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Die Frau, die als erste deutsche Dax-Chefin gehandelt wird

An diesem Morgen geht es für Claudia Nemat zunächst einmal tief hinab. Sie nimmt die 30 Stufen einer Treppe aus Metallgittern leichtfüßig und ohne zu zögern. Nemat trägt graue Turnschuhe, eine weite, schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke. Der Abstieg in die Tiefe führt sie in die Kabelversuchsanlage der Telekom.

Was sich groß anhört, ist in Wirklichkeit ein vielleicht 50 Quadratmeter kleiner Raum, vollgestopft mit Computern und Bildschirmen. Die Fenster sind winzig und auf Brusthöhe, selbst der Notausgang geht über eine Metalltreppe durch ein Fenster. Von Decken und Wänden hängen gelbe und schwarze Stecker und Kabelbündel. Neonlicht, es ist stickig und warm, überall blinken Knöpfe und Displays.

Claudia Nemat nimmt diese wie ein Bienenstock summende und brummende „Anlage“ und die Menschen darin, überwiegend Männer in Jeans und Karohemd, einige Vollbärte, viele Brillen, schnell für sich ein. Sie fremdelt nicht mit „Kabelschaltfeld“, „Spektralanalyse“, „Leistungsmesser“ und „Störkoppelmatrix“. Sie sagt sogar: „Ah, herrlich. Das erinnert mich hier an den Bastelkeller meines Vaters. Das war ein Tüftler.“

Aus Claudia Nemat ist keine Tüftlerin geworden, auch wenn sie als junge Frau zunächst Physik studiert hat und genau versteht, was hier „versucht“ wird. Aus ihr ist eher das Gegenteil geworden. Sie hält die große Linie im Blick statt die kleinen Teile in der Hand.

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Seit Januar 2017 führt Nemat das Vorstandsressort Technik und Innovation der Deutschen Telekom. Sie ist damit nicht nur eine der ganz wenigen weiblichen Dax-Vorstände. Die 49-Jährige agiert auch an einer – im besten Sinne des Wortes – Schaltstelle der deutschen Wirtschaft.

Dort entscheidet sich maßgeblich, wie gut oder schlecht Deutschland die Digitalisierung gelingt. Und dort entscheidet sich, ob Nemat noch mehr kann als Vorstand, ob sie es nach ganz oben schafft – als erste Frau in Deutschland auf den Posten einer Vorstandsvorsitzenden bei einem Dax-Konzern. Bisher kann eine Frau in Deutschland nur Kanzlerin sein, nicht aber CEO. Im internationalen Vergleich hinkt die deutsche Wirtschaft diesbezüglich hinterher (siehe Grafik Seite 67).

Nemats Aufgabe könnte komplizierter kaum sein. An der schlanken, 1,72 Meter großen Frau mit den grauen, halblangen Locken und den großen blauen Augen hängt es mit, wie schnell und gut der Breitbandausbau in Deutschland vorangeht.

Und an ihr hängt auch mit, wie gut sich der Dax-Konzern mit seinen etwa 220.000 Mitarbeitern selbst transformiert – und im Konkurrenzkampf mit anderen Telekommunikationskonzernen wie Vodafone, Telefónica und Orange sowie IT-Riesen wie Amazon und Google bestehen kann.

„Mit Herz und Hirn“

Mitarbeiter von Nemat sprechen vom „heißen Stuhl“, auf dem ihre Chefin sitze, vom „Himmelfahrtskommando“, die Telekom agiler zu machen, oder vom „Innovationsdilemma“, in dem die Telekom seit Jahren stecke.

Der Mobilfunkmarkt ist gesättigt, Wachstum ist nur noch über Verdrängung möglich und der Festnetzmarkt gar rückläufig. Zwar ist die Telekom im Bereich Netzwerkinnovationen stark, etwa bei der Entwicklung des 5 G-Standards, bei Produktinnovationen ist sie aber schwach. Prominenteste Negativbeispiele: Musicload scheiterte als Reaktion auf iTunes so wie Joyn als Alternative zu WhatsApp.

Die Telekom steht entsprechend unter Druck. Der Aktienkurs ist seit vergangenem Jahr fast um ein Viertel gefallen. Zwar hat Konzernchef Timotheus Höttges gerade eine solide Bilanz für das vergangene Jahr vorgelegt und sich nach jahrelangen Verhandlungen mit dem japanischen Konzern Softbank auf die Übernahme von dessen US-Mobilfunktochter Sprint geeinigt, doch die Risiken bleiben.

In Europa muss der Konzern mit einer jüngst durch die Übernahme von Unitymedia erneut erstarkten Vodafone klarkommen. Und in den USA bleiben strategische Nachteile wie fehlende Festnetzanschlüsse gegenüber Konkurrenten wie AT & T und Verizon. Zudem kämpft die Telekom als ehemaliger Staatskonzern nach wie vor mit verkrusteten Strukturen und gilt deshalb nicht als Hort von Innovationen oder Beispiel für Agilität.

Dieses „Innovationsdilemma“ zu beenden ist nun die Pflicht und Kür von Claudia Nemat. Die studierte Physikerin und gelernte McKinsey-Beraterin, die inzwischen auch im Aufsichtsrat des Flugzeugbauers Airbus sitzt, hat sich diese Position „mit Herz und Hirn“, wie sie selbst sagt, gewünscht und geschaffen. Sie wollte schon als junge Frau nicht weniger, „als es mir selbst und allen anderen beweisen“. Das neu geschaffene Ressort „Technik und Innovation“ gilt schließlich als der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft des Konzerns und auch der Republik.

Bis dato genießt Nemat – bei all ihrer Ungeduld und ihrer bisweilen temperamentvollen Art – das Vertrauen von Vorstandschef Höttges und Aufsichtsratschef Ulrich Lehner. Mit ihrer meist freundlichen, aber auch sehr bestimmenden Art hat sie die Bereiche Technik und Innovation in den vergangenen Monaten zusammengeführt und in Teilen auch schon transformiert.

Doch die Zeit des Sich-mit-sich-selbst-Beschäftigens ist vorbei. Nun muss Nemat liefern – und zwar auch in enger Abstimmung mit ihrem Kollegen, Telekom-Deutschland-Chef Dirk Wössner, und Vorstandschef Timotheus Höttges: Breitband und Service (Technik) sowie Produktinnovationen wie den jüngst angekündigten Smart Speaker, ein verbessertes Entertain TV und das European Aviation Network.

Unter Beobachtung

Bei allem steht Nemat unter Beobachtung. Liefert die 49-Jährige in den nächsten zwei Jahren, stehen ihr alle Türen offen. Schon jetzt wird sie als mögliche erste Dax-Chefin gehandelt.

Da sind sich führende Personalberater Deutschlands einig wie selten. „Sie hat das Format. Sie ist die einzige Führungsfrau in Deutschland, der ich einen Dax-Vorstandsvorsitz in absehbarer Zeit zutraue“, lobt etwa Heiner Thorborg, der dank seines Netzwerks Generation CEO die meisten Führungsfrauen in Deutschland persönlich kennt. „Sie ist eine Ausnahmeerscheinung. Ich traue ihr diesen nächsten Schritt ohne Einschränkungen zu“, sagt auch Headhunterin Anke Hoffmann. Und Thomas Sattelberger, langjähriger Dax-Konzern-Personalchef (Telekom, Continental, Lufthansa) und inzwischen Bundestagsabgeordneter für die FDP, erklärt: „Sie füllt nicht nur divisionale wie funktionale Dax-Vorstandsposten aus, sondern hat natürlich auch das Potenzial für einen Vorstandsvorsitz.“

Claudia Nemat hat es selbst in der Hand, ihre ambitionierten Ziele zu erreichen. Am Kapitalmarkttag am Donnerstag in Bonn, einer nur alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Veranstaltung, reklamiert sie vor Investoren, Analysten und Journalisten selbstbewusst die „Technologieführerschaft“ für die Telekom. Sie sagt: „Unsere Technologie und unsere Netzwerke sind die Basis für alles. Wir verbinden Menschen für ihre gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten.“

Damit das gelingt, hat sie in den vergangenen 17 Monaten entsprechende Voraussetzungen geschaffen. Sie hat in ihrem neuen Ressort die Strukturen und Köpfe angepasst. Sie hat sich ein Führungsteam aus neun Leuten zusammengesucht, das aufgrund seiner Vielfalt seinesgleichen sucht in der deutschen Wirtschaft. In diesem finden sich kaum Telekom-Urgesteine. Stattdessen hat sie in diesem engsten Führungskreis bewährte Kräfte aus ihrer Zeit als Europa-Chefin der Telekom vereint. Etwa Branka Skaramuca, die einstige Personalchefin der Telekom Kroatien, die nun die neue Arbeitsdirektorin ihres gesamten neuen Vorstandsressorts ist. Oder Walter Goldenits, der Technikchef von Telekom Ungarn war und nun diese Position bei der Telekom Deutschland innehat. Das Team ergänzen vier Neuzugänge: Ihren neuen IT-Chef Peter Leukert fand Nemat bei der Commerzbank, ihren neuen Technik-International-Chef Jean-Claude Geha bei Ericcson. Für die Chefposten Strategie und Innovation verpflichtete sie zwei Exoten: Der Südkoreaner Alex Choi kommt von South Korean Telecom, und der Marokkaner Omar Tazi war schon „Chief Evangelist“ bei Oracle.

Ihr Team ist ein Vorbild an Diversität, sagen die einen. „Das ist konsequent und im Sinne der Sache. Homogenität ist der Feind von Innovationen“, lobt etwa Thomas Sattelberger, einst Personalchef und ihr Vorstandskollege bei der Telekom und inzwischen innovationspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. Andere warnen: „Ihr Team ist eine toxische Mischung. Das sind zu viele verschiedene Typen.“

Klar ist: Claudia Nemat hat ihr Schicksal an diese Truppe gebunden – und viele ihrer Leute ihr Schicksal an das ihre. Sie wollen die Telekom gemeinsam innovativer, agiler und damit konkurrenzfähiger machen. Nemat selbst sagt: „Wir sind die Rebellen. Wir wollen die Telekom von innen heraus verändern.“ Und um das zu erreichen, ist Nemat viel unterwegs.


„Es gibt noch viel zu tun“

7:40 Uhr, ein Mittwochmorgen im April in Düsseldorf. Es ist nasskalt. Claudia Nemat steigt in einem Hinterhof in einen dunkelblauen 7er BMW mit Fahrer. Mit ihrer Handtasche lässt sie sich in den dunkelbraunen Ledersitz im Fond fallen. „Guten Morgen!“, sagt sie und zeigt ihr breites Lächeln. Sie lächelt noch, da rollt der Wagen schon los.

Claudia Nemat hat keine Zeit zu verlieren – weder an diesem Morgen noch grundsätzlich. Sie sitzt keine drei Minuten ruhig oder gar untätig im Fond ihres Wagens. Der rollt gerade aus dem Hinterhof, da zückt sie schon Smartphone, Kladde und Kugelschreiber. Um 7:45 Uhr ist schließlich die Zeit für die Morgenlage mit ihrem engsten Führungskreis. Es wird sich geduzt und Englisch gesprochen. Nemat beendet ihre Sätze dabei häufig mit deutschen Floskeln wie „gut“ oder „ja?“.

Nemat spricht schnell. Doch kaum hat sie losgelegt, ist die Verbindung wieder weg. In einem Tunnel der A46 in Richtung Süden, das Stadtgebiet von Düsseldorf ist noch nicht verlassen, ist ein Funkloch. Nemat schüttelt den Kopf und lacht, sie reagiert nicht ärgerlich, sondern amüsiert. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt sie. Als die Telefonkonferenz wieder steht, entschuldigt sie sich bei ihren Leuten: „Sorry, a tunnel-disconnect!“ An ihren Technikchef Walter Goldenits gewandt, sagt sie: „Please check, Walter, Tunnel Düsseldorf-Oberbilk A46.“

Dann geht es in der Sache weiter – und wird nicht das einzige Telefonat bleiben auf der knapp zweieinhalbstündigen Fahrt. Währenddessen bringt ihr Fahrer sie, so schnell es die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Autobahnen 46, 59, 3 und 67 zulassen, von Düsseldorf nach Darmstadt. Der Fahrstil ihres Chauffeurs ist „zügig“, das kommt ihr entgegen. Sie liebt Geschwindigkeit. In der „Wissenschaftsstadt“, wie Darmstadt sich selbst nennen darf, hat die Telekom einen ihrer größten Technikstandorte in Deutschland.

Als Nemat auf dem weitläufigen Firmengelände, das einst die Zentrale von T-Online beherbergte, vertraute Gesichter sieht, springt sie förmlich aus dem Wagen. Ihre Handtasche drückt sie einem Mitarbeiter zum Tragen in die Hand. Damit will sie sich jetzt nicht belasten.

Hinabgestiegen in die Kabelversuchsanlage, trifft sie auf Alexander Muggentaler. Er ist hier der Chef. Er trägt Jeans, rotes Karohemd und Vollbart. Nach ihrer lockeren Begrüßung („Sie haben sich hier ja schon eingegraben“) entspannt er sich sogleich und revanchiert sich mit Scherzen. „Passen Sie gut auf, was ich Ihnen jetzt zeige! Am Ende wartet ein Fragebogen auf Sie, in dem wir testen, ob Sie auch alles verstanden haben …“

Es folgt ein Vortrag darüber, wie hier Netzverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden. Dafür ist eine Teststrecke aufgebaut und ein 16-Familien-Haus in Miniatur nachgebildet. Nemat genießt die Runde sichtlich: Leicht breitbeinig steht sie da, reibt sich ab und zu ihre Hände, lacht viel und laut.

Sie kommentiert den Vortrag mit Aussagen wie „Ah, Vectoring!“, Nachfragen „Maxwell?“ und Zuspruch: „Das ist super!“ Am Ende resümiert sie genüsslich: „Detailkenntnisse sind gerade auch in der Digitalisierung wichtiger denn je. Wie gut, dass wir Sie und diese Kabelversuchsanlage hier haben!“ Allgemeines Nicken ist ihr Dank und Zustimmung zugleich. Für sie endet damit „ein Ausflug“ in die „pure Physik“ – und damit zu ihren Wurzeln.

Physik ist ihre Basis

Die Physik ist ihre Basis. Dem Fach begegnet sie früh. Claudia Nemat wird 1968 in Bensberg im Bergischen Land geboren. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Vater Atomphysiker. Sie selbst zeigt zunächst kein besonderes Interesse an Naturwissenschaften. „Mir war die Puppe so lieb wie der Baukasten. In der Schule fiel es mir in allen Fächern leicht“, erinnert sie sich. In der zehnten Klasse auf dem Albertus-Magnus-Gymnasium in Köln wählt sie Physik gar ab. „Der Lehrer war schuld“, erklärt Nemat und lacht. „Er konnte das Fach einfach nicht vermitteln. Wir haben stundenlang eine Kugel über eine schiefe Ebene rollen lassen. Immer das Gleiche, es war langweilig.“

Nach dem Abitur beginnt sie, an der Universität zu Köln schließlich Mathe auf Diplom zu studieren. Ihre Nebenfächer sind Physik und Informatik. Sie ist mit einer Kommilitonin die einzige Frau unter rund 100 Studenten im Hörsaal. Nach dem Grundstudium hat sie die Physik dann endgültig gepackt. „Ich wollte einfach verstehen, was die Welt zusammenhält“, erzählt sie.

Sie macht Physik zu ihrem Hauptfach. Ihr Leitbild: niemand Geringeres als die erste weibliche und dann gleich zweifache (Physik und Chemie) Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867-1934). Die sagte einst: „Es gibt nichts zu fürchten und viel zu verstehen!“ 1994 erlangt Nemat noch unter ihrem Mädchennamen ihr Diplom mit dem Schwerpunkt „Theoretische Festkörperphysik“, Note „sehr gut“.

Und so wundert es nicht, dass der Satz „Logik ist unteilbar“ so etwas wie ihr Mantra geworden ist. Fast jeder, der mit ihr zusammengearbeitet und sie gut kennen gelernt hat, zitiert diesen Satz als charakteristisch für sie – Ralph Rentschler, ihr langjähriger Mann für Finanzen im Europa-Ressort, ebenso wie Katrin Suder. Die 45-Jährige, die zuletzt als Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium wirkte, war bei McKinsey zunächst die Mentee von Nemat. Später erledigten beide Frauen gemeinsam Projekte, bei SAP und auch beim Bundesarbeitsministerium. Suder hat wie Nemat einst Physik studiert, beide sind gut befreundet, jeweils sogar gegenseitig Patinnen der Töchter. „Sie ist analytisch unglaublich stark, sie leitet alles her und ab“, sagt Suder über Nemat. Und weiter: „Claudia ist zugleich sehr empathisch und kann mit visionärer Kraft Menschen überzeugen, begeistern und motivieren.“

Das Fach Physik hat Claudia Nemat zudem weit über das Inhaltliche hinaus geprägt. „Ich glaube“, sagt Nemat über sich selbst, „das Studium der Physik hat mich unerschrocken gemacht. Ich habe in den ersten Semestern vieles nicht verstanden. Erst im Laufe der Zeit haben sich mir die Zusammenhänge erschlossen. Etwas nicht sofort zu verstehen irritiert oder erschreckt mich seitdem nicht mehr.“ Ganz im Gegenteil: Je schwieriger ein Job, desto interessanter sei er für sie. „Und allein unter Männern zu sein“, sagt sie, „irritiert oder verunsichert mich seitdem auch nicht mehr. Ich habe früh gelernt, eine Ausnahmeerscheinung zu sein.“

Als Physikerin befindet sich Nemat in guter Gesellschaft unter Deutschlands Topfrauen. Angela Merkel hat schließlich ebenso Physik studiert wie Katrin Suder oder die Ex-Bankerin Helene von Roeder, die jüngst Finanzvorstand beim Dax-Konzern Vonovia wurde.

Doch die Physik oder Technik, die sie unerschrocken gemacht hat, ist nur die eine Herausforderung, vor der sie nun als Vorständin der Telekom steht. Die andere ist die Innovation.

200 Meter vom Kellerloch der Kabelversuchsanlage entfernt liegt das NEC, das Network Innovation Center. Es sind einige Büroräume in einem grauen Bürogebäude. Hier sollen die Produktinnovationen entstehen, die die Telekom so dringend braucht. In zwei Konferenzräumen wartet jeweils ein Dutzend Mitarbeiter, überwiegend Männer in Jeans, Hemd und Jackett. Zwei von ihnen tragen gar magentafarbene Turnschuhe. Sie sind alle nervös, schließlich besucht sie ihre oberste Chefin nicht jeden Tag. Sie haben nun jeweils eine Viertelstunde Zeit, um ihre Projekte vorzustellen.

Die Schreibtische sind an die Wände gerückt, in der Mitte der Räume stehen graue Stehtische mit Wasserflaschen, einem Gläsersammelsurium und Schälchen mit Schoko-Bons darauf. Claudia Nemat stellt sich sogleich an solch einen Tisch: die Füße überkreuzt, einen Arm auf die Tischplatte gelegt.

Mit zusammengekniffenen Augen verfolgt sie die Vorträge. Der Ton ist höflich, aber locker, es geht um die Sache. Ab und an streut sie knapp ihre Gedanken ein. An anderer kommentiert sie: „Lichtgeschwindigkeit ist meine Freundin.“ Schließlich drängelt sie: „Wie kriegen wir das schnell umgesetzt?“ Dann schließt sie mit: „Das ist super! Können Sie das auf einer einzigen Folie darstellen? Ich möchte das Projekt auf dem Kapitalmarkttag zeigen.“ Gemeint ist Access 4.0., eine neue Open- Space-Plattform.

Die Welt der Folien und Präsentationen, und damit die der Strategie und Betriebswirtschaft ist Nemat mindestens so vertraut wie die der Physik. Ihre Lehrjahre hat sie schließlich bei der Strategieberatung McKinsey verbracht. Noch unter ihrem Mädchennamen startet sie dort direkt nach dem Studium. „Mit Mitte 20 war mir klar, dass das Forscherdasein, die pure Physik, für mich nichts ist. Der Wirkungskreis war mir zu klein. Ich wollte Einfluss ausüben, in Wirtschaft oder Politik“, sagt sie. „Es ergaben sich dann zwei Möglichkeiten für mich: Investmentbanking und Strategieberatung. Ersteres erschien mir zu zynisch, Zweites genau richtig, weil praktisch und breit.“

Über einen Aushang am Institut für Theoretische Physik der Universität Köln kommt sie direkt zu McKinsey. Sie beschließt, die Beratung erst einmal für zwei Jahre auszuprobieren. Als sie 1994 im Kölner Büro anfängt, ist sie gerade einmal 25 Jahre. In den ersten Jahren arbeitet sie vor allem in Projekten in der Automobil- und Technologiebranche.


Von McKinsey zur Telekom

Die Telekom lernt sie gleich in ihrem zweiten Jahr bei McKinsey kennen. Die Beratung hat den Auftrag, die Investitionsplanung des damaligen Staatskonzerns zu optimieren. Nemat bringt sich direkt ein. „Ich bin in Kabelschächte geklettert, habe mir die Technik angeschaut und entsprechende Empfehlungen gegeben.“ Aus dieser Zeit kennt sie bis heute noch Mitarbeiter.

Aus zwei Jahren bei McKinsey werden erst drei, dann vier, dann fünf. Nach sechs Jahren wird Nemat zur Partnerin ernannt. Nach weiteren zwei Jahren wird sie Leiterin des deutschen Technologie-Sektors. Im Jahr 2004 lernt sie René Obermann kennen, damals noch Vorstandschef der Telekom-Tochter T-Mobile.

Der fünf Jahre ältere Rheinländer, der zunächst sein eigenes Unternehmen gegründet und dann im Mobilfunkgeschäft der Telekom Karriere gemacht hatte, findet die Beraterin „von der ersten Begegnung an strategisch stark und intellektuell inspirierend“. Vor allem ihre Problemanalyse und Lösungsansätze bei der Geschäftskundensparte T-Systems beeindrucken ihn. „Sie wirkte auf mich damals ebenso systematisch wie pragmatisch und anpackend“, erinnert sich Obermann.

Als Obermann sie im Sommer 2007 als Chefin von T-Systems ins Gespräch bringen will, lehnt sie – zu seiner großen Überraschung und der anderer Beteiligter – schon im Vorfeld dankend ab. Sie hat einen guten, wenn nicht gar besten Grund: „Ich erwartete damals mein erstes Kind – und ich wollte nicht zu viele Veränderungen auf einmal“, erzählt Nemat. Eine lange Auszeit gönnt sie sich nicht. Wenige Woche nach der Geburt ihrer Tochter ist sie wieder für McKinsey im Einsatz.

Neben ihren Projekten bei Kunden wie Telekom und SAP bewegen sie in dieser Zeit zwei „Denkerthemen“, wie sie diese selbst nennt. Sie veröffentlicht 2007 die Streitschrift: „A wake-up call for Europe based technology leadership“. In dieser warnt sie als Technologiechefin von McKinsey Deutschland und Europa davor, dass die europäische Technologiebranche aufgrund ihrer geringen Marktkapitalisierung und schlechten Finanzierung in naher Zukunft ihre Führungsrolle an die Konkurrenz in Asien und den USA verliert.

Neben diesem fachlichen Thema treibt sie eine andere strukturelle Schieflage um, die sie in vielen Firmen persönlich erlebt hat: die mangelnde Präsenz von Frauen in Führungspositionen. Gemeinsam mit ihren jüngeren McKinsey-Kolleginnen Katrin Suder und Anke Domscheit-Berg analysiert sie die Lage und provoziert im Jahr 2007 mit der Studie „Women matter“. In dieser zeigen die Beraterinnen auf, dass heterogene Führungsstrukturen langfristig erfolgreicher sind. Mit beiden Themen ist Nemat ihrer Zeit weit voraus.

Dieser strategische Weitblick ist eine ihrer Stärken. Im Aufsichtsrat der Telekom genießt Nemat auch deshalb einen guten Ruf: „Sie sieht und benennt schonungslos für sich und andere Risiken, die manch anderer, mehr politisch oder karrieristisch getriebener Managertyp nicht nennen würde“, heißt es über sie.

Herzlich im Ton, hart in der Sache

Eng mit dieser Stärke verbunden ist aber auch eine ihrer Schwächen. „Sie setzt eher den großen als den kleinen Pinselstrich“, sagt ihre Ex-Kollegin und Freundin Suder. „Oder, anders ausgedrückt: Sie ist diejenige, die den Mount Everest als Achttausender im Nebel sieht und alle dazu bringt loszumarschieren.“ An die Sauerstoffflaschen müssten aber andere denken.

Das Europa-Ressort der Telekom hat sie auf diese Art und Weise konsolidiert. In fünf Jahren formt sie aus einem Dutzend Landesgesellschaften, die bis dato eher finanzgetrieben gesteuert werden, eine strategische Einheit. Nemat richtet die europäischen Beteiligungen zudem stärker auf Geschäftskunden aus und versucht, integrierte Angebote aus Festnetz und Mobilfunk zu kreieren. Es ist ihr Gesellenstück im Konzern, aber ein noch unvollendetes. Das Segment Europa unterliegt nach wie vor großen Schwankungen. Abschreibungen und Umstrukturierungen belasten die Geschäfte. Der Umsatz liegt mit 11,6 Milliarden Euro immer noch nicht wieder da, wo er mal war.

Dennoch: Sie steigt als Ressortchefin Technik und Innovation ins geografische wie tatsächliche Machtzentrum des Konzerns auf. Und auf diesem „heißen Stuhl“ gilt für sie mehr denn je die Devise, die ihr einst ihr Großvater mit auf den Weg gegeben hat: „Niemals unterkriegen lassen!“

Nemat ist deshalb, wie an diesem Tag in Darmstadt, viel unterwegs. In ihrem Vorstandsbüro im fünften Stock des Firmensitzes in Bonn findet man sie wie schon zu ihren Zeiten als vielreisende Europa-Chefin selten. Doch der Raum ist auch so etwas wie ein konspirativer Rückzugsort. Hier bespricht sich Nemat mit Vertrauten und engen Mitarbeitern. Ihr Schreibtisch ist eigentlich ein quadratischer Besprechungstisch. In dessen Mitte steht ein Glas mit schwarzen und rosa Legosteinen, die sie bisweilen zum Nachdenken oder Erklären nutzt. An den Wänden hängen inmitten moderner Kunst die Fotos von ihren Kindern und ihrem Mann. André Nemat ist Chefarzt der Klinik für Thoraxchirurgie der Sana Kliniken in Düsseldorf. Das Paar führt eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Gemeinsam und gleichgewichtig verbinden sie Beruf und Familie.

Nemats Führungsstil ist herzlich im Ton, aber hart in der Sache. Eine enge Mitarbeiterin sagt über sie: „Claudia ist sehr anspruchsvoll, sie führt aber über Zu- und Vertrauen, sie ist keine Kontrolletti.“ Sie selbst sagt: „Früher wollte ich Technik verstehen, heute will ich Menschen bewegen.“

Und das tut sie. Ihr Team zeichnet sich nicht nur durch verschiedene Nationalitäten und fachliche Hintergründe aus. Die Charaktere sind auch eigenwillig. So dürfte der neue Innovationschef Omar Tazi mit seiner extrovertierten Art jeden Gründerkongress unterhalten, während der neue Strategiechef, der Südkoreaner Alex Choi, mit seiner überlegten, introvertierten Art eher auf einem Schachturnier reüssieren dürfte.

Beim Zuschnitt des neuen Ressorts hat sie der Institution Telekom und ihren Leuten einiges abverlangt. Hierarchien hat sie reduziert, Strukturen verschlankt. So gibt es bei „Technik und Innovation“ inzwischen sogenannte „Chapter“ oder „Tribes“ aus Programmierern, Software-Entwicklern und Produktmanagern, die abruf- und einsatzbereit sind. So sollen aus Ideen schneller marktfähige Innovationen werden – oder auch schneller gescheitert werden. Die Zeit von geschlossenen Projektteams, die 24 oder gar 36 Monate vor sich hin werkelten und am Ende wenig am Markt Überzeugendes ablieferten, soll damit vorbei sein.

Nemat legte sich mit dem Betriebsrat an

Die Auseinandersetzungen, die Nemat dafür auch mit dem Betriebsrat einging, und die nicht nur von Arbeitnehmervertretern als „Kulturrevolution“ beschrieben werden, waren hart. „Sie geht an die Grenzen des im Rahmen eines Konzerns Möglichen und Machbaren“, sagt Holger Lissmann, verantwortlicher Arbeitnehmervertreter für den Vorstandsbereich Technik und Innovation, und weiter: „Sie geht dabei aber nie hektisch vor, wird nie laut, nie aufdringlich. Sie trägt ihre Pläne vor, untermauert sie mit Argumenten und hört sich dann die Gegenargumente an. Sie überzeugt sachlich und fair.“ Bei der Umsetzung im Betrieb habe es dann aber einige Schwierigkeiten gegeben. So seien einige Mitarbeiter mit der Geschwindigkeit der Veränderungen überfordert.

Claudia Nemat kennt den schmalen Grat, den sie beschreitet. Ihre „Freundin, die Lichtgeschwindigkeit“ ist schließlich nicht immer eine gute Beraterin. Sie weiß: Sie darf die Organisation weder in schlechter, allzu forscher Beratermanier überfordern, noch in ebenfalls schlechter, allzu behäbiger Konzernattitüde verharren lassen. Nicht umsonst spricht sie lieber von Transformation statt von Umstrukturierung oder gar Disruption.

Ihre Ungeduld und bisweilen Impulsivität hat sie meist im Griff. Zudem geht sie ihre Karriere analytisch und pragmatisch an – so wie sie einst das Angebot ihres Professors zur Promotion mit den Worten ablehnte: „Einen Doktortitel brauche ich nicht, außer für meine Eitelkeit!“ So sagt sie heute: „Ich mache diesen Job wirklich mit Begeisterung, sollte ich ihn morgen aber, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr haben, wird mich das weder finanziell noch emotional umbringen. Wie sagte schon mein Großvater: Lebe und arbeite immer so, dass du unabhängig bist.“

Auf der Hauptversammlung der Telekom am vergangenen Donnerstag überlässt sie die Show denn auch ohne mit den Wimpern zu zucken dem Vorstandsvorsitzenden. Timotheus Höttges hält – noch vor seiner eigentlichen Rede – eine Art Stand-up-Vortrag über das Engagement des Konzerns beim Breitbandausbau. Er spricht, einen magentafarbenen Bauhelm auf dem Kopf, vor einer eigens eingerichteten Baustelle über die Leistungsfähigkeit von Glasfasern („fast Lichtgeschwindigkeit“) und über „das mit 12,1 Milliarden Euro Investitionssumme größte Ausbauprogramm der Telekom“.

Nemat, deren Vortragsthema das inhaltlich als Technikchefin eigentlich gewesen wäre, sitzt stumm in der ersten Reihe auf dem Podium. Bei dem einen oder anderen erwähnten Superlativ im Vortrag („Wir sind der Hauptmotor der Digitalisierung der deutschen Wirtschaft“) lacht sie und schaut Beifall heischend ins Publikum.

Sie scheint Höttges den Auftritt zu gönnen. Die Zusammenarbeit von ihr und Höttges gilt als professionell. Sie eint das Ziel, die Telekom in die Zukunft zu führen. „Das Verhältnis von Höttges und Nemat scheint mir abgeklärt. Es ist keine Liebe, aber mehr als Vernunft“, sagt Sattelberger, einst Vorstandskollege von beiden bei der Telekom und dem Konzern immer noch eng verbunden.

Nemat hat zudem und schließlich seit 17 Monaten ein Schlüsselressort inne. Liefert sie Breitband und Innovationen, hat auch Höttges geliefert. Verkauft Höttges den Konzern gut wie in dieser Hauptversammlungsshow, steht auch sie glänzend da. Auf seinen Auftritt und ihre eigenen Ambitionen angesprochen erklärt sie: „Jetzt mache ich bei Technik und Innovation erst einmal den Unterschied! Und dann sehen wir weiter!“

Alles andere wäre auch unlogisch.