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Wie der Eurotunnel auf den Brexit vorbereitet wird

In Calais macht sich der Betreiber des Kanaltunnels bereit für einen möglichen Austritt der Briten aus der EU. Jede kleine Verzögerung könnte Einbußen bedeuten.

Der Feind hat kein Gesicht und keinen Namen. 2.500 Mitarbeiter der Eurotunnel-Betreibergesellschaft sind ihm auf der Spur, hier auf dem Gelände bei Calais. Einem Gelände, das so groß ist wie der Flughafen von Paris-Orly. Sie suchen auch auf der anderen Seite des Kanaltunnels und in den 50 Kilometer langen Röhren. 5.000 Lastwagen pro Tag zischen auf den 800 Meter langen Shuttle-Zügen durch.

Der Feind heißt Verzögerung: Nichts bedroht das Unternehmen Eurotunnel so sehr wie Staus und Wartezeiten. Wer das hektische Treiben an den Terminals in Calais beobachtet, der kann sich eine Vorstellung davon machen, welches Chaos hier am Tag X herrschen könnte. Jenem Tag, an dem Großbritannien die Europäische Union verlässt – ohne Vertrag.

„Wir wollen in wenigen Minuten die Sicherheitskontrollen und die Zollformalitäten erledigen, so dass es keine Verzögerungen gibt“, sagt François Gauthey, Vizechef von Eurotunnel. Für das Unternehmen hinter der Eisenbahnröhre reduziert sich der Brexit auf diese eine Frage: Können sie vermeiden, dass Tausende Sattelschlepper künftig deutlich länger auf den Terminals in Calais und Folkestone stehen müssen?

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Fast ein Drittel des Handels zwischen Großbritannien und dem Kontinent fließt durch die beiden Tunnelröhren, durch die bei Tag und Nacht die Shuttlezüge rasen. Und es sind die besonders zeitkritischen Produkte, die auf diesem Weg transportiert werden. Stauen sich die Lastwagen wegen Zollkontrollen, bedeutet das weniger Züge, weniger Waren, weniger Wachstum. Aber auch: eine existenzielle Gefahr für Eurotunnel. Denn die Fähren, der Konkurrent, sind 30 Prozent billiger.

Großkunden wie Amazon, der vom Lager auf der britischen Insel aus per Tunnel seine Logistikzentren in ganz Europa beliefert, „waren schon mehrfach hier bei uns, um sich anzuschauen, wie gut wir vorbereitet sind“, sagt Gauthey. Wird der Transport durch den Tunnel zu langsam, dann sieht Amazon sich nach Alternativen um.

Calais als harte Grenze

Damit Eurotunnel empfindliche Einbußen vermeiden kann, müssen möglichst viele Lastwagen „grün“ sein. Grün bedeutet: In maximal acht Minuten wird ein Pulk von 20 Lkws in der „Pitstop“ genannten Abfertigungshalle mit Hunden auf blinde Passagiere und Drogen kontrolliert, werden die Nummernschilder eingescannt und die Ladepapiere geprüft. Alles muss stimmen.

Was wir sehen, ist noch ein Probelauf, aber dem haftet nichts Leichtes an. Es ist die Simulation vor dem bitteren Ernst: Schon am 1. November könnte Calais die harte Grenze zwischen EU und Großbritannien werden. Eurotunnel will als Weichmacher wirken: „Smart Border“ ist das Konzept, das selbst den harten Brexit besänftigen soll.

Denn die Wirtschaft hasst Grenzen, sie stehen der Belieferung in Echtzeit im Wege. Auch der härteste Brexiteer möchte seine Medikamente aus Frankreich, seine Autoteile aus Deutschland und seine Orangen aus Spanien beziehen. 70 Prozent von dem, was sie essen und trinken, importieren die Briten. „Damit das künftig klappt, müssen alle spuren: Spediteure, Verlader, der Zoll und wir“, sagt Manager Gauthey.

Während wir in der Pitstop-Halle stehen, tritt Fall Orange ein. Einer der wuseligen Schnüffelhunde hat angeschlagen, ein roter Sattelschlepper aus Tschechien, der bis zur Oberkante mit BMW-Teilen für die Insel beladen ist, wird rausgewinkt. Über eine Gangway klettern vier Polizisten auf das Dach, rollen die Plane zurück, dann kommen nach und nach neun Eritreer zum Vorschein. Ihr Traum von einem neuen Leben in Großbritannien endet an diesem kalten Tag in Calais.

Für den Fahrer ist es ärgerlich, mindestens den nächsten Zug wird er verpassen. Die 19 anderen Laster preschen los wie bei einem Formel-1-Start, wollen sich die besten Plätze auf den flachen Waggons sichern.

Während der Flüchtlingskrise von Juni bis Dezember 2015 versuchten 82.000 Personen, auf einen der Züge durch den Kanaltunnel zu klettern. Der Verkehr drohte zum Erliegen zu kommen. Schlimmer noch: Zehn Menschen starben.

Deshalb wurde das Gelände zur Festung ausgebaut und erinnert heute an die DDR-Grenze: drei Meter hohe, mehrfach gestaffelte Zäune mit elektrisch geladenen Kabeln, die jede Bewegung melden. Insgesamt ergibt das 40 Kilometer Hochsicherheitsbarrieren. 600 Kameras halten den Terminal im Blick, zwei Drohnen kreisen. Im Sicherheitszentrum sitzen sechs Gendarmen vor 70 Monitoren. „Wir haben bis zu 1 500 Alarme pro Nacht“, sagt Oberst Schmittlin. „Aber niemand gelangt mehr auf das Gelände.“

Beim zweiten Pulk, der in unserer Anwesenheit in die Halle fährt, geht alles glatt. Die gleiche Anlage existiert auf der anderen Seite, in Folkestone. Dort werden die Fahrzeuge kontrolliert, die von England nach Frankreich fahren.

Vier Stockwerke über dem Gelände in Calais sitzen acht Mitarbeiter im Kontrollraum, blicken auf Bildschirme, auf denen sie die Bewegungen der Lastwagen vor und die der Züge in den Tunnelröhren verfolgen können. Im Radio läuft ein alter Hit von Pink Floyd: „We don’t need no education, we don’t need no thought control.“ Doch hier braucht man vor allem eins: lückenlose Kontrolle, permanent.

Im Schnitt fahren fünf Züge pro Stunde durch jede der beiden Verbindungen 60 Meter unter der Meeresoberfläche. Wie Würmer kriechen sie als Pixelkette über die Displays. Ausgerechnet hier, wo man sich auf die politische und wirtschaftliche Trennung Großbritanniens vom Kontinent vorbereitet, zeigen die beiden Länder sich besonders gut verbunden. Franzosen arbeiten Seite an Seite mit Briten, Englisch und Französisch schwirren durch den Raum. Europa funktioniert.

Doch manchen zerreißt es das Herz, wenn sie an die bevorstehende Trennung denken. Die Schottin Kirsten McCallum arbeitet ein Stockwerk höher im Strategieraum. Sie überwacht, ob die geplante Zugfrequenz mit der aktuell benötigten übereinstimmt. Sie wohnt seit ein paar Jahren auf der französischen Seite von „la manche“, wie der Ärmelkanal in unserem Nachbarland heißt. „Deshalb durfte ich beim Brexit-Referendum nicht einmal mitstimmen“, äußert sie zornig. Politik ist tabu bei Eurotunnel, aber wie Kirsten abgestimmt hätte, können wir uns vorstellen.

Modell für irische Grenze?

Wenigstens müssen die Eurotunnel-Mitarbeiter, die als Franzosen oder Briten jenseits der Heimat arbeiten, nicht um ihre Aufenthaltsgenehmigung fürchten: Eurotunnel hat bereits eine Ausnahmegenehmigung für sie erhalten. Es ist nicht die einzige. Eigentlich müssen alle frischen Lebensmittel veterinärrechtlich an der Grenze kontrolliert werden.

Eurotunnel hat erreicht, dass frische Fische bis nach Boulogne gefahren werden dürfen, dort ist das größte Verarbeitungszentrum Frankreichs. Die Kontrolle wurde ausgelagert. Wenn die EU will, kann sie sehr flexibel sein. Wäre das System Calais-Boulogne ein Vorbild für die irische Grenze?

Das ist eine politische Frage, auf die gibt es keine klare Antwort. Aber Vizechef Gauthey sagt immerhin: „Wir bauen eine Grenze, von der man nicht sieht, dass sie existiert.“ Die Briten verzichten auf Kontrollen, wie sie ohnehin künftig den Europäern die Arbeit überlassen: Sie vertrauen darauf, dass die europäischen Normen in Ordnung sind. Wenn das die Anhänger britischer Souveränität wüssten! Rule Britannia? Null Britannia!

Wir fahren zum Tunneleingang. Die beiden großen Röhren sind optisch als Linsen eines überdimensionalen Fernglases gestaltet, das ein Mädchen an seine Augen drückt. Ein feines Sirren klingt von den Schienen her, dann kommt ein tiefes Grollen aus dem Tunnel, schnellt ein Zug aus der Öffnung.

Eine der stärksten Lokomotiven der Welt zieht 800 Meter Waggons mit Rohstahl aus Großbritannien. Der Tunnel spart jährlich Millionen Tonnen an CO2 im Vergleich zu den Fähren, die auch noch doppelt so lange für die Überfahrt brauchen.

Stahltüren schützen den Servicetunnel

Die Getlink-Mitarbeiter führen uns zu einem der sensibelsten Teile der Anlage, dem Servicetunnel. Besucher dürfen normalerweise hier nicht rein. Mehrere Tonnen schwere Stahltüren schützen das Bauwerk. Wie die beiden Hauptröhren ist der Servicetunnel insgesamt 50 Kilometer lang. Im Ernstfall können Fahrgäste durch diese Röhre in Sicherheit gebracht werden.

Vor dem Eingang fläzen sich große, graue Kabelrollen. Eurotunnel ist dabei, ein Kabel mit einer Kapazität von einem Gigawatt, das entspricht einem Kernkraftwerk, durch eine der Röhren zu ziehen. Das Unternehmen will Strom dahin liefern, wo er am Spotmarkt besser bezahlt wird.

Brexit, Großbritannien allein, Trennung vom Kontinent? Das dicke Kabel wirkt wie ein leibhaftiges Dementi, es ist eine Nabelschnur für Energie. Zumindest, was den Stromaustausch angeht, wird die Insel in Zukunft enger mit dem Kontinent verbunden sein als vor dem Brexit. Die Realität, das lernt man in Calais, folgt nicht unbedingt den politischen Spiegelfechtereien.