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„Die Folgen für die Unabhängigkeit der EZB machen mir große Sorgen“

Vitor Constâncio, einst Stellvertreter von Mario Draghi, fürchtet nach dem Karlsruher Urteil zu den Anleihekäufen deutliche Einschränkungen für die Geldpolitik in Europa.

Der langjährige Vizechef der Europäischen Zentralbank, Vítor Constâncio, sieht durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der EZB die Unabhängigkeit der Notenbank in Gefahr. „Was mir große Sorgen bereitet, sind die Folgen für die Unabhängigkeit der EZB,“ sagte er im Interview dem Handelsblatt. Wenn die EZB den Urteilen nationaler Gerichte unterliegen würde, „könnte das die Geldpolitik massiv einschränken.“

Bei Themen der Geldpolitik, die von den Mitgliedsstaaten auf die europäische Ebene delegiert worden seien, müsse der Europäische Gerichtshof das letzte Wort haben. „Sonst kommen wir in eine unmögliche Situation, wo jeder nationale Gerichtshof das europäische Recht so interpretiert, wie es ihm gerade passt.“

Das Bundesverfassungsgericht hatte die billionenschweren Anleihekäufe der EZB in der vergangenen Woche als teilweise verfassungswidrig eingestuft und erklärt, der EZB-Rat müsse nun in den nächsten drei Monaten zeigen, dass das Kaufprogramm verhältnismäßig sei. Ansonsten ist es nach dem Karlsruher Urteil der Bundesbank untersagt an den Käufen teilzunehmen. „Da das Bundesverfassungsgericht nicht für die EZB zuständig ist, gehe ich davon aus, dass sie die Bundesbank anweisen wird, die geforderten Dokumente zu liefern,“ sagte Constâncio.

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Zudem fordert er, dass sich die EU-Kommission einschaltet. „Wenn die Bundesbank dazu gezwungen werden sollte, aus den Anleihekaufprogrammen auszusteigen, muss sie ein Verfahren zur Durchsetzung des Europäischen Rechts anstoßen.“

Angesichts der Corona-Pandemie erwartet Constancio in diesem Jahr einen Einbruch der Wirtschaft im Euro-Raum um zwölf Prozent. Das werde sich entsprechend auf die Haushaltslage der Euro-Länder auswirken. „Die Haushaltsdefizite werden explodieren.“ Der langjährige Vizechef der EZB geht davon aus, dass die Verschuldung im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Euro-Raum im laufenden Jahr auf über 100 Prozent, in Deutschland auf gut 70 Prozent und in Italien auf rund 160 Prozent steigt. „Das sind Zahlen wie in einem Krieg.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Constâncio, das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Anleihekäufe der EZB teilweise verfassungswidrig sind. Wie bewerten Sie die Entscheidung?
Das Urteil ist aus meiner Sicht sehr problematisch. Bei Themen der Geldpolitik, die von den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene delegiert wurden, muss der Europäische Gerichtshof das letzte Wort haben. Sonst kommen wir in eine unmögliche Situation, wo jeder nationale Gerichtshof das europäische Recht so interpretiert, wie es ihm gerade passt.

Das Verfassungsgericht äußert Zweifel, ob die Anleihekäufe der EZB verhältnismäßig sind.
Im EU-Vertrag ist Verhältnismäßigkeit so definiert, dass Maßnahmen nicht über das zum Erreichen der vertraglichen Ziele erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Das Mandat der EZB ist Preisstabilität in Form einer Inflation von unter, aber nahe zwei Prozent. Trotz aller geldpolitischen Maßnahmen war es der EZB in den vergangenen Jahren nicht möglich, dieses Ziel zu erreichen. Ihr Handeln kann deshalb nicht unverhältnismäßig sein.

Das sehen die Karlsruher Richter anders. Sie fordern eine Abwägung der Wirkung der Maßnahmen und ihren Folgen für Sparer, Mieter und Aktionäre.
Natürlich analysiert die EZB ständig die verschiedenen Effekte ihrer Politik. Das sollte jedem klar sein, der ihre Publikationen liest. In den EU-Verträgen ist aber ganz bewusst die Priorität des Ziels der Preisstabilität vorgesehen, alles andere ist zweitrangig. Dass ausgerechnet das oberste deutsche Gericht diese Priorität letztlich infrage stellt, indem es eine Abwägung fordert, ist sehr merkwürdig.

Laut dem Urteil soll die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihekaufprogramme darlegen. Welche praktischen Folgen hat das Urteil?
Da das Bundesverfassungsgericht nicht für die EZB zuständig ist, gehe ich davon aus, dass sie die Bundesbank anweisen wird, die geforderten Dokumente zu liefern. Was mir große Sorgen bereitet, sind die Folgen für die Unabhängigkeit der EZB. Wenn sie den Urteilen nationaler Gerichte unterliegen würde, könnte das die Geldpolitik massiv einschränken. Außerdem sorgt das Urteil für Unsicherheit über das neue Anleihekaufprogramm (PEPP) der EZB in der Coronakrise.

Dieses war nicht Teil des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Allerdings haben die Richter Prinzipien wie die Bindung der Anleihekäufe an den Kapitalschlüssel stark betont. Dagegen hat die EZB bei dem neuen Programm die Flexibilität signalisiert, davon abzuweichen. Ist das Kaufprogramm dadurch in Gefahr?
Nicht unmittelbar, aber es ist absehbar, dass es weitere Klagen und viele neue Gerichtsverfahren geben wird. Das schwächt seine Glaubwürdigkeit. Wenn die Bundesbank nicht mehr an den Käufen teilnehmen darf, wäre das ein großes Problem.

Was würde dann passieren?
Aus meiner Sicht muss sich hier die EU-Kommission einschalten in ihrer Rolle als Hüterin der EU-Verträge. Sie sollte den Europäischen Gerichtshof unterstützen. Wenn die Bundesbank dazu gezwungen werden sollte, aus den Anleihekaufprogrammen auszusteigen, muss sie ein Verfahren zur Durchsetzung des europäischen Rechts anstoßen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kommt mitten in einer historischen Krise. Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Wirtschaft im Euro-Raum ein?
Der Internationale Währungsfonds geht von einem Einbruch um 7,5 Prozent im laufenden Jahr aus. Ich rechne eher mit rund zwölf Prozent minus. Denn es wird in einigen Ländern neue Infektionswellen geben, wenn sie jeweils geöffnet werden. Zum Vergleich: In der Weltwirtschaftskrise 1929 ist in ganz Europa die Wirtschaft um sieben Prozent geschrumpft, in Deutschland allerdings um knapp 16 Prozent. Und 2009 lag der Rückgang in der Euro-Zone bei 4,5 Prozent.

Die Regierungen kämpfen mit neuen Schulden dagegen an. Wie weit kann das gehen?
Die Haushaltsdefizite werden explodieren. Die Verschuldung im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte aus heutiger Sicht allein im laufenden Jahr im Euro-Raum auf über 100 Prozent, in Deutschland auf gut 70 Prozent und in Italien auf rund 160 Prozent steigen. Das sind Zahlen wie in einem Krieg.

Zerreißt das den Euro-Raum?
Der Stabilitätspakt wird weiter außer Kraft gesetzt, und man wird ihn überarbeiten müssen. Die politischen Entwicklungen, die damit zusammenhängen, sind ein Test für unsere Institutionen. Die Europäische Währungsunion wird aber nicht zerbrechen.

Kann die EZB wieder einmal den Euro-Raum zusammenhalten?
Auch eine europäische Finanzpolitik wird nötig sein. Dennoch werden die großen Notenbanken meiner Einschätzung nach noch bis ins Jahr 2021 mit Anleihekäufen an den Kapitalmärkten präsent sein. Danach müssen sie wahrscheinlich etwa drei bis fünf Jahre ihre Bilanzen konstant halten, bevor sie an den Abbau denken können.

Die US-Notenbank (Fed) hat viel mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt als die EZB. Besteht da in Europa Nachholbedarf?
So würde ich das nicht sehen. Der Unterschied liegt in der Struktur des Finanzsystems. Die USA sind stärker von den Kapitalmärkten abhängig, deswegen musste die Fed dort in größerem Stil intervenieren.

Können die Notenbanken in der heutigen Situation überhaupt unabhängig von den Regierungen bleiben?
Unabhängig schon, aber es braucht eine implizite Koordination von Geld- und Finanzpolitik.

Sollte die EZB verstärkt auch Anleihen mit niedriger Bonität kaufen?
Bei Anleihen des Privatsektors halte ich das nicht für nötig. Aber allgemein gesprochen: Wir sollten uns nicht zu Sklaven der Ratingagenturen machen. Diese Forderung hat ja auch der Financial Stability Board gestellt, in dem die weltweit führenden Finanzaufseher und Notenbanker zusammengeschlossen sind. Die Ratingagenturen haben - vor allem, was staatliche Finanzen angeht - keine ausreichende Kompetenz.

Aber ganz konkret – was passiert, wenn Italien mit steigenden Schulden sein Rating als Investment-Grade, also eine gute Bonität, verliert?
Standard & Poor’s hat gerade das Italien-Rating mit Hinweis auf die Käufe der EZB im Investment-Grade-Bereich beibehalten. Aber klar: Europa – und das schließt Italien ein – muss alles tun, was in der Krise notwendig ist. Deutschland muss bereit sein, rote Linien zu überschreiten, was den Stabilitätspakt und Verschuldungskriterien angeht.

Aber diese Kriterien sind ja einst aus gutem Grund eingeführt worden.
Diese Krise ist anders als frühere. Sie ist nicht durch verfehlte Politik einzelner Länder, sondern durch eine Naturkatastrophe verursacht. Daher sollte die Verschuldung 2020 und 2021 außerhalb der Kriterien des Pakts gerechnet werden.

Die Euro-Länder tun sich schwer, eine gemeinsame Strategie zu finden. Was schlagen Sie vor?
Langfristig brauchen wir einen angemessenen Haushalt auf europäischer Ebene. Wir sehen gerade in der Krise, wie sehr das fehlt. Aber jetzt kommt es darauf an, eine kurzfristige Lösung zu finden, um die Erholung nach der Krise zu unterstützen, die voraussichtlich schleppend anläuft. Außerdem brauchen wir einen Schutz für hochverschuldete Länder gegen spekulative Attacken auf deren Staatsanleihen.

Wer kann so etwas leisten?
Die EU-Kommission könnte Anleihen mit sehr langer Laufzeit ausgeben, etwa 25 Jahren. Das Geld sollte dann über einen Aufbaufonds (Recovery Fund) als Transferzahlung an einzelne EU-Länder fließen. Es kann zum Beispiel genutzt werden, um Infrastruktur, Forschung und Entwicklung oder die Kosten von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit zu finanzieren.

An welches Volumen denken Sie, und wer soll das finanzieren?
Die Erfahrung zeigt: Schnell und groß hilft besser als zu spät und dann am Ende noch größer. Möglich wären zum Beispiel je 400 Milliarden Euro für 2020 und 2021. Davon jeweils 100 Milliarden für europäische Projekte und der Rest für die einzelnen Länder. Bei den niedrigen Zinsen heute könnten die Länder die Finanzierungskosten für diesen Fonds tragen, sie würden anfänglich jährlich bei vielleicht 0,3 Prozent des BIP liegen und dann sinken.

Was hielten Sie davon, immerwährende Anleihen auszugeben?
Eine attraktive Idee. Aber wenn die EZB Anleihen kauft, die nie zurückbezahlt werden müssen, werden einige Juristen das als monetäre Staatsfinanzierung einstufen. Die EZB könnte sie nicht kaufen, das würde es schwerer machen, sie zu platzieren.

Könnten die von Ihnen vorgeschlagenen Bonds der EU-Kommission auch die Rolle von Wertpapieren annehmen, die an den Märkten als absolut sicher gelten, also als sogenannte Safe Assets? Daran gibt es ja einen Mangel im Euro-Raum.
Diese Bonds wären sicher Safe Assets. Aber um dem Euro eine größere internationale Geltung zu verschaffen, reicht das Volumen von 800 Milliarden nicht aus. Es gibt ein anderes Konzept, mit dem man rund vier Billionen Euro an sicheren Anleihen schaffen könnte – ohne Schulden zu vergemeinschaften.

Und das wäre?
Eine europäische Institution würde Anleihen bis zu 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Euro-Währungsgebiets ausgeben. Das geliehene Geld würde dann in Form von Darlehen an die Länder weitergegeben. Diese Anleihen würden dann rechtlich im Rang allen verbleibenden Schulden vorgezogen. Durch diesen Vorrangstatus würden die ausgegebenen Anleihen zu einem Safe Asset ohne Vergemeinschaftung, was den nördlichen Ländern gefallen dürfte. Sie könnten auch von den Banken gekauft werden, die dann nicht mehr so viele Staatsanleihen ihrer Heimatländer kaufen müssten.

Den Vorschlag haben Sie 2018 schon einmal in einem Interview mit uns gemacht. Aber hätten hochverschuldete Länder dann nicht Sorgen, dass ihre nachrangigen Anleihen keine Abnehmer mehr finden?
Die Renditen der nachrangigen Anleihen wären etwas höher, aber die Renditen der neu geschaffenen vorrangigen Anleihen dafür besonders niedrig. Die etwas höheren Kosten für nachrangige Anleihen wären ein Anreiz, sich nicht stärker als nötig zu verschulden.

Das klingt nach einer komplizierten Konzeption. Braucht die Euro-Zone das wirklich?
Banken könnten verpflichtet werden, diese sicheren Wertpapiere zu kaufen, nicht nur die der eigenen Regierung. Diese enge Verbindung der Risiken im staatlichen Sektor und im Finanzsektor in den einzelnen Staaten ist ja ein bedeutendes Problem. Außerdem würde die Schaffung eines tieferen Kapitalmarkts von vier Billionen Euro ein Zeichen setzen: Der Euro bleibt für immer. Es würde auch die internationale Rolle der Währung stärken.

Und damit die Vormacht des Dollars schwächen. Wäre das ein Gewinn für die Weltwirtschaft?
Ich sehe zwei Probleme in der Dominanz des Dollars. Bei jeder Krise ist er besonders gefragt, wertet dadurch auf und belastet so die Schwellenländer. Außerdem wird es schwierig, wenn die globale Liquiditätsversorgung von einem einzigen Land abhängt, dessen Gewicht in der Weltwirtschaft abnimmt. Wir brauchen langfristig mehrere Währungen mit internationaler Geltung.

Kommen wir noch einmal zurück zu den Folgen der Krise: Hohe Schuldenstände, riesige Notenbankbilanzen – wie sollen wir da einer Inflation entgehen?
In Japan entspricht die Bilanz der Notenbank mehr als 100 Prozent des BIP, und es ist keine Inflation in Sicht. Die traditionelle monetaristische Theorie funktioniert im neuen Finanzsystem nicht mehr. Es ist keine Inflation zu erwarten in den nächsten zwei bis drei Jahren.

Aber wie sieht es nach der Krise aus?
Die Erholung wird zunächst schleppend sein. Die Erfahrung zeigt, dass nach jeder Krise zunächst gespart wird, bevor die Leute wieder Geld ausgeben. Nach einer Weile, wenn das Wachstum wieder anzieht, könnte die Inflation auf ein Niveau nahe dem Ziel von knapp zwei Prozent ansteigen. Wenn die Wachstumsrate der Wirtschaft höher ist als der Zins, dann werden die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung schrittweise sinken. Und dann können die Notenbanken vorsichtig ihre Bestände an Staatsanleihen abbauen.

Herr Constâncio, vielen Dank für das Interview.