bestraft, wenn meine Eltern sanktioniert wurden"

Jeremias Thiel ist auch kein Fan von Sanktionen: Seine Eltern sind langzeitarbeitslos. Die Mutter ist spielsüchtig, der Vater depressiv. „Beide waren nicht fähig zu arbeiten und haben auch nie wirklich gearbeitet", erzählt er heute. Sie hätten Schwierigkeiten gehabt Termine wahrzunehmen. Dabei bekommt Jeremias als Kind oft genug selbst die Folgen der Sanktionen zu spüren, denn er übernimmt alles im Familienalltag: „Ich wurde mit bestraft, wenn meine Eltern sanktioniert wurden", erzählt er. Für Einkäufe habe er oft kein Geld mehr gehabt. Lange Zeit habe er nur ein Paar Schuhe besessen.

Als Elfjähriger bittet Jeremias schließlich das Jugendamt, ihn von seinen Eltern zu trennen. „Ich habe mich lange Zeit schuldig gegenüber meinen Eltern gefühlt", erzählt er. Tatsächlich haben viele andere Kinder nicht die Kraft, aus ihrer Familie zu gehen oder wollen das erst gar nicht: Bundesweit lebten 2020 etwa 95.000 Kinder und Jugendliche in Haushalten, die von Hartz-IV-Sanktionen betroffen waren, heißt es in einer kleinen Anfrage der Linken. Aus seiner eigenen Erfahrung heraus fordert Jeremias deshalb, für diese Kinder, die Sanktionen in Hartz IV abzuschaffen.

Die SPD, in der Thiel schon seit sechs Jahren Mitglied ist, geht dabei nicht ganz so weit mit ihren Forderungen: Die Partei will nur sinnwidrige und unwürdige Sanktionen abschaffen, heißt es im Wahlprogramm. Eingetreten sei Thiel aber dort, weil die SPD trotzdem Hartz IV an sich überwinden wolle, auch wenn sie es unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder mitbeschlossen hätten, so der 20-Jährige, der nun am „St. Olaf College“ in Minnesota Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert. Dabei will die SPD laut ihres Wahlprogramms ein sogenanntes Bürgergeld einführen, das auch großzügigere Geldleistungen für Kinder aus ärmeren Familien vorsieht und sich am Existenzminimum orientiert.

Ist „Fridays for Armut" möglich?

Doch bleiben Anton W. (FDP), Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend) und Jeremias Thiel (SPD) nur lose Einzelkämpfer gegen Hartz IV? - „Ich würde mir wünsche, dass es 'Fridays gegen Armut' gibt", antwortet Heinrich. Arme Menschen bräuchten eine Bewegung, die für ihre Interessen eintreten könnten.

Neu ist die Idee nicht: Im Sommer 2004 waren die Straßen voll in Deutschland. Überall gab es Montagsdemonstrationen, bei denen tausende Menschen gegen Hartz IV protestierten. Doch die Proteste verhallten, die Hartz-Gesetze blieben beschlossen. Jugendforscher Klaus Hurrelmann erklärt sich eine aktuelle fehlende Bewegung gegen Hartz IV vor allem mit der fatalistischen Einstellung unter vielen Langzeitarbeitslosen: „Viele Menschen haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden, fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Sie glauben nicht mehr daran, aus der Armut ausbrechen zu können." Politisch könne man arme Menschen deshalb nur mobilisieren, wenn sie tatsächlich ein Angebot bekämen, mit dem sich ihre Situation verbessern könnten. „Die Aktivistinnen von Fridays for Future hingegen kommen überwiegend aus abgesicherten Elternhäusern und müssen sich in ihrer Freizeit nicht mit existenziellen Fragen wie fehlendem Essen oder Geld beschäftigen", so Hurrelmann. Das mache eine politische Aktivierung viel einfacher, weil sie noch die Hoffnung hätten etwas in der Politik verändern zu können.

Sarah-Lee Heinrich will trotzdem mehr junge Menschen gegen Armut zusammenbringen und ihnen das Vertrauen in die Politik zurückgeben. Dafür arbeitet sie in der Grünen Jugend mit Jugendverbänden oder anderen politische Initiativen zusammen, um Menschen in prekären Situationen besser zu erreichen. Ihr erster Schritt ist dabei jedoch erstmal ein anderer: „Die Abschaffung von Hartz IV muss zur Schlüsselforderung in der Bundestagswahl werden", sagt sie. Jeremias Thiel (SPD) hingegen will nach seinem Studium am liebsten Arbeitsminister werden und dort seine politischen Forderungen umsetzen; Anton W. will in der FDP eigene Anträge einbringen, die die Bildung für arme Kinder in Zukunft verbessern.