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Wie Griechenland mit sich zuspitzender Flüchtlingsnot kämpft – „Alle wollen nach Deutschland“

In Griechenland bahnt sich eine humanitäre Notlage an. Während sich der Zustand in Insellagern verschlimmert, wächst der Druck auf die EU-Grenzen. Ortsbesuch auf Lesbos.

Zitternd und mit durchnässter Kleidung steht Milad in dem drei Meter hohen Käfig aus Metallgitterzäunen. Messerscharfer Stacheldraht glänzt darauf in der Sonne – es ist der Warteraum für die Registrierung von Flüchtlingen im Aufnahmelager Moria auf Lesbos.

In der Nacht war der junge Afghane mit weiteren 24 Insassen in einem Boot gekommen, das wenige Meter vor der Küste kenterte. Die Hilfesuchenden kämpften sich durch die Brandung bis ans Ufer. Dann die Fahrt ins Lager, in einem Polizeibus mit vergitterten Fenstern. „Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wäre ich in der Türkei geblieben“, sagt der 26-Jährige.

Moria auf der Insel Lesbos – das größte und berüchtigtste Aufnahmelager auf den griechischen Inseln. Besucher nennen es die „Schande Europas“. Bewohner sprechen von der „Hölle“. Ausgelegt ist das vor fünf Jahren gebaute Containercamp für 2 840 Personen.

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Jetzt hausen hier, nach offiziellen Angaben, 19. 484 Menschen. Und jeden Tag kommen mehr Migranten aus der nahe gelegenen Türkei über die Ägäis. 59. 726 Schutzsuchende setzten im vergangenen Jahr auf die Inseln über, eine Zunahme von 84 Prozent gegenüber 2018. In diesem Jahr setzt sich der Anstieg fort. Zwischen Anfang Januar und Mitte Februar wurden auf den griechischen Inseln 4129 Neuankömmlinge gezählt – 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Der Druck wächst. Wegen der Kämpfe um die syrische Rebellenhochburg Idlib sind fast eine Million Menschen auf der Flucht, die meisten Richtung Türkei. Von dort könnte die Welle in den nächsten Monaten Griechenland und damit Europa erreichen. Noch liegen die Zahlen weit unter denen vom Krisensommer 2015, als an manchen Tagen bis zu 10.000 Migranten an den Küsten der griechischen Inseln landeten. Aber Bundesinnenminister Horst Seehofer warnte jüngst bereits in einem Gespräch mit Abgeordneten: „Wir werden ein zweites 2015 erleben.“

Humanitäre Katastrophe droht

Sollte sich diese Prognose bewahrheiten, droht in Griechenland eine beispiellose humanitäre Katastrophe. Denn anders als im Krisenjahr 2015, als die aus der Türkei ankommenden Flüchtlinge binnen weniger Tage über die Balkanroute nach Norden weiterzogen, sind die Grenzen heute weitgehend dicht. Griechenland ist für die Geflüchteten nicht mehr das Durchgangsportal nach Europa, sondern die Endstation.

„Wir sitzen hier in der Falle“, sagt Kyano. Ende 2018 kam der 29-jährige Nigerianer mit seiner Frau und seinem damals drei Jahre alten Sohn aus der Türkei nach Lesbos. Sein Ziel ist Schweden, dort warten Verwandte. Aber an eine Weiterreise ist bisher nicht zu denken.

Fast ein Jahr musste er mit seiner Familie im Lager Moria ausharren, bis er überhaupt seinen ersten Termin bei der Asylbehörde bekam. Jetzt wartet er auf den Bescheid – wie Tausende Asylsuchende. Sie müssen so lange in Moria bleiben, bis über ihre Anträge entschieden ist. So bestimmt es der Flüchtlingspakt, den die Europäische Union im März 2016 mit der Türkei vereinbarte.

Gleich neben dem Lager Moria hat Kyano aus ein paar Ziegelsteinen eine kleine Feuerstelle gebaut. Seine Frau rührt in einem rußgeschwärzten Topf die Bohnensuppe um. „Wir kochen meist selbst“, sagt der Nigerianer. Im offiziellen Lager gibt es zwar drei kostenlose Mahlzeiten am Tag. „Aber man muss zwei oder drei Stunden anstehen, und wenn du endlich an die Reihe kommst, ist das Essen längst kalt“, erklärt Kyano. Nicht nur bei der Essensausgabe müsse man endlos warten: „Es gibt auch viel zu wenige Toiletten und Duschen.“

Moria platzt aus allen Nähten. Weil es im eigentlichen Lager mit seinen hellgrauen Wohncontainern längst keinen Platz mehr gibt, wuchert das Camp in die umliegenden Felder und Olivenhaine. Geschätzt 15 000 Menschen hausen dort in Campingzelten und selbst gezimmerten Verschlägen, fast drei Mal so viele wie in den Containern. Die Bewohner nennen diesen Teil des Lagers „Dschungel“.

Politische Krise in Griechenland

Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Trampelpfade zwischen den Behausungen in Schlammwüsten. Kloaken fließen durch das Camp zu Tal. Kinder spielen im Abfall, der sich überall türmt. Nachts übernehmen die Gangs. Es gibt Drogenhandel, Prostitution, Vergewaltigungen. „Nach Einbruch der Dunkelheit trauen wir uns nicht mehr aus unserem Zelt“, sagt Kyano.

„Was wir hier erleben, ist nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine politische Krise“, sagt Ihab Abassi. Der Palästinenser arbeitet als Koordinator bei der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) in Moria. „Solche Zustände dürfte es in Europa eigentlich nicht geben“, sagt er. „160 Menschen teilen sich hier eine Toilette, 240 Bewohner kommen auf eine Dusche, 460 auf jeden Wasserhahn“, rechnet er vor. „Vierzig Prozent der Lagerbewohner sind jünger als 18 Jahre, wir haben hier 1 100 unbegleitete Minderjährige.“

Am Südrand des Lagers haben die Ärzte ohne Grenzen ihre Feldklinik aufgebaut. Im Lager selbst gibt es nur drei Ärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes. Sie sind völlig überfordert. MSF behandelt vor allem Kinder. Die Ärztin Lydia Liodaki untersucht an manchen Tagen 25 kleine Patienten oder mehr. „Fast alle Kinder sind traumatisiert von der Flucht, aber auch durch die Zustände im Lager“, sagt die junge Griechin. „Die meisten leiden wegen der katastrophalen hygienischen Zustände an Hauterkrankungen, Durchfall und Infektionen, aber viele sind auch depressiv.“

Er sei entsetzt gewesen, als er jetzt Moria besuchte, sagt der Arzt Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen. Seine Organisation berichtet von Kindern, die so verzweifelt sind, dass sie in Moria versuchen, sich das Leben zu nehmen. „Diese Kinder haben den Appetit auf das Leben verloren, sie sprechen nicht mehr, spielen nicht mehr“, sagt Christou.

Die Situation in Moria sei vergleichbar mit dem, „was wir in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen sehen“. Es sei empörend, diese Bedingungen in Europa zu sehen und zu wissen, „dass sie nicht Folge eines Desasters, sondern das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen sind.“

Überfüllte Lager

Nicht nur Moria ist überbelegt. Im Lager Vathy auf Samos gibt es 648 Plätze, doch dort sind 7572 Menschen eingepfercht – mehr als die gleich angrenzende Inselhauptstadt Einwohner hat. Die Camps auf den Inseln Chios und Kos sind fünffach überbelegt, das auf Kos hat dreimal mehr Bewohner als vorgesehen.

Lange hat Europa die humanitäre Katastrophe ignoriert. Niemand spricht es offen aus, aber es geht wohl auch um Abschreckung: Je schlimmer die Zustände in den Camps, desto weniger Migranten kommen übers Meer, so die Hoffnung. Doch sie erfüllt sich nicht.

Die Zahlen steigen. Zugleich wächst der öffentliche Druck. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, bezeichnete die Situation in den griechischen Lagern vor wenigen Tagen als „schockierend und beschämend“. Griechenland müsse mit europäischer Unterstützung „sofort handeln, um diese unhaltbaren Zustände zu beenden“.

Georgios Koumoutsakos, Griechenlands Vizeminister für Migrationspolitik, sitzt in seinem geräumigen Büro in Athen. Es ist ein sonniger, warmer Wintertag, das Elend der Lager ist weit weg. Koumoutsakos ist dennoch besorgt über die steigenden Flüchtlingszahlen.

Dass der Strom abebbt, ist angesichts der Eskalation in Syrien nicht zu erwarten. Die Drohungen des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan, er werde die „Grenztore öffnen“, nimmt man in Athen ernst. Gerade vor dem Hintergrund der griechisch-türkischen Spannungen um die Hoheitsrechte und Bodenschätze im östlichen Mittelmeer könnte der Schleusenwärter Erdogan versuchen, die Migration als Hebel einzusetzen.

Ein europäischer Notfallplan

Koumoutsakos fordert einen europäischen Notfallplan, der bei einer neuen Krise einen „verpflichtenden Mechanismus der Umverteilung“ neu ankommender Migranten vorsieht. Nachdem sie im Ankunftsland registriert wurden, sollten nicht Schutzbedürftige in die Herkunftsländer zurückgeschickt und Asylbewerber zur Bearbeitung der Anträge nach einem festen Schlüssel auf andere EU-Länder verteilt werden.

Die Pläne von Bundesinnenminister Seehofer zu einer neuen Migrations- und Asylpolitik gingen „in die richtige Richtung“, sagt Koumoutsakos. Unterstützung erhofft er sich auch von Frankreich, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Der Vizeminister weiß aber auch, wie schwer es ist, jene osteuropäischen Länder, die bisher die Aufnahme von Migranten grundsätzlich verweigern, in die Pflicht zu nehmen.

Er wünscht sich eine Einigung unter der deutschen EU-Präsidentschaft vor Jahresende. Bis dahin versucht die Regierung, die Entwicklung mit einem neuen Ansatz in den Griff zu kriegen. Seit dem 1. Januar gilt ein neues Asylgesetz. Es soll Verfahren, die sich früher über Jahre hinzogen, auf drei Monate verkürzen.

Abgelehnte Asylbewerber will die Regierung künftig zügig in die Türkei zurückschicken, wie es der Flüchtlingspakt vorsieht. Bis zur Entscheidung über den Asylantrag oder die Abschiebung sollen die Migranten künftig in geschlossenen Lagern auf den Inseln untergebracht werden. Die bestehenden Elendscamps verspricht die Regierung zu schließen.

Doch auf den Inseln regt sich heftiger Widerstand gegen die neuen Lager. Bürger protestieren, Kommunalpolitiker wehren sich. Am Hafen von Lesbos kam es in der Nacht zum Dienstag zu schweren Ausschreitungen, als Einwohner die Landung von Baumaschinen und Polizeikräften zu verhindern versuchten.

Legale Mittel gegen den Bau

Auch auf der Nachbarinsel Chios setzte die Polizei massiv Tränengas ein, um die Proteste aufzulösen. Auf Samos kündigte Bürgermeister Giorgos Stantzos an: „Wir werden den Bau mit allen legalen Mitteln verhindern!“ Nach einer Umfrage vom Februar auf den Inseln Lesbos, Chios und Samos sehen zwei von drei Inselbewohnern in den Migranten „eine Gefahr für das Land“.

Migrations-Vizeminister Koumoutsakos hofft dennoch, dass die neuen Lager bis zum Sommer fertig werden. Bis dahin versucht die Regierung, die Inselcamps zu entlasten, indem sie Asylbewerber aufs Festland bringt. 1 967 Migranten haben die Inseln seit Anfang Februar verlassen.

Viel Entlastung hat das allerdings nicht gebracht: Im gleichen Zeitraum kamen 1 515 neue Hilfesuchende aus der Türkei auf den Inseln an. Fragwürdig ist die Strategie auch, weil viele Asylbewerber untertauchen, wenn sie erst einmal auf dem Festland sind – um dann später in anderen EU-Staaten wieder aufzutauchen.

An diesem Februarabend haben Firas und Hakim zwei der begehrten Fahrkarten bekommen. Die jungen Syrer stehen an der Reling, als die Fähre „Diagoras“ von Lesbos ablegt, und nehmen das Manöver mit ihren Smartphones auf. Am Morgen wird die „Diagoras“ in Piräus sein. „Dann beginnt unser neues Leben in Europa“, sagt Hakim.

Die beiden wollen nach Deutschland. „Alle wollen nach Deutschland“, erklärt er. Die Grenzen auf der Balkanroute sind zwar offiziell für Migranten geschlossen. Aber die Schleuser finden Schlupflöcher – sei es über Albanien, Nordmazedonien oder Bulgarien. Wer genug Geld hat, kann sich in Athen auch einen gefälschten Pass kaufen und versuchen, per Flugzeug von Griechenland aus weiterzureisen. Firas lächelt: „Es gibt immer einen Weg.“