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Das gute Geschäft mit seltenen Krankheiten

Patienten mit seltenen Krankheiten sind doppelt gestraft: Sie sind meist schwer therapierbar und auf extrem teure Medikamente angewiesen. Die Methoden der Pharmaindustrie stehen dabei in der Kritik.

Die kleine orange-gelbe Hartkapsel namens Xenbilox ist gerade einmal so groß wie eine Erdnuss. Für Sabine Neumann* ist sie lebenswichtig. Die 41-Jährige leidet unter einer seltenen, angeborenen Stoffwechselstörung namens Cerebrotendinöse Xanthomatose (CTX). Die Krankheit sorgt dafür, dass sie keine Gallensäure produziert, weshalb sich in Neumanns Organen und Gefäßen Cholesterin ablagert – mit gravierenden Folgen.

Bereits mit Anfang 20 musste sie wegen Grauem Star an beiden Augen operiert werden, ihre Sehnen an Fuß- und Handgelenken schwollen immer dicker an. Mit Anfang 40 kippte sie plötzlich um, weil ihre Hauptschlagader sich verengt hatte. Ärzte der Uniklinik Marburg diagnostizierten schließlich den Gendefekt. Seitdem schluckt Neumann drei Mal täglich die kleinen Kapseln namens Xenbilox. Der darin enthaltene Wirkstoff ersetzt die Gallensäure, die Neumann fehlt.

Seit Oktober 2016 ist Xenbilox außer Vertrieb. Am 1. Juli kam ein neues Medikament auf den Markt. Gleicher Wirkstoff, gleiche Dosierung: 100 Kapseln à 250 Milligramm. Der Hersteller des neuen Mittels namens „Chenodesoxycholsäure Leadiant“ wirkt auf den ersten Blick neu. Tatsächlich jedoch hat sich der Xenbilox-Hersteller Sigma-tau lediglich in „Leadiant Biosciences“ umbenannt. Der offensichtliche Unterschied zwischen den beiden Arzneimitteln liegt im Preis: Chenodesoxycholsäure Leadiant kostet im Apothekeneinkaufspreis 22.438,50 EUR netto (zuzüglich Mehrwertsteuer). Xenbilox lag bei 2.938,50 Euro. Eine Preissteigerung um fast das Achtfache.

Umgerechnet kostet eine einzige Kapsel Chenodesoxycholsäure Leadiant also rund 224 Euro. Bei drei Einnahmen täglich kommen so jährliche Therapiekosten in Höhe von etwa 245.000 Euro zusammen. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, meint: „Hier wurde ein Wirkstoff vom Markt genommen, um ihn zu einem höheren Preis erneut zuzulassen. Mit solchen Tricksereien wird versucht, ein Maximum an Profit herauszuholen.“

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Ein Sprecher von Leadiant Biosciences sagt auf Anfrage, das neue Medikament sei ein „Hybridprodukt“ von Xenbilox. Es seien zwei zusätzliche klinische Studien mit über 60 Patienten durchgeführt worden. Außerdem sei das neue Mittel im Gegensatz zum Vorgänger ein sogenanntes Orphan-Medikament und speziell für die seltene Krankheit CTX zugelassen.

Preise in dieser Höhe sind bei Orphan Drugs – also Medikamenten gegen seltene Krankheiten – durchaus üblich. Als selten gelten Krankheiten in der EU, wenn sie weniger als fünf von 10.000 Einwohnern betreffen. Die Argumentation der Pharmaindustrie: Wenn nur wenige Patienten betroffen sind, müssen Pharmaunternehmen hohe Preise für entsprechende Arzneimittel verlangen, um ihre Forschungs- und Entwicklungskosten zu refinanzieren.

Das ist nach Meinung von Experten in bestimmten Fällen auch berechtigt. Arzneimittelexperte Ludwig meint jedoch, dass manche Firmen die Forschungs- und Entwicklungskosten für Medikamente grundsätzlich als Scheinargument nutzen. „Die Pharmaindustrie behauptet, die Entwicklung von neuen Medikamenten koste zwei Milliarden Euro“, sagt Ludwig. „Unabhängige Studien gehen hingegen von nur etwa 300 Millionen Euro aus.“ Ludwig bezeichnet die Angaben der Pharmaindustrie als „reine Hausnummern“.

Mit dieser Kritik steht er nicht allein da. Auch der Gesundheitsökonom Gerd Glaeske hält die hohen Preise für Medikamente gegen seltene Krankheiten sogar oftmals für ungerechtfertigt: „Die Preise orientieren sich in vielen Fällen nicht daran, wie hoch die Kosten der Industrie für die Entwicklung waren, sondern an der Hoffnung der Patienten, bestimmte Krankheiten endlich therapieren zu können.“

Im Fall von Sabine Neumanns Medikament Xenbilox ist es nicht das erste Mal, dass der Preis Fragen aufwirft. Das Präparat mit dem Wirkstoff Chenodesoxycholsäure kam in den 70er Jahren unter dem Namen Chenofalk auf den Markt. Es wurde zur Auflösung von Gallensteinen verabreicht, bewährte sich jedoch nicht. Forscher der Uni Bonn fanden 2001 heraus, dass sich jedoch das seltene CTX gut mit Chenodesoxycholsäure behandeln lässt.

Die Firma Sigma-tau kaufte 2008 die Rechte an Chenofalk und änderte den Namen in Xenbilox. Das Medikament mit dem neuen Namen enthielt den gleichen Wirkstoff und war gleich dosiert wie sein Vorgänger. Den Preis erhöhte der Hersteller dann 2010 auf fast das 15-Fache.

* Der Name der Patientin wurde geändert.


Vom Waisenkind zur Boomsparte

Jürgen Schäfer, der behandelnde Arzt von Sabine Neumann, sagt dazu: „Hier wurde ein bereits altbekanntes, recht preiswertes Medikament lediglich für den Einsatz an einer seltenen Krankheit umgewidmet.“ Die Substanz selbst könne man kilogrammweise beim Chemikalien-Handel in Reinform beziehen. „Was hier solch einen Preisanstieg rechtfertigt, kapiere ich offen gestanden nicht“, sagt Schäfer. Sigma-tau äußerte sich auf Anfrage des Handelsblatts nicht zu den Gründen für den damaligen Preisanstieg und betonte lediglich, die Namensänderung habe nichts mit der Preisänderung des Medikaments zu tun gehabt.

Rein formal ist es legal, ein Medikament vom Markt zu nehmen und unter neuem Namen mit neuem Preis wiedereinzuführen. Die Krankenkassen müssen den höheren Betrag dennoch zahlen. Auch Neumanns Krankenkasse erstattete die Kosten für ihr Medikament nach anfänglichem Zögern. Schäfer fasst seine Bedenken zusammen: „Es gibt echt tolle Pharmafirmen die mit viel Aufwand exzellente, innovative High-Tech Medikamente produzieren. Deren Medikamente mögen zwar teuer sein, sind aber jeden Cent wert. Aber leider gibt es auch einige wenige Firmen, die unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem mit einer Gelddruckmaschine verwechseln.“

Orphan Drugs bringen Milliardenumsatz

Seltene Krankheiten galten lange Zeit als „Waisenkinder“ der Medizin. Die Pharmaindustrie zeigte wenig Interesse an der Entwicklung von Arzneimitteln gegen diese Krankheiten, weil sie nur für kleine Patientengruppen relevant waren und dementsprechend wenig Umsatz versprachen. In den USA und der EU wurden deshalb seit 1983 bzw. seit 2000 Anreize für die Pharmaindustrie geschaffen, solche Medikamente überhaupt herzustellen und als sogenannte „Orphan Drugs“ auf den Markt zu bringen. Die Vorteile umfassen unter anderem niedrigere Zulassungsgebühren, Steuervorteile und langjährige Marktexklusivität. So konnten Pharmafirmen hohe Preise festlegen und jahrelang durchsetzen.

Seitdem boomt der Markt mit Orphan-Arzneimitteln. Im Jahr 2016 wurden nach Angaben des Markforschers Evaluate Pharma weltweit 114 Milliarden Dollar mit Orphan Drugs umgesetzt. Der Umsatz wuchs im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent. In der EU sind mittlerweile ein Drittel aller neu zugelassenen Medikamente Orphan Drugs. Bei 30 Millionen von einer der rund 8.000 seltenen Krankheiten betroffenen Patienten ein gewaltiger Markt.

Was nach einer guten Nachricht für die Patienten klingt, ist in Wirklichkeit keine. Laut Arzneimittelexperte Ludwig werden nur wenige neue Medikamente gegen genetisch bedingte seltene Krankheiten entwickelt. „Fast die Hälfte der Orphan Drugs sind heute Mittel gegen Krebs“, sagt er. Tumorerkrankungen würden einfach in viele kleine Subgruppen unterteilt, um für jede Subgruppe ein eigenes Medikament zu entwickeln. Durch diesen Trick, der in der Branche als „Slicing“ bezeichnet wird, erfüllten Pharmafirmen die Bedingungen für eine Orphan-Drug-Zulassung und erhielten die damit verbundenen Vorteile.

Glaeske nennt als Beispiel das Krebsmittel Revlimid des US-Pharmaherstellers Celgene. Das Mittel ist als Orphan-Arzneimittel zugelassen für die Behandlung von Patienten mit seltenen Formen von Blut- und Lymphkrebs. In der Praxis werde das Medikament aber auch Patienten mit anderen Krebsarten verschrieben, z.B. bei Altersleukämie. „Wenn die Anwendungsbereiche so ausgeweitet werden, ist der Orphan-Drug-Status irrelevant“, kritisiert der Gesundheitsökonom. In Deutschland ist Revlimid mit knapp 315 Millionen Euro sogar nach Angaben des GKV-Spitzenverbands das umsatzstärkste Orphan-Arzneimittel. Ein Sprecher von Celgene schreibt auf Anfrage des Handelsblatts, Revlimid werde in Deutschland nur sehr selten bei Erkrankungen verschrieben, für die es keine gültige Zulassung habe.


Preise orientieren sich an Not der Patienten

Siegfried Throm ist Geschäftsführer des Bereichs Forschung beim Verband forschender Arzneimittelhersteller. Er widerspricht dem Vorwurf, Pharmafirmen würden durch „Slicing“ häufige Krebskrankheiten in seltene unterteilen: Sobald ein Orphan-Arzneimittel auch gegen nicht-seltene Krankheiten zugelassen werde, verliere es den Orphan-Drug-Status. Das sei ganz klar geregelt. Außerdem dürfe ein Orphan Drug durchaus für mehrere verschiedene seltene Krankheiten zugelassen werden. Bei Revlimid sind es beispielsweise drei.

Auch hohe Preise für Medikamente gegen seltene Krankheiten rechtfertigt Throm. „Fragen Sie doch mal die Patienten. Was ist ein menschliches Leben wert? Durch neue Arzneimittel können mehr Lebensjahre, mehr Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit gewonnen werden. Das muss man im Verhältnis zum Preis sehen.“

Solche Aussagen stützen freilich die Befürchtung Glaeskes, dass Medikamentenpreise sich in erster Linie an der Not der Patienten orientieren. „Wir haben keine gesundheitsökonomischen, budgetorientierten Analysen zu Preisfestsetzungsverfahren. Die Industrien sind relativ frei, die Preise zu erhalten, die sie wollen“, sagt der Pharmakologe.

Mediziner Jürgen Schäfer fordert deshalb eine Änderung des Anreizsystems für Pharmafirmen: Seiner Meinung nach solle ein "Solidaritätsbeitrag" für seltene Krankheiten eingeführt werden: Auf jedes häufig verkaufte Medikament solle ein kleiner Betrag für die Forschung im Bereich seltener Krankheiten anfallen. Diesen sollten die Firmen Schäfers Ansicht nach nur erhalten, wenn sie Forschungsaktivitäten in diesem Bereich nachweisen können.

Seine Patientin Sabine Neumann wird nun wohl oder übel auf das neue Medikament mit Orphan-Drug-Label umsteigen. Ihre Krankenkasse wird den Preisanstieg mittragen müssen – zum wiederholten Mal.