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Das größte Problem Europas sind nicht seine Gegner

Europa lebt von seiner Vielfalt. Möchten wir in Zukunft europäischer werden, müssen wir unsere Diversität nutzen – und daraus Produktivität schöpfen.

Follow this link to the Englisch version of this essay.

Lieber Europaskeptiker,

lassen Sie uns über Europa sprechen! Sie winken ab? Sie sind gar nicht gegen Europa, nur europamüde? Das überrascht mich nicht. Sie bedauern, leider eine höchst reizbare Allergie gegen pathetische
Sonntagsreden und wohlfeile Belehrungen entwickelt zu haben?

Das habe ich auch. Sie wollen nichts mehr hören über Quoten, Verbote und Grenzwerte? Ich kann Sie verstehen. Sie haben es aufgegeben, dem Rosenkrieg zwischen der EU und Großbritannien in jedem Winkelzug zu folgen? Wer nicht. Und dennoch: Wir müssen über Europa reden! Denn, ob wir wollen oder nicht, Europa ist und bleibt unsere einzige Chance, uns in der ungemütlichen Welt des 21. Jahrhunderts zu behaupten.

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Bei allem verständlichen Wunsch nach der kleinen, überschaubaren und sicheren Heimat, die Wahrheit ist: Das allein trägt uns nicht in eine gute Zukunft. Wir müssen über Europa reden, denn Europas Zukunft ist unsicherer, als viele glauben. Mit Großbritannien bricht ein starker Pfeiler der Gemeinschaft weg. Das ist gemessen an der Wirtschaftskraft so, als würden die 19 wirtschaftlich kleinsten Länder in der Union alle auf einmal gehen.

Ein tiefer und schmerzhafter Einschnitt. Aber nicht nur im Vereinigten Königreich, auch in anderen Mitgliedsländern gewinnen Europaverächter an Boden. Es ist aber nicht das größte Problem Europas, dass es so viel Europagegner gibt. Das größte Problem Europas ist vielmehr, dass es so wenig Europafreunde gibt, die das auch laut sagen und danach handeln.

Weil sie wissen, wie sehr wir die EU heute brauchen und in Zukunft noch mehr brauchen werden, um so zu leben, wie wir es als Europäer für selbstverständlich halten – in Frieden und Wohlstand. Schauen wir einmal nicht, wie so oft in letzter Zeit, nach Westen, über den Kanal, sondern nach Osten, über die alte Systemgrenze hinweg nach Osteuropa.

Denn dort sehen wir, zu welchen großartigen Leistungen wir in Europa auch heute noch imstande sind. Mit den beiden Wellen der Osterweiterung der EU 2004 und 2007 sind die Länder Ost- und Mitteleuropas dort wieder angekommen, wo sie immer waren und hingehören: in der Mitte Europas.

Eine Befreiung aus Diktatur und externer Abhängigkeit, mit der eine Erfolgsgeschichte begann, die das Leben der Menschen dort verbessert und auch ganz Europa bereichert hat. Die Wirtschaft wächst im Osten anhaltend stärker als im Westen. Der Aufschwung kommt zunehmend auch bei den Menschen an. Zwar sind die Löhne noch niedriger als im Westen, steigen aber überall in der Region stark.

Zugleich ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Die Arbeitslosenquoten in Tschechien, Polen oder Ungarn gehören mittlerweile zu den niedrigsten in Europa. Inzwischen macht sich Fachkräftemangel bemerkbar. Was für eine Leistung dieser Länder mitten in Europa! Wir bei E.ON sind stolz darauf, Teil dieser Erfolgsgeschichte zu sein.

Die Wurzeln unserer Aktivitäten in Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn reichen bis weit in das letzte Jahrhundert. In diesen Ländern versorgen wir 7,8 Millionen Kunden mit Energie. Mit der geplanten Übernahme von Innogy werden wir im Sinne unserer Kunden unsere Aktivitäten in Osteuropa deutlich verstärken und auf weitere Länder der Region ausweiten.

Den beeindruckenden Weg dieser Länder zu Demokratie, wirtschaftlichem Aufschwung und einem wiedergewonnenen europäischen Selbstverständnis haben wir aus der Nähe begleitet und nach Kräften unterstützt. Aus eigenem Erleben kennen wir die Erfolge auf diesem Weg wie auch die inneren Spannungen, die dabei fast unvermeidlich auftreten.

Bei mir ist aus vielen Begegnungen in Osteuropa eine große persönliche Sympathie für diese Region und ihre großzügigen, pragmatischen und auf ihre eigenen Leistungen zu Recht stolzen Menschen entstanden. Die europäische Idee lebt, und sie verdient es, dass wir uns überall in Europa dafür einsetzen.

Im Westen Europas werden manche der osteuropäischen Mitglieder der EU als äußerst selbstbewusst oder, weniger diplomatisch gesagt, als sperrig wahrgenommen. Diskurslinien über Migration, Rechtstaatsverständnis oder über das Verhältnis zu Russland laufen nicht selten in Ost-West-Richtung. So entsteht für manche ein Bild Osteuropas aus Verschlossenheit, Nationalismus und Illiberalität.

Der eigene Weg in der Wertegemeinschaft

Diese Sichtweise ignoriert nicht nur die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Region, sondern auch die gewaltige Leistung der Menschen dort. Sie haben allen Grund, stolz zu sein auf die demokratischen Gemeinwesen, die sie nach langer Unterdrückung aufgebaut haben. Und alles Recht, auf dem Boden der europäischen Wertegemeinschaft ihren eigenen Weg zu gehen.

Wer will den Menschen in Osteuropa angesichts ihrer geschichtlichen Erfahrungen ernsthaft verdenken, dass sie auf Bevormundungsversuche sensibel reagieren? Man muss nicht jede politische Entwicklung in Osteuropa verteidigen, um einen respektvollen Umgang mit dieser Kernregion Europas zu erwarten.

Der alte Westen Europas täte gut daran, sich tatsächlich Mühe zu geben, die östlichen Nachbarn und ihre spezifische, historisch geprägte Situation besser verstehen und respektieren zu lernen. Und schließlich: Was die Europäer im Osten beschäftigt, bewegt auch die Europäer im Westen. Viele fragen sich: Wie können wir ein weltoffenes Europa sein und zugleich die vielfältigen Eigenheiten unserer Länder erhalten?

Wenn dabei aus patriotischer Heimatliebe rigider Nationalismus wird, so ist das keine Spezialität einiger osteuropäischer Länder.

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev schreibt: „Die Spaltung zwischen dem Westen und dem Osten Europas in den Einstellungen zu Diversität und Migration hat große Ähnlichkeit mit der Spaltung zwischen den kosmopolitischen Großstädten und ländlichen Gegenden innerhalb der westlichen Gesellschaften.“ (Europadämmerung 2017).

Ein hochmütiger Blick von West nach Ost verbietet sich also. Die Gelbwesten marschieren nicht in Prag oder Bukarest. Der Brexit findet nicht in Polen oder Ungarn statt. In ganz Europa hat sich ein Gefühl der Entwurzelung und Verunsicherung ausgebreitet, das die Gemeinschaft spaltet, ja, sie zu zerreißen droht. Europa als Elitenprojekt funktioniert nicht!

Was ich in den osteuropäischen Ländern, bei Begegnungen mit den Menschen dort immer wieder erlebe, ist ein lebendig gebliebenes Gefühl für die Vielfalt kulturellen Herkommens. Für die Rolle und die Chancen von Diversität. Dass man manches, aber nicht alles vereinheitlichen muss. Das ist ein ureuropäischer Gedanke. Vielfalt ist eine Stärke Europas – gerade heute.

Denn die Welt ist wieder in eine Phase eingetreten, in der Technologie die künftige globale Verteilung von Prosperität und die relative Wettbewerbsfähigkeit der Weltregionen entscheidend bestimmt. Ähnlich dem Industrialisierungswettlauf im 19. Jahrhundert. Aber diesmal hängt Europa zurück.

Wir müssen aufholen. Dabei wäre es naiv zu glauben, Silicon Valley könne einfach kopiert werden – es ist zu einer bestimmten Zeit unter ganz spezifischen Bedingungen entstanden, die nicht reproduziert werden können.

Die Grundbedingungen für eine entfesselte Innovationsdynamik kann aber nicht nur Silicon Valley bieten: Innovationen entstehen dort, wo sich Menschen mit den unterschiedlichsten persönlichen, kulturellen und professionellen Hintergründen frei und offen austauschen können. Das können wir in Europa – und vielleicht sogar besser als andere.

Rückbesinnung auf die Vielfalt Europas

Produktive Diversität ist eine traditionelle Stärke Europas, die allerdings etwas aus dem Blick geraten ist. Bereits 1997 sagte der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, Europa sei dabei, „die Eigenheit der Völker ökonomisch zu verdampfen“. Natürlich gibt es wichtige Bereiche, wo wir in Europa einheitliche Rahmenbedingungen brauchen, in der Energie etwa, im Klimaschutz oder der Telekommunikation.

Natürlich sind der europäische Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung große Vorteile für Bürger und Unternehmen. Darin allein kann aber eine gute Zukunft Europas nicht liegen. Große Teile der Bürger wollen eine Einigung Europas allein aus ökonomischen Gründen oder Sachzwängen ohnehin nicht mitgehen. Nötig ist deshalb eine Rückbesinnung auf die Vielfalt Europas.

Wenn wir nicht wie die USA und schon gar nicht wie China werden können und es schon gar nicht wollen, dann sollten wir wieder europäischer werden. Und das heißt: Vielfalt zulassen und deren Produktivität nutzen.

Auf dem Boden seiner gemeinsamen Werte braucht Europa mehr Subsidiarität in den Entscheidungsprozessen, mehr Raum für die Vielfalt regionaler und kultureller Identitäten, mehr attraktive Lebenschancen gerade in ländlichen Gebieten. Europa muss wieder Schutzraum – nicht Bedrohung – für das Recht seiner Bürger sein, so zu leben, wie sie es wollen.

Lieber Europaskeptiker, lassen Sie uns also über Europa sprechen! Über das Europa, das Sie, den Skeptiker, braucht: Ihre kritisch-konstruktive Haltung, Ihr Engagement und Ihre Stimme bei der Europawahl! Gerade in einer
Zeit, in der – mit Bertrand Russell gesagt – „die Narren so selbstsicher sind und die Gescheiten so voller Zweifel“.