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Francis Fukuyama: „Die Art, wie wir denken, wird sich ändern“

Die Pandemie stellt die Welt vor epochale Herausforderungen. Demokratien könnten laut dem Politologen gestärkt aus der Krise hervorgehen. In den USA ist die Lage komplizierter.

Francis Fukuyama zögerte zunächst, als das Handelsblatt bei ihm anfragte, ob er in diesen Tagen ein großes Interview geben will. Die Coronakrise stellt für den Stanford-Politologen eine so große Zäsur dar, dass es ihm noch zu früh schien für große Schlussfolgerungen.

Nur in einem ist er sich sicher: „Diese Pandemie wird unsere Sicht auf die Dinge und die Art, wie wir über sie denken, grundlegend verändern.“ Und eine weitere Prognose wagt Fukuyama, der schon in jungen Jahren mit seinem Buch „Ende der Geschichte“ international für Furore sorgte: Es sind nicht die autokratischen Systeme wie China, die gestärkt aus dieser Krise hervorgehen könnten, sondern die Demokratien. Das einzige demokratische Land, das derzeit am wenigsten von dieser Offenheit und Kritikfähigkeit profitiert: die Vereinigten Staaten unter ihrem „paranoiden“ Präsidenten Donald Trump.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Herr Fukuyama, der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer spricht von einer „Menschheitskrise“, die IWF-Chefin Kristalina Georgiewa sieht die „dunkelste Stunde der Menschheit“, und der Philosoph Jürgen Habermas sagt, „so viel Wissen über unser Nichtwissen“ habe es nie zuvor gegeben. Sind wir überhaupt in der Lage, die Corona-Pandemie in ihrer Dimension zu erfassen?
Nein, wahrscheinlich nicht. Wie bei jeder größeren Krise blicken wir fassungslos auf die Ereignisse und versuchen zu verstehen. Meistens gelingt das aber erst Jahre später. So war es auch bei der Finanzkrise, die letztlich die Voraussetzung für den Aufstieg der Populisten rund um den Globus ermöglichte. Das Einzige, was wir jetzt schon sagen können: Es wird eine neue Ära beginnen. Diese Krise wird unsere Sicht auf die Dinge und die Art, wie wir über sie denken, grundlegend verändern.

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Das ist sehr allgemein. Könnten Sie das konkretisieren?
Das Augenfälligste wird der veränderte Blick auf die Globalisierung sein. Nach vielen Jahrzehnten der beschleunigten Globalisierung werden wir nun endgültig in eine lange Phase der Deglobalisierung eintreten.

Auch dieser Trend ist nicht neu. Bereits vor Ausbruch der Pandemie dominierten in vielen Ländern die Globalisierungskritiker.
Ja, aber der Trend, die zunehmend vernetzte Welt infrage zu stellen, wird sich beschleunigen. Ja, „America first“ in den USA hatte bereits in vielen Teilen der Welt seine Entsprechung, und die Tendenz zu Nationalismus, Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit gab es bereits in vielen Ländern. Jetzt, so scheint es, sind diese Bewegungen kaum noch aufzuhalten.

Sehen Sie auch positive Auswirkungen?
Durchaus: Wir wissen jetzt, wie wichtig ein gut ausgestattetes Gesundheitswesen ist. Wir wissen, dass ein entwickelter Sozialstaat notwendig ist, um die negativen Folgen solcher Krisen abzufedern. Und wir wissen, wie wichtig gut funktionierende staatliche Institutionen sind. Aber es ist noch zu früh, um eindeutige und große Schlussfolgerungen aus dieser Krise zu ziehen, aber es gibt jetzt schon erkennbare Muster.

Welche meinen Sie?
Wenn Sie sich die Reaktionen rund um die Welt anschauen, werden Sie feststellen, dass diejenigen Länder mit starken staatlichen Institutionen am besten durch die Krise kommen – Deutschland zum Beispiel oder auch Südkorea. Auf der anderen Seite gibt es Länder wie die USA, wo die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und der Politik eine effiziente Krisenbekämpfung sehr erschwert.

Die USA sind die großen Verlierer diese Krise?
Auch das würde ich so pauschal nicht sagen. Fakt ist aber: Das Krisenmanagement Donald Trumps war und ist desaströs. Der Präsident hat nur seine Wiederwahl im Sinn und spielte die Krise noch im März auf unverantwortliche Weise herunter. Wertvolle zwei Monate sind so im Kampf gegen die Pandemie verloren gegangen. Das ist ein Desaster, das das Vertrauen in staatliche Institutionen zerstört hat.

Trotzdem ist Trumps Popularität im März noch gestiegen. Was werden die Effekte auf die Wahl im November sein?
Der dramatische Wirtschaftseinbruch und der unglaubliche Anstieg der Arbeitslosigkeit machen eine Wiederwahl jedenfalls nicht wahrscheinlicher. Das ist der Grund, warum der Präsident sich zunehmend paranoid verhält. Es gibt viele kleine Anzeichen, dass die Demokraten durchaus Chancen haben, die Präsidentschaftswahl und sogar die Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses zu gewinnen. Das Problem ist: Auch das würde die tief greifenden Probleme des Landes nicht lösen.
Rund 35 Prozent der Bevölkerung werden nicht nur für Trump stimmen, sie verehren ihn geradezu und werden auch nach einer Niederlage der Überzeugung sein, dass er der größte und beste Präsident der amerikanischen Geschichte sei. Diese Leute werden nicht verschwinden, wenn die Demokraten gewinnen. Und auch die gefährliche Polarisierung wird mit Trump nicht aus dieser Gesellschaft verschwinden.

Gerade erst hat Trump zum Aufstand gegen demokratische Gouverneure etwa in Michigan aufgerufen, die sich gegen ein Ende des Lockdowns wehren. Was sagen Sie dazu?
Das ist empörend und zeigt, was für ein Staatsverständnis dieser Präsident hat. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben? Trump fürchtet wegen des Einbruchs der Wirtschaft um seine Wiederwahl und versucht zu retten, was zu retten ist. Möglicherweise wird er sogar mit solchen Aufrufen zum Aufstand bei seiner Klientel positive Effekte erzielen, mit Sicherheit aber werden es keine positiven Effekte für die Vereinigten Staaten sein.

Wird die Krise die Machtbalance zwischen den zwei verbleibenden Supermächten USA und China verändern?
Generell sehe ich die Zukunftsfähigkeit des chinesischen Systems eher skeptisch. Und ich glaube auch nicht an die angebliche Überlegenheit des chinesischen Staatskapitalismus in dieser Krise. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die für die Überlegenheit demokratischer Systeme gegenüber autokratischen sprechen, auch in dieser Pandemie.

Es sieht aber so aus, als käme China mit dieser Krise ganz gut zurecht, zumindest nimmt die Parteiführung für sich in Anspruch, sie überwunden zu haben ...
Ich habe da meine Zweifel. Gerade zu Beginn der Krise hat die KP große Fehler gemacht, und ich bin mir sicher, dass da noch so einiges enthüllt wird, etwa in der Frage, woher das Virus überhaupt kommt. Denken Sie an die Informationspolitik. Das ist ja eben der entscheidende Unterschied zu demokratischen Systemen. Dort ist es viel schwieriger, der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten. Dort müssen Politiker Rechenschaft ablegen, dort partizipieren die Bürger an der Entscheidungsfindung, es gibt mehr Kontrolle und vor allem auch ein größeres Korrekturpotenzial.

Man hat nicht den Eindruck, dass Sie gerade den demokratischen Prozess in den USA beschreiben.
Genau das ist das Problem. In den USA ist die Polarisierung derart fortgeschritten, dass diese grundsätzlichen Vorteile demokratischer und offener Systeme nicht zur Geltung kommen. Trump verhält sich wie ein autokratischer Führer chinesischer Prägung. Der Mangel an politischer Einheit oder, besser: der Mangel an Willen, politische Einigkeit herzustellen, schwächt das demokratische System. Es ist nicht die Demokratie an sich, die Lösungen in dieser Krise im Wege steht.

Also sehen Sie keinen Vorteil politischer Systeme, die schnell und effizient Maßnahmen ergreifen können, ohne Diskussionen über Legitimationsfragen oder die Verhältnismäßigkeit, wie wir sie derzeit überall in westlichen Demokratien erleben.
Nein, die Haupttrennlinie bei der wirksamen Krisenreaktion wird nicht die Autokratien auf der einen Seite und die Demokratien auf der anderen Seite platzieren. Vielmehr wird es einige leistungsstarke Autokratien geben und einige mit katastrophalen Folgen. Es wird eine ähnliche, wenn auch wahrscheinlich geringere Varianz der Ergebnisse zwischen den Demokratien geben. Die entscheidende Determinante für die Leistung wird nicht die Art des Regimes sein, sondern die Fähigkeit des Staates und vor allem das Vertrauen in die Regierung.

Ist es denn nicht tendenziell so, dass das Vertrauen in die Regierung in Demokratien größer ist oder, mehr noch, dass sie von dem Vertrauen abhängen?
Ersteres ist nicht zwingend gegeben. Und was übrigens die Effizienz der Politik angeht, da bin ich gar nicht so skeptisch. In Demokratien können Regierungen auf Ideen und Informationen von Bürgern und Zivilgesellschaften zurückgreifen, was China nicht kann. Und trotz aller Polarisierung in den USA und der derzeitigen Brüche des Föderalismus profitieren die USA von einem 50-Staaten-Labor für neue Ideen.

Die Chinesen dagegen profitieren davon, dass sie in vielen Teilen der Welt im Gegensatz zu den USA inzwischen als mildtätiger Partner wahrgenommen werden. Peking startet Corona-Hilfsinitiativen für Entwicklungsländer, aber auch in Europa, etwa in Italien. Sind das nicht Zeichen, dass das Land bereit ist, internationale Verantwortung zu übernehmen?
Ich bin weit davon entfernt, die USA zu verteidigen. Ich denke aber auch, dass die Chinesen eine geschickte PR betreiben und dass sie mit diesen Aktionen auch geopolitische Interessen verfolgen. Und Trump ist derjenige, der es ihnen dabei denkbar einfach macht. Der Präsident zerstört ja nicht nur intern Vertrauen, sondern auch das internationale Vertrauen in die Weltmacht – und das in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.

Auch Europa macht derzeit nicht gerade den Eindruck, als könne es die Lücke, die Amerika hinterlässt, füllen ...
Leider nein, Europa sieht schwach aus. Die Währungsreform ist in Gefahr, und sie ist nur eines der großen Probleme des Kontinents. Noch gravierender dürften die Konflikte um die Immigrationskrise werden. Der Druck wird in dieser unvergleichlichen Weltwirtschaftskrise, die ja auch Europas südliche und östliche Nachbarn hart trifft, zunehmen.

Manche vergleichen die ökonomischen Auswirkungen dieser Krise mit denen der Großen Depression Anfang der 1930er-Jahre. Sehen Sie das auch so?
Ich glaube sogar, dass es schlimmer werden könnte. So unklar die weitere Entwicklung der Pandemie ist, so klar ist schon jetzt, dass wir nicht zu einem Zustand, wie er vor der Krise war, zurückkehren können. Der große Unterschied zu der Great Depression. Anders als damals sind die Entwicklungs- und Schwellenländer in die globale Ökonomie integriert. Entsprechend groß sind die wirtschaftlichen Ansteckungseffekte und die damit einhergehenden Verwüstungen. Natürlich gab es schon immer schlimme Epidemien. 1918 etwa starben sechs Prozent der indischen Bevölkerung an einer Grippe. Doch diese epidemiologischen und ökonomischen Krisen waren noch recht isoliert. Jetzt trifft es alle Weltregionen – und zwar gleichzeitig.

Sowohl die Industriestaaten wie Schwellenländer werden sich in dieser Krise massiv verschulden. Wie soll die Weltwirtschaft damit fertig werden?
Das ist eine der großen Fragen. Die Schuldenstände waren ja schon vor Ausbruch der Pandemie wegen des Kampfs gegen die Finanzkrise teilweise auf historischen Höchstständen. Es wird uns wohl kaum etwas anderes übrig bleiben, als diese Lasten mit künftigen Generationen zu teilen.

Sie galten als einer der neoliberalen Vordenker in den USA. Was bleibt noch von dieser Ideologie nach dieser Krise?
Der Neoliberalismus war schon tot, bevor die Krise ausbrach. Dass die Rolle des Staats wichtiger ist, auch wichtiger sein sollte, als wir damals annahmen, ist spätestens seit der Finanzkrise klar. Unser größtes Problem ist heute die Unfähigkeit zu einer Politik, die auf einem rationalen Diskurs und wissenschaftlicher Erkenntnis basiert. Politik funktioniert zunehmend ideologisch, jeder sucht sich die angeblichen Fakten zusammen, die die eigene Ideologie bestätigen. Ich nenne das ein kognitives Vorurteil – und das ist bei Weitem kein amerikanisches Phänomen.

Bis auf wenige Länder wie Schweden verfolgen alle die gleiche Coronastrategie: Lockdown, Kontaktverbote und so weiter. Ein derartiges Experiment hat es noch nie gegeben. Was ist, wenn sich diese Strategie am Ende als globaler Irrtum erweist?
Sicher, die Gefahr ist ebenso groß wie die Unwissenheit über sie. Trotzdem glaube ich nicht an einen globalen Irrtum. Die Todesraten in Schweden steigen und sind um einiges höher als in den Nachbarländern. Ich glaube, dass die Mehrheit mit ihrer vorsichtigen Strategie richtig liegt.

Sind Sie als freiheitsliebender Denker überrascht, dass die Bürger die massive Einschränkung ihrer Grundrechte doch relativ geräuschlos hinnehmen?
Nein, das überrascht mich nicht. Die Menschen spüren, dass es sich um eine Notlage handelt. Aber natürlich wird die Debatte um eine Lockerung an Dynamik gewinnen. Und das ist auch gut so.

In Deutschland gibt es eine große Debatte darüber, ob nicht Technokraten, im jetzigen Fall die Virologen, zu sehr die Richtlinien der Politik bestimmen.
Auch das ist eine wichtige Debatte. Natürlich gibt es unterschiedliche Werte, die in politische Entscheidungen einfließen, also auch soziale und ökonomische. Der medizinische Aspekt ist ein weiterer, derzeit besonders wichtiger. Entscheidend ist aber, dass die Virologen überhaupt gehört werden, was ja nicht überall der Fall ist.

Zeichnet es nicht auch die Menschlichkeit unserer Gesellschaften aus, dass wir bereit sind, hohe ökonomische Schäden in Kauf zu nehmen, um das Leben einer begrenzten Zahl von Menschen, meistens sind es die Schwächeren, zu retten?
So ist es, zumindest in der Tendenz. Das befreit uns aber nicht von einer Güterabwägung und von einer ebenso notwendigen wie intensiven Debatte darüber, welche Öffnungen vertretbar sind. Vorsichtige Schritte, diese experimentell überprüfen und pragmatisch entscheiden – das macht die Demokratie aus.
Herr Fukuyama, vielen Dank für das Interview.