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Frühe Corona-Lockerungen – Die Lehren aus dem Georgia-Experiment

Vor vier Wochen hat der Gouverneur des US-Bundesstaats Georgia die meisten Corona-Beschränkungen aufgehoben. Die befürchtete Katastrophe ist bislang ausgeblieben.

Die 18-jährige Yasmine Protho, Absolventin der Chattahoochee Country High School, trägt eine Schutzmaske mit einem Porträt von sich selbst. Die Abschlussfeier kann nach der Lockerung der Corona-Regeln stattfinden, wenn auch mit Einschränkungen. Foto: dpa
Die 18-jährige Yasmine Protho, Absolventin der Chattahoochee Country High School, trägt eine Schutzmaske mit einem Porträt von sich selbst. Die Abschlussfeier kann nach der Lockerung der Corona-Regeln stattfinden, wenn auch mit Einschränkungen. Foto: dpa

Das ging selbst Donald Trump zu schnell. Als Brian Kemp Mitte April ankündigte, die meisten Corona-Beschränkungen in seinem Bundesstaat aufzuheben, kritisierte der US-Präsident den republikanischen Gouverneur von Georgia vor laufenden Fernsehkameras. „Es ist zu früh“, sagte Trump, „ich bin nicht glücklich über Gouverneur Kemp.“

Doch der ließ sich von seinem Plan nicht abbringen. Bereits seit dem 24. April dürfen in Georgia Friseure, Tattoostudios, Bowlingbahnen, Kinos und Massagesalons – mit Auflagen – wieder Kunden bedienen. Seit dem 27. April auch Restaurants. Und das, obwohl die regionalen Fallzahlen zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt gerade erst erreicht hatten.

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Georgia war damit die erste Region in den USA, ja in der gesamten westlichen Welt, die ihren Corona-Lockdown derart drastisch lockerte. Die meisten Experten prophezeiten damals einen erneuten starken Anstieg der Erkrankungen und Todesfälle in Georgia.

Vier Wochen sind seitdem vergangen. Zeit für eine erste Bilanz: Wie ist es Georgia ergangen? Und hält der Fall womöglich Lehren bereit für die große Debatte, die in Deutschland mittlerweile ebenso hitzig geführt wird wie in den USA: Wie stark und wie dauerhaft darf der Staat die persönliche Freiheit seiner Bürger einschränken, um das Virus zu bekämpfen?

Die von Experten befürchtete Corona-Katastrophe in Georgia ist bislang ausgeblieben. Laut dem regionalen Corona-Dashboard der Zeitung „Atlanta Journal-Constitution“ lag die Zahl der neu registrierten Corona-Fälle in Georgia am Mittwoch bei 946. Am 1. Mai, kurz nach dem Öffnungsbeschluss, waren es 1232 neue Fälle pro Tag.

Die Fallzahlen werden allerdings verzerrt durch die steigende Verfügbarkeit von Corona-Tests. Mehr Tests bedeuten auch mehr Fälle. Eine verlässlichere Indikation, ob sich eine zweite Welle der Epidemie anbahnt, liefert da die Zahl der Corona-Patienten, die derzeit im Krankenhaus behandelt werden. Am Mittwoch waren es in Georgia 959, am 1. Mai noch 1500 Patienten. Abgenommen hat auch die Zahl der Corona-Toten. Am 1. Mai waren es 33, am Mittwoch 22.

Die allmählich abnehmenden Zahlen sind das Ergebnis einer von Gesundheitsexperten geschätzten so genannten R-Rate, die in Georgia am 1. Mai mit 1,1 angegeben wurde und am 17. Mai bei 0,99 lag. Neuere Schätzungen liegen noch nicht vor. Die R-Rate gibt an, wie viele weitere Personen ein Corona-Infizierter im Schnitt ansteckt. Bei einem Wert unter eins geht die Zahl der Fälle langsam zurück. Bei einem Wert über eins steigt sie sprunghaft an.

Mehrere Erklärungen für das Ergebnis

Georgia hat die Epidemie also noch nicht besiegt, aber ist von ihr auch nicht überrollt worden. Dabei hatte Anthony Fauci, prominenter Epidemiologe in der Corona-Task-Force des Weißen Hauses, noch Mitte Mai zu Protokoll gegeben: Eine voreilige Lockerung der Corona-Beschränkungen werde „nicht nur zu unnötigem Leid und Tod führen, sondern uns auch in unserem Streben nach einer Rückkehr zur Normalität zurückwerfen“. Das war auch auf Gouverneur Kemp gemünzt.

Für das überraschend positive Ergebnis des Georgia-Experiments zirkulieren in den USA mehrere Erklärungen. Manche warnen, dass es schlicht zu früh sei für ein Urteil. Durch die lange Inkubationszeit von 14 Tage lasse es sich noch nicht ausschließen, dass sich das Virus derzeit wieder ausbreite – ohne dass dies in den Statistiken auftauche, die oft mit einigen Tagen Zeitverzug geführt werden.

„Wir müssen davon ausgehen, dass wir erst nach einem Monat oder zwei Monaten den Effekt der Öffnung sehen werden“, sagte Leana Wen, die frühere Leiterin der Gesundheitsbehörde von Baltimore, der „Washington Post“. Mit jedem weiteren Tag, der ohne deutlichen Anstieg der Fall- und Todeszahlen vergeht, nimmt die Kraft dieses Arguments jedoch ab. Auch in einzelnen Landkreisen oder Städten von Georgia zeichnen sich derzeit keine besonderen Seuchen-Hotspots ab.

Politische Gegner von Kemp unterstellen dem Gouverneur, dass er die Corona-Statistiken seines Bundesstaats schönen lasse. Tatsächlich gab Kemps Behörde für öffentliche Gesundheit eine Grafik heraus, die auf einen kontinuierlichen Rückgang der Neuinfektionen in den am schwersten betroffenen Bezirken Georgias hindeutete.

Allerdings wurden die täglich aktualisierten Daten nicht chronologisch aufgeführt. So kam die Zahl der Neuinfektionen vom 7. Mai direkt vor jenen vom 26. April, auf die wiederum Daten vom 3. Mai folgten. Wer nicht genau hinschaute, bekam den Eindruck, dass der Rückgang gleichmäßiger von statten ging, als es der Realität entsprach.

Ein Taschenspielertrick, der aber nichts am grundsätzlichen Bild ändert: Die Corona-Zahlen in Georgia stagnieren oder gehen leicht zurück. Was immer noch die Möglichkeit offenlässt, dass sie mit einem längeren Lockdown deutlich stärker gesunken wären.

Rechte Aktivisten wiederum sehen in Georgia den Beleg dafür, dass vor allem demokratisch regierte Bundestaaten die Gefahr durch das Virus viel zu dramatisch darstellten. Im Spätprogramm des konservativen Nachrichtensenders Fox News wird daraus dann schon mal eine angebliche Geheimstrategie der Demokraten, um das freie Unternehmertum zu zerstören.

Manche Virologen glauben, dass im subtropischen Georgia das warme Frühlingswetter geholfen habe, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Das gute Wetter mag tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Doch der wichtigste Einflussfaktor war sehr wahrscheinlich ein anderer: Dass die Bürger von Georgia sehr genau um die Gefahren des Virus wissen und sich entsprechend verantwortungsbewusst verhalten.

So boten Ende April viele Restaurants in Georgia weiterhin nur Essen zum Mitnehmen an und viele Geschäfte hatten weiterhin geschlossen. Laut Daten der Reservierungs-Website Opentable verzeichnen die Restaurants in Georgia weiterhin nur 15 Prozent der vor dem Lockdown üblichen Besucherzahlen. Die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta hatte zudem die Bürger im größten Ballungsraum des Bundesstaats aufgefordert, die Lockdown-Regeln freiwillig weiter einzuhalten.

„Die Bürger von Georgia sind klug“, hatte Kemp Ende April gesagt. „Sie sind unternehmerisch und innovativ und viele von ihnen haben Wege gefunden, um mit der Situation auf sichere Weise umzugehen.“ Nach dieser Lesart verhalten sich die Menschen in Georgia mehrheitlich schlicht vernünftig – ohne dass es ihnen die Regierung vorschreibt.

Demokratische Staaten öffnen langsamer

Inzwischen sind alle 50 US-Bundestaaten dem Beispiel Georgias gefolgt und haben zumindest einen Teil der Corona-Beschränkungen aufgehoben - obwohl in 17 von diesen Bundesstaaten die Corona-Fallzahlen in den vergangenen sieben Tagen weiter gestiegen sind.

Dabei zeigt sich eine klare politische Trennlinie: Wo demokratische Gouverneure das Sagen haben, sind im Schnitt noch deutlich mehr Regeln in Kraft als in republikanisch regierten Bundestaaten. Das liegt zum einen daran, dass Demokraten meist in städtisch geprägten Bundestaaten regieren und es dort auch die meisten Corona-Fälle gibt.

Doch es steckt auch ein Stück Weltanschauung hinter den Unterschieden. Demokraten plädieren eher dafür, Arbeitnehmer ein paar Wochen länger zu Hause bleiben zu lassen, als sie im Job einer Ansteckungsgefahr auszusetzen. Republikanern ist hingegen im Zweifel die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und das Überleben der Unternehmen wichtiger.

Ein Prognosemodell der Universität von Pennsylvania schätzt, dass in den USA bei anhaltendem Lockdown bis Ende Juli 157.000 Menschen am Coronavirus gestorben sein werden. Mit einer teilweisen Lockerung des Lockdown, wie sie jetzt viele Bundesstaaten praktizieren, kämen in diesem Zeitraum 15.000 Tote hinzu, und bei einer kompletten Aufhebung der Beschränkungen 73.000 Tote.

Bislang liegt die Zahl der Corona-Toten in den USA bei etwa 95.000. Doch die Experten von der University of Pennsylvania sagen auch: Wie sich der Öffnungskurs konkret in den Fall- und Todeszahlen niederschlägt, hängt entscheidend davon ab, ob die Bürger auch ohne staatliche Gebote an die grundlegenden Corona-Regeln halten, ob sie zum Beispiel freiwillig Masken tragen.

In Georgia ist das offenbar der Fall. In Texas, wo der republikanische Gouverneur Greg Abbott mit einigen Tagen Verzögerung einen ähnlich ambitionierten Öffnungskurs verfolgte wie sein Kollege Kemp, ist das Bild weniger klar. Wie Georgia erfüllte auch Texas nicht die Empfehlungen des Weißen Hauses, die vor ersten Lockerungen unter anderem einen kontinuierlichen, vierzehntägigen Rückgang der Fallzahlen vorsehen.

Vernunft und Freiwilligkeit

Seit Anfang Mai dürfen in Texas Kinos, Restaurants, Geschäfte und Museen wieder mit begrenzter Kapazität öffnen. Die Zahl der Corona-Fälle wie auch der -Toten in Texas stagniert seitdem oder steigt sogar leicht, je nachdem welchen Indikator und welche Zeitraum man betrachtet. Vor allem aber warnen Experten, dass sich in den Ballungsräumen Dallas/Fort Worth und Houston ein bedrohlicher Anstieg der Fallzahlen abzeichne.

Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob sich da in Teilen von Texas womöglich eine zweite Welle der Epidemie anbahnt. Doch der Fall zeigt: Was in Georgia geglückt zu sein scheint, muss nicht überall funktionieren.

Auch in Deutschland lohnt es sich, den weiteren Verlauf der Fallzahlen in Georgia und anderen US-Bundestaaten im Blick zu behalten. Denn zumindest nach derzeitigem Stand liefert das Georgia-Experiment ein Argument für all diejenigen, die beim Kampf gegen das Virus lieber auf Vernunft und Freiwilligkeit der Bürger setzen als auf staatlichen Zwang.