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Ex-Innenminister Baum – „Die Freiheit in Russland stirbt scheibchenweise“

Als Minister unter Bundeskanzler Willy Brandt und Innenminister im Kabinett der Regierung Helmut Schmidt hat der 86-jährige Gerhart Baum die Ostpolitik während des kalten Krieges und den Helsinki-Prozess aktiv mitgestaltet. Nun ist der gelernte Rechtsanwalt in Moskau zu Gast bei einem Symposium. Im Interview erklärt der Altliberale seine Sorge um die Entwicklung der russischen Außenpolitik und die negativen Folgen für die Zivilgesellschaft.

Derzeit ist Frankreichs Premier Emmanuel Macron in St. Petersburg bei Wladimir Putin. Es sieht aus, als wolle er die Wiederannäherung zwischen Russland und dem Westen erreichen. Sie haben damals als Minister der Brandt-Regierung eine neue Ostpolitik mitgestaltet. Wie schätzen Sie denn den Kurs ein, den die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gegenüber Russland gefahren ist?

Die damalige Ostpolitik ist mit heute nur schwer zu vergleichen. Wir haben die Beendigung des Kalten Krieges erreicht, also die Anerkennung der Grenzen und der DDR. Das hat unsere Gesellschaft zu jener Zeit zutiefst erschüttert. Die Russlandpolitik ist heute polarisierend – aber damals war sie es wohl noch mehr. Leute haben mich auf der Straße bespuckt. Es gab tiefe Ressentiments. Deutschland gibt sich auf und ergibt sich den Kommunisten, hieß es. Wir mussten uns damals wandeln, wir mussten die Fakten des Krieges anerkennen und es gab starke revanchistische Strömungen in Deutschland: Flüchtlingsverbände forderten etwa die Rückgabe der Ostgebiete.

Ich finde, Frau Merkel hat sich gut verhalten. Sie hat einen großen Anteil am Zustandekommen des Minsk-Abkommens. Sie hat ein besonderes Verhältnis zu Putin, aber sie hat nicht der Verführung nachgegeben, die transatlantischen Beziehungen durch eine neue Achse zu Moskau zu ersetzen.

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Sehen Sie einen Lösungsansatz in der Ostukraine? Das Minsker Abkommen ist 2015 verabschiedet worden. Doch von der Umsetzung sind wir noch weit entfernt. Wie kommen wir weiter?
Als einen wichtigen Schritt sehe ich die Einsetzung einer UN-Truppe im Donbass-Gebiet an. Aber grundsätzlich müssen wir die Ukraine stabilisieren, denn eins ist klar: Putin wird die Ukraine weiter destabilisieren, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet. Das Land ist in seinen Augen ein Ärgernis.

Brauchen wir nicht auch mehr Dialog mit Russland?
Ich bin erstaunt, dass ständig mehr Dialog gefordert wird. Sigmar Gabriel war fast ununterbrochen in Russland. Was mich beunruhigt, ist die komplette Abwendung der russischen Führung vom Westen. Sie geht ihren eigenen Weg mit allen auch uns betreffenden Unruhe stiftenden Aktivitäten: Desinformation oder versuchte Teilung Europas mit der Finanzierung der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen. Die russische Regierung zeigt sich nach Außen aggressiv, was jetzt gestoppt ist, und der Unterdrückung nach innen. Bei meinen Kontakten mit der Zivilgesellschaft hier in Russland habe ich zudem festgestellt: Die Freiheit stirbt scheibchenweise.

Ihre Einschätzung steht interessanterweise konträr zu der Meinung, die zuletzt von Teilen der deutschen Regierung geäußert wurde. Da hieß es, die Lage habe sich im Vergleich zu 2014 wieder leicht entspannt.
Ich weiß nicht, wie diese Einschätzung zustande kommt. Allein die Zulassung zur Wahl wird immer weiter erschwert. Die Bedingungen, unter denen NGOs arbeiten, werden auch immer problematischer. Memorial (Menschenrechtsorganisation, die sich für die historische Aufarbeitung der russischen Gewaltherrschaft einsetzt, Anm. d. Red.) steckt in einer schwierigen Lage. Als ich vor zwei Jahren im Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg eine Rede gehalten habe, wurde anschließend Memorial, weil die ebenfalls Einladungen zur Veranstaltung verschickt hatten, zu einer Strafe von 13.000 Euro verurteilt. Der Grund: Sie hätten sich nicht als ausländische Agenten gekennzeichnet. Politische Gegner werden zunehmend kriminalisiert. Das Antiterrorgesetz ist ein Instrument, das gegen Gegner angewandt wird. Was ich von meinen Gesprächspartnern auch immer wieder höre, ist die Willkür, der sie ausgesetzt sind. Heute ist plötzlich etwas erlaubt, was morgen schon wieder verboten ist.

Wie schätzen Sie die Situation der Meinungsfreiheit ein?
Es gibt eine Nebenöffentlichkeit im Netz. Aber die Meinungsfreiheit ist kümmerlich ausgeprägt und wird immer weiter eingeschränkt. In den 90er Jahren habe ich mal einen Mann auf dem Roten Platz gesehen, der geschrien hat: „Jelzin ist ein Verbrecher!“. Versuchen Sie das mal heute, schreien sie: „Medwedew ist korrupt!“ Menschen, die mit dem Regime öffentlich nicht einverstanden sind, werden bedroht.

Wenn die Bundesregierung dieses Thema anspricht, ist das dann nicht eher ein Aneinandervorbeireden als ein Dialog?
Das ist absolut typisch für viele Staaten der Welt. Ich war sechs Jahre lang Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung bei der UN und habe viele Länder bereist. Es ist überall das Gleiche. Man bringt die Frage auf, der Gegenüber sagt: Das ist nicht so. Im Iran wurde mir beispielsweise gesagt, die Verfolgten seien keine Regimegegner, sondern alles Drogenhändler. Es wird alles bestritten, trotzdem hinterlässt es einen gewissen Eindruck. Es muss also angesprochen werden. Schon unsere Verfassung gebietet uns, uns weltweit für Menschenrechte einzusetzen. Wir können keine Außenpolitik machen, die die Menschenrechte vernachlässigt.

Ist das laute Ansprechen denn die beste Taktik?
Manche Dinge sind erfolgreicher, wenn sie nicht öffentlich gemacht werden. Die Freilassung politischer Gefangener funktioniert im Stillen besser, das war zum Beispiel bei Michail Chodorkowski so, an dessen Entlassung Hans-Dietrich Genscher beteiligt war. Aber wir würden unsere Würde verlieren, wenn wir negieren, was hier passiert. Eine Gesellschaft, die keine Meinungsfreiheit hat, ist auch aggressiv. Die können Sie verführen. Wer weiß, wozu die hiesige Gesellschaft noch verführt wird.

Putin verweist im Streit mit dem Westen immer darauf, dass es ähnliche Missstände auch dort gebe, sei es Guantanamo oder die Verfolgung von Journalisten in der Ukraine.
Mit dem Finger auf andere zu zeigen, um das eigene Unrecht zu relativieren, geht nicht. Der Vorwurf, Menschenrechte würden instrumentalisiert, stammt von denen, die nicht gern an deren Einhaltung erinnert werden. Sie diskreditieren Menschenrechte als ein Instrument der Einmischung von außen, weil sie die Macht behalten wollen. Ich will keine anderen Länder bevormunden, aber ich kämpfe für die Freiheit von Einzelnen und das mache ich überall – auch in Deutschland. Dort kämpfe ich gegen polizeistaatliche Entwicklungen. Aber wir leben in einem freien Land, in dem wir das offen können. Das ist der Unterschied.

Herr Baum, vielen Dank für das Interview.