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Europas oberste Seuchenbekämpferin: „Der Lockdown ist kein Allheilmittel“

Andrea Ammon, Chefin des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten, warnt vor einem Rückfall in nationale Krisenstrategien.

Andrea Ammon ist Europas oberste Seuchenbekämpferin. Die deutsche Epidemiologin leitet das ECDC, das sich ausschließlich mit Infektionskrankheiten befasst. In der Corona-Pandemie versorgt sie die Mitgliedstaaten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Virus und seine globale Ausbreitung. Ammon veröffentlicht Empfehlungen, wie das Virus eingedämmt werden kann – die Entscheidungen darüber aber liegen bei den einzelnen Staaten oder in vielen Fällen sogar regionalen Gesundheitsministerien.

Derzeit warnt Ammon die EU-Mitglieder eindringlich vor steigenden Infektionszahlen. Seit Anfang August würden sich nicht mehr vor allem junge Menschen, sondern auch wieder mehr über 65-Jährige infizieren, zudem nähmen Einweisungen in Krankenhäuser und Todeszahlen zu.

„Die Zahl der Länder mit dieser Konstellation ist besonders in der vergangenen Woche angestiegen – das ist wirklich alarmierend“, sagt sie im Gespräch mit dem Handelsblatt. Gleichzeitig spricht sich die Epidemiologin aber dafür aus, einen neuen Lockdown möglichst zu vermeiden.

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„Man hat ja gesehen, dass die kompletten Lockdowns zwar die Infektionen gesenkt haben, aber auch erhebliche wirtschaftliche, soziale und mentale Folgen hatten“, sagt sie. „Deswegen gibt es jetzt das Bemühen, Zwischenstufen zu wählen, bei denen man die Übertragung reduziert, aber ein gewisses soziales und wirtschaftliches Leben erlauben kann.“

Dazu könnten im Winter durchaus auch Restaurantbesuche gehören, solange dort der Abstand gewahrt werde. Skeptisch ist sie dagegen, was die neuen Schnelltests angeht. „Ich habe die Sorge, dass die Leute dann zu leichtfertig werden, weil sie sich zu sicher fühlen“, so Ammon. „Die Inkubationszeit ist ziemlich lang und ein Schnelltest kann nicht zuverlässig sagen, ob jemand infiziert ist oder nicht.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Europa befindet sich mitten in der zweiten Welle. Die Todesraten sind aber weitaus niedriger als im Frühjahr. Ist das ein Zeichen dafür, dass es nicht mehr so schlimm wird wie in der ersten Welle?
Nein. Es werden jetzt mehr jüngere Leute getestet, die weniger häufig schwere Verläufe haben. Nur sicher sind auch sie nicht: 44 Prozent aller Covid-19-Patienten mit schweren Verläufen in den vergangenen 14 Tagen waren jünger als 50 Jahre. Seit Anfang August sehen wir in vielen Ländern zudem einen Anstieg der Fälle bei den über 65-Jährigen, bei den Einweisungen in Krankenhäuser und in etlichen Ländern auch einen Anstieg der Todesfälle. Die Zahl der Länder mit dieser Konstellation ist besonders in der vergangenen Woche angestiegen – das ist wirklich alarmierend.

Der Virologe Christian Drosten hat gesagt, die Pandemie geht jetzt erst richtig los. Stimmen Sie dem zu?
Das ist ein mögliches Szenario, aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass die Erfahrungen aus März und April eindrücklich genug waren, dass die Länder alles Mögliche tun werden, damit wir nicht wieder in eine ähnliche Situation kommen.

Was empfehlen Sie denn ganz konkret: Können wir weiter ins Restaurant oder Fitnessstudio gehen oder sollte man die im Winter lieber ganz schließen?
Das muss vor Ort entschieden werden. Statt alle Restaurants zu schließen, könnte man auch den Zugang beschränken, sodass drinnen die Distanz gewahrt werden kann. Der Abstand ist immer noch das sicherste Mittel, um die Übertragung zu reduzieren.

Aber was ist denn mit den berühmten Aerosolen, die durch den Raum schweben?
Die Aerosole haben natürlich einen gewissen Anteil an den Infektionen. Aber da kann man das Risiko minimieren, was natürlich von den örtlichen Gegebenheiten abhängt. Wenn man einen Tisch im Restaurant nicht gerade vor eine Klimaanlage stellt, sehe ich kein großes Problem.

Sie sind ja eher vorsichtig – bedenken Sie als Epidemiologin auch die wirtschaftlichen Folgen Ihrer Empfehlungen?
Unsere oberste Priorität ist immer die Frage, wie man die Übertragung verhindern oder zumindest reduzieren kann. Man hat ja gesehen, dass die kompletten Lockdowns zwar die Infektionen gesenkt haben, aber auch erhebliche wirtschaftliche, soziale und mentale Folgen hatten. Das muss man mit in die Waagschale werfen. Deswegen gibt es jetzt das Bemühen, Zwischenstufen zu wählen, bei denen man die Übertragungsrate reduziert, aber ein gewisses soziales und wirtschaftliches Leben erlauben kann. Im Übrigen ist der Lockdown auch kein Allheilmittel.

Wie meinen Sie das?
Ausreichend Testungen, die schnelle Übermittlung von positiven Ergebnissen und die Ermittlung von Kontaktpersonen und deren Quarantäne müssen in jedem Fall gewährleistet sein – und zwar in einem Maß, das auch größere Fallzahlen aushalten kann. Sonst hilft auch ein Lockdown nicht: Ohne diese Nachverfolgung müsste man wirklich jeden in seine Wohnung sperren. Diese Kontrollen sind auch wichtig, um zu sehen, ob die getroffenen Maßnahmen helfen oder ob man da nachbessern muss.

In Frankreich sind die Labore aber jetzt schon überlastet, was raten Sie da?
Wenn das Virus bereits weit verbreitet ist oder Labore an ihre Grenzen stoßen, hilft die generelle Empfehlung, dass jeder mit Covid-19 Symptomen zu Hause bleiben sollte. Wenn die Labore die Tests nicht schnell genug bearbeiten können, lassen sich mit gezielten Testungen bestimmter Gruppen andere schützen – etwa durch die Testung von Risikogruppen oder Besuchern und Patienten in Krankenhäusern. Weitere Details und Vorschläge haben wir in speziellen Leitfäden herausgearbeitet.

Wären in Europa nicht verbindliche Limits sinnvoll, ab denen bestimmte Restriktionen gelten? Derzeit sagen einige Leute ihre Hochzeit mit 100 Gästen ab, aber in Ungarn hat ein Fußballspiel mit 20.000 Zuschauern stattgefunden.
Aus epidemiologischer Sicht sind solche absoluten Schwellenwerte nicht sinnvoll. Wichtiger ist die Tendenz: Wir halten einen Anstieg der Infektionen um zehn Prozent innerhalb von 14 Tagen für signifikant. Der erfordert dann Maßnahmen.

Die ersten EU-Länder schließen wieder ihre Grenzen. Ist das notwendig?
Zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem wir davon ausgehen müssen, dass das Virus bereits überall in Europa verbreitet ist, trägt das wenig zur Kontrolle der Infektionen in einem Einreiseland bei. Solche Sperrungen erfordern auch Ressourcen, die dann womöglich bei der Pandemie-Bekämpfung im Land fehlen.
Ist der Anstieg, den wir jetzt sehen, denn auf den Tourismus zurückzuführen?
Der hat weniger mit dem Reisen an sich zu tun als mit dem Verhalten der Menschen. Ich vermute, dass sich die Menschen nach der langen Phase der Lockdowns wieder mehr getroffen haben und womöglich zu euphorisch waren. Kurz: Der nötige Abstand wurde nicht gewahrt.

Eine große Hoffnung jenseits des Impfstoffs sind Schnelltests. Könnten die einen Wendepunkt markieren?
Wir müssen jetzt erst einmal sehen, welchen Wert sie haben. Wenn sie zuverlässig sind, können sie schon dazu beitragen, dass Leute früher zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehren oder wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Aber einen Wendepunkt sehe ich darin nicht.
Warum sind Sie da so skeptisch? Wenn ein Unternehmen nur die Mitarbeiter reinlässt, die negativ sind, ist das doch die perfekte Kontrolle.
Natürlich entdeckt man damit Fälle früher. Aber ich habe die Sorge, dass die Leute dann zu leichtfertig werden, weil sie sich zu sicher fühlen. Diese Tests sind nur eine Momentaufnahme. Die Inkubationszeit ist ziemlich lang und ein Schnelltest kann nicht zuverlässig sagen, ob jemand infiziert ist oder nicht.
Sie sind die oberste Seuchenbekämpferin in Europa. Aber Ihre Stimme wird öffentlich vergleichsweise wenig gehört. Woran liegt das?
Das liegt unter anderem daran, dass die Gesundheitskompetenz nicht auf EU-Ebene, sondern auf der Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt ist. Unsere Arbeit ist mehr darauf ausgerichtet, die Gesundheitsbehörden in den einzelnen Ländern zu unterstützen.
Frau Ammon, vielen Dank für das Interview.