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Gründer Amnon Shashua will mit Algorithmen Blinden helfen

Amnon Shashua, greift nach einer schwarzen Minibox, die vor ihm auf dem Tisch liegt, und befestigt sie mithilfe eines Magnets an seinem Brillengestell. In diesem schmalen, länglichen Kästchen, etwa so groß wie ein USB-Stick, steckt seine jüngste Innovation: OrCam MyEye. Sie besteht aus einem Lautsprecher, einer kleinen Kamera – und Algorithmen.

Damit könne er Blinde aus ihrer Isolation befreien, sagt Israels zurzeit erfolgreichster Start-up-Unternehmer. „Wenn Sehbehinderte unser Produkt ein erstes Mal anwenden, haben sie manchmal Tränen in den Augen“, sagt er in seinem Jerusalemer Büro, „weil sie plötzlich einen Text ohne fremde Hilfe lesen können.“

Shashua hält ein beschriebenes Blatt vor seine Augen und tippt das Papier mit dem Finger kurz an. Die Linse erfasst das Geschriebene – und schon wird der Text vorgelesen. Shashua berührt eine Banknote – und er hört, dass er einen 50-Euro-Schein vor sich hat. Shashua schaut auf eine Speisekarte, hält kurz den Finger darauf – und schon weiß er über das Menü Bescheid. Eine Stimme aus dem kaum sichtbaren Lautsprecher, der auf der dem Ohr zugewandten Seite des länglichen Rechtecks diskret befestigt ist, informiert ihn darüber.

Das Start-up Mobileye für 15 Milliarden Euro verkauft

Bei den jüngsten Knesset-Wahlen wurde das Hilfsmittel in zwölf Wahlbüros als Pilotprojekt eingesetzt. Damit konnten Blinde selbstständig abstimmen – und ohne den Verdacht, dass ihr Begleiter ihre Stimmabgabe manipuliere. „Das ist das erste Mal, dass ein Staat auf einem für Demokratien so sensiblen Gebiet eine Lösung offeriert“, gibt Matan Bar-Noy, Shashuas Mann für Geschäftsentwicklung, zu Protokoll.

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Shashua hat OrCam vor acht Jahren gegründet, zusammen mit seinem Geschäftspartner, dem Wirtschaftsingenieur Ziv Aviram. „Unsere Innovation ist die Software“, sagt der leidenschaftliche Moutainbiker und Skifahrer Shashua, „wir schreiben Algorithmen, die eine extrem hohe Leistung haben, präzis und so effizient sind, dass sie in einem kleinen Gerät untergebracht werden können – und funktionieren.“ Bisher sei ihm kein einziger Konkurrent bekannt, der etwas Ähnliches wie MyEye anbietet.

Das Gerät, behauptet Shashua, sei ein „Game Changer“. Das klingt unbescheiden – wäre da nicht Shashuas Erfolg mit der Firma Mobileye, die er und sein Geschäftspartner Aviram im Jahre 2017 für 15 Milliarden Dollar an Intel verkauft haben. Die von ihnen entwickelte Kameratechnologie bildet praktisch die Augen für selbstfahrende Autos. Mobileye hat bereits bei der Entwicklung von Roboterwagen mit BMW kooperiert. Zusammen mit Volkswagen läuft derzeit ein Test in Tel Aviv.

OrCam soll nach Mobileye der nächste große Wurf des Erfinders werden, der an der Hebräischen Universität eine Professur für Computerwissenschaften hat. Er betreue Doktoranden, habe ein „sehr aktives“ Labor und forsche an theoretischen Problemen der Künstlichen Intelligenz, um das Potenzial künftiger Anwendungen auszuloten, sagt der 59-Jährige, der im für Israel typischen informellen Outfit empfängt. Er trägt ein kurzärmliges T-Shirt und hat den Habitus eines ungeduldigen Professors, der nicht begreift, dass sein Fach etlichen Menschen etwas zu komplex ist, um es zu begreifen.

Doch das täuscht. Denn Shashuas Stärke liege gerade darin, komplexe Themen so auf den Punkt zu bringen, dass sie einfach zu lösen sind, sagt der Schweizer Investor Daniel Gutenberg, der bei Mobileye investiert ist und auch früh bei Netscape oder Facebook dabei war. 120 wissenschaftliche Artikel über KI und Computer Vision hat Shashua publiziert. Zudem besitzt er 45 Patente.

Die Herausforderung, doziert Shashua, bestehe für ihn darin, die Künstliche Intelligenz zu unserem ständigen Gefährten zu machen. Damit „verschaffen wir uns ein zusätzliches Augenpaar oder verstärken unsere Gehirnfunktionen“. Die Frage, ob der ständige Begleiter keinem Überwachungsstaat Vorschub leiste, wischt Shashua mit einer resoluten Handbewegung zur Seite.

„Die Privatsphäre wird zu 100 Prozent respektiert“, sagt er, „weil wir ohne Cloud arbeiten.“ Der Informations-Kreislauf sei geschlossen und – er zeigt auf die kleine Box – beschränke sich auf dieses kleine Rechteck an der Brille. Also nichts für Hacker. Bereits in 40 Ländern seien an die 100.000 Menschen mit dem künstlichen Begleiter ausgerüstet, der 28 Sprachen verstehe und spreche, darunter auch Deutsch.

MyEye sei mit rund 4500 Euro nicht gerade billig, räumt Shashua ein. In Deutschland, wo OrCam bereits mehrere Tausend Geräte verkauft hat, beteiligen sich aber die gesetzlichen Krankenkassen mit 80 bis 100 Prozent an den Anschaffungskosten, weil MyEye Ende 2017 ins Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen wurde. Auf dem deutschen Markt verzeichnet OrCam jetzt monatliche Wachstumsraten von 50 Prozent.

Unterstützung für Legastheniker in der Schule

Das Unternehmen, das in Jerusalem und außerhalb Israels mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt, darunter auch Blinde und Sehbehinderte, will künftig nicht nur Blinden, sondern auch Hörgeschädigten helfen. Sie sollen Gesprochenes ohne lästige Nebengeräusche wahrnehmen, wozu die traditionellen Hörgeräte nicht fähig sind.

Ermöglicht wird das durch eine Kamera, die den Sehbereich erfasst und sich auf die Lippen des Gegenübers fokussiert. Algorithmen sorgen dafür, dass die irritierenden Geräusche im Raum herausgefiltert werden und nur die Sätze des Gegenübers zu hören sind.

Gerade in einer Gesellschaft, in der Individuen ein hohes Alter erreichen können, sei das wichtig, weil mit zunehmenden Jahren das Hörvermögen nachlasse. Die Kommunikationsfähigkeit werde dadurch beeinträchtigt, was die Gesellschaft als Verlust kognitiver Fähigkeiten interpretiere. Doch das sei ein Trugschluss, sagt Shashua.

Für seine Innovation sieht er weitere Anwendungsmöglichkeiten – und neue Märkte. In Deutschland hätten zwölf Prozent der Bevölkerung Leseprobleme. Eine andere Version des Gerätes, genannt OrCam MyReader, könne ihnen helfen. Damit ließen sich an Schulen zudem Benachteiligungen wegen Legasthenie kompensieren.

Wer bei sich erste Anzeichen von Alzheimer entdecke oder gesichtsblind sei, den könne ab 2020 ein anderes KI-basiertes Hilfsmittel, die OrCam MyMe, unterstützen, sagt Shashua. Falls das Kästchen an der Brille auf einer Party per Kamera jemanden registriere, den man kenne, aber nicht erkenne, flüstert einem das Gerät den Namen dieser Person zu und wo man sie in der Vergangenheit getroffen habe.

Sollte man einer Person zum ersten Mal begegnen, merkt sich das künstliche Gedächtnis den Namen und den Ort des Treffens und ruft es bei der nächsten Begegnung ab. So organisiert es diskret die persönlichen Kontakte des Nutzers und garantiert dabei den Schutz der Privatsphäre, in Echtzeit und ohne Internetverbindung.

Automatischer Eintrag im persönlichen Terminkalender

Shashua will seine Innovation freilich nicht nur zur Überbrückung von Schwächen einsetzen, sondern auch als Hilfe im Beruf. Er denke an eine Technologie, die Gespräche erfassen, transkribieren und deren Inhalte auf den Punkt bringen könne. Dann erzeugt beispielsweise ein „Wir treffen uns am nächsten Montag zum Lunch“ automatisch einen entsprechenden Eintrag im persönlichen Kalender.

Einen großen Markt verspricht sich Shashua für professionelle Anwendungen, von denen er sich zusätzlichen gesellschaftlichen Nutzen verspricht, zum Beispiel im medizinischen Bereich. Wenn ein Arzt in der Klinik Gespräche mit Patienten aufzeichne, sei die Verarbeitung der Untersuchungen aufwendig. Könne aber das Gesagte so extrahiert werden, dass ein Rezept oder eine empfohlene Therapie herausgefiltert und getippt werde, sei der Arzt massiv entlastet. Eine Hilfskraft müsste die Maschinenabschrift nur noch in eine perfekte Form bringen.

Derzeit arbeite er am nächsten Durchbruch, sagt Shashua über OrCam, mit der er in rund zwei Jahren an die US-Börse will. Heute sei KI bloß in der Lage, eng definierte Probleme zu lösen, wie zum Beispiel Gesichter zu erkennen, Schach zu spielen oder autonom zu fahren. Aber Maschinen seien heute nicht fähig, ein Buch zu lesen und es zu verstehen, geschweige denn Verständnisfragen über den Inhalt zu beantworten.

„Das wird unser nächster Schritt sein“, sagt Shashua. Er wolle eine Künstliche Intelligenz schaffen, die nicht so begrenzt sei wie die heutige. Die Auswirkungen wären gewaltig: „Stellen Sie sich vor, dass ein Computer Artikel nicht nur lesen, sondern sie wie ein Experte verstehen und zusammenfassen kann“, schwärmt Shashua. Dann könnten alle Fachartikel dieser Welt in sämtlichen relevanten Disziplinen verarbeitet werden, und die Wissenschaftler erhielten durch die Verknüpfung Anhaltspunkte für ihre weitere Forschung. Shashua: „Menschen sind begrenzt, Computer sind es nicht.“