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Europa steht vor einem Schicksalsjahr

Von politischen Unsicherheiten bis hin zu wirtschaftlichen Krisen musste Europa einiges durchmachen. Doch die EU steht vor noch mehr Bedrohungen.

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Mit dem Wort Schicksalsjahr sollte man vorsichtig sein. Aber auf Europa trifft es 2019 zu. Und das nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn wir sind umgeben von Unsicherheitsfaktoren. Das größte Risiko sehe ich dabei weder in den Handelskonflikten noch im Brexit oder in einer Rückkehr der europäischen Schuldenkrise.

Es ist vielmehr das Phänomen, das letztlich all diesen Entwicklungen zugrunde liegt: Ein neuer Nationalismus greift um sich – in Amerika ebenso wie in vielen Ländern Europas. Das macht die Welt anfälliger für wirtschaftliche Schocks. Denn ein konzertiertes politisches Handeln, wie es die Finanzkrise des Jahres 2008 eindämmte, ist in der aktuellen Lage nur schwer vorstellbar.

Auf dem Spiel steht inzwischen nicht weniger als die wohl größte politische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts: die regelbasierte Weltordnung. Sie war und ist nicht perfekt – aber zumindest haben wir Regeln, die sich in der Vergangenheit stetig weiterentwickelt haben.

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Gerade nach dem Fall der Berliner Mauer schien fast die ganze Welt einen unumkehrbaren Weg zu mehr Kooperation, zu Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit eingeschlagen zu haben. Inzwischen ist dieser Trend zumindest unterbrochen.

Wichtige Institutionen wie die NATO, die Welthandelsorganisation oder auch die Europäische Union (EU) sind geschwächt und werden sogar aus den eigenen Reihen infrage gestellt. Vor allem überzeugte Europäer muss das alarmieren: Der neue wirtschaftspolitische Nationalismus zweifelt die europäische Idee, unsere politische Ordnung und unsere Werte an.

Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, dass Europa geschlossen eine Position für Freiheit, Demokratie und wirtschaftlichen Fortschritt entwickelt. Wir brauchen mehr europäische Integration und nicht weniger. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen. Auch wenn es gerade wenig populär sein mag: Wir sollten alle mit Stolz auf das europäische Projekt blicken – ein Friedensprojekt.

Und wir müssen uns ins Bewusstsein rufen, was uns verbindet: Wir haben in Europa den zweitgrößten Binnenmarkt der Welt geschaffen – mit demnächst noch 27 Staaten und rund 450 Millionen Menschen. Das ist eine enorme Errungenschaft.

Denn nur in diesem Verbund können wir ökonomisch und machtpolitisch mit den USA und China mithalten. Das heißt für mich auch, dass wir Europa nicht nur weiterentwickeln müssen, sondern auch ein Stück weit neu erfinden. Denn die Konkurrenz schläft nicht.

Nein, sie scheint mit Blick auf Investitionen in Zukunftstechnologien und Verteidigung weitaus wachsamer zu sein als wir. Für eine Reinkarnation ist die EU allerdings schlecht gerüstet. Das liegt allem voran an den Entscheidungsmechanismen. Auf Neudeutsch: Europa hat ein handfestes Governance-Problem. Parlament, Kommission und Ministerrat unterliegen häufig sehr verschiedenen Strömungen.

Sobald es um größere Weichenstellungen geht, hat jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht. Es reicht ein Spielverderber, um Europa zu blockieren. Was soll aus Europa werden, wenn auf nationaler Ebene zunehmend Regierungen an die Spitze kommen, die Europa nicht nur skeptisch, sondern feindlich gegenüberstehen? Wenn immer mehr Europagegner ins Parlament einziehen?

Demokratie und Gewaltenteilung dürfen selbstverständlich in keiner Weise zur Debatte stehen. Die europäische Idee wird aber nur dann überleben, wenn Europa besser, schneller und effektiver funktioniert.

Das gilt gerade auch mit Blick auf eine gemeinsame Standortpolitik. Wir in Europa müssen wiedermehr investieren. Nicht zuletzt in Deutschland besteht erheblicher Spielraum – für öffentliche, aber auch für private Investitionen.

Es geht einerseits um die viel diskutierten Ausgaben für Brücken, Straßen und Schienen. Investieren müssen wir aber auch in Bildung sowie in die digitale Infrastruktur, in Breitband- und Funknetze, in Forschung und Entwicklung. Es gibt einen engen Zusammenhangzwischen der Höhe der Investitionen in neue Technologien und dem Erfolg der Unternehmen, die daraus entstehen.

Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Sowohl bei Plattform-Unternehmen als auch bei der Künstlichen Intelligenz drohen uns China und Amerika zu enteilen. Die Folgensind schon jetzt gravierend: Die wertvollsten Unternehmen der Weltkommen fast alle aus dem Technologiesektor. Keines davon kommt aus Europa.

Ende Januar 2019 war unter den wertvollsten 15 Unternehmender Welt, gemessen an der Marktkapitalisierung, kein einziges europäisches – Europas Spitzenreiter war Nestlé auf Rang 16.Und nicht nur das: Wir Europäer sind an den größten Unternehmen der Welt nur mit einem Bruchteil beteiligt. Uns gehört nicht einmal ein Anteil von zwei Prozent daran.

Während regelmäßig über unseren Handelsbilanzüberschuss diskutiert wird und wir Deutschen dafür sogar an den Pranger gestellt werden, schätzen Experten das digitale Handelsdefizit Deutschlands bereits auf rund 30 Milliarden Euro jährlich – mit rasant steigender Tendenz.

Hier werden gerade die Weichen gestellt – in einer Welt, in der Künstliche Intelligenz, Daten und digitale Infrastruktur über den Erfolg oder Misserfolg ganzer Volkswirtschaften mitentscheiden. Und darüber, was unsere Gesellschaft prägt. Rund viereinhalb
Stunden täglich surfen die Deutschen im Internet, junge Menschen noch mehr. Google führt uns durch die Straßen, Amazon entscheidet mit, was und wo wir einkaufen. Algorithmen, die in einem fernen Land liegen, bestimmen einen immer größeren Teil unseres täglichen Lebens. Wir verlieren die Hoheit über die Wahrheit, wie es der Risikokapitalgeber Klaus Hommels treffend ausdrückt.

Wollen wir uns damit abfinden? Oder sollten wir nicht alles daransetzen, möglichst viele Bereiche der Wirtschaft mit eigenen Digitalplattformen zu besetzen? Dabei muss uns allerdings klar sein, vor welcher Kraftanstrengung wir hier stehen. Ob Facebook, Amazon oder Google: In alle großen Plattformen wurden zunächst Milliarden investiert, es wurden viele Verlustjahre in Kauf genommen.

Wenn sich eine Plattform aber erst einmal durchgesetzt hat, wächst sie enorm schnell, was – wie wir sehen – zu globalen Oligopolen führen kann. Wir müssen also schneller agieren und investieren. Das ist natürlich nicht nur Aufgabe des Staates: Auch wir Unternehmen müssen viel mehr tun, und zwar schon aus purem Eigeninteresse. Wir verspielen sonst unsere Zukunft.

Dafür müsste Europa allerdings mehr finanzielle Ressourcen freisetzen. So sollte es beispielsweise Versicherungen und Pensionskassen erlaubt sein, etwas höhere Risiken einzugehen, um in Unternehmen und Wachstumstechnologien zu investieren – so wie das in den USA der Fall ist.

Auch als Deutsche Bank stehen wir in der Pflicht, unseren Beitrag zu leisten, um Kapital für Investitionen zu sammeln und zu kanalisieren. Wir haben selbst bereits große Summen in Plattformen investiert, nicht nur allein, sondern gemeinsam mit anderen Unternehmen. Ein starkes Europa braucht starke Banken.

Sie sind ein entscheidender Teil des Herz-Kreislauf-Systems unserer Wirtschaft. Insofern ist es ein großer Erfolg, dass die Bankenunion in Europa auf den Weg gebracht wurde. Aber sie ist nicht vollendet, und es bedarf zusätzlich einer Kapitalmarktunion.

Der ökonomische Druck wächst

Es kann nicht angehen, dass ein internationaler Investor, der Anleihen aus Spanien, Frankreich und Deutschland kaufen will, drei unterschiedliche Wertpapier- und Insolvenzregelwerke prüfen muss. Wir brauchen einen echten Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen.

Die Fragmentierung macht es den europäischen Banken schwer, jene Stärke in der Heimat zu entwickeln, die nötig ist, um mit den großen Konkurrenten aus den USA oder Asien mitzuhalten. Die Frage ist: Wollen wir uns in Kapital- und Finanzierungsfragen auf längere Sicht wirklich weitgehend vom Ausland abhängig machen? So weit darf es nicht kommen. Es würde Europa auf Dauer an Kapital und Finanzierungsmöglichkeiten fehlen.

Und an Kenntnissen darüber, was an den globalen Kapitalmärkten gerade geschieht. Wir sollten nicht vergessen, wie schnell sich in der Finanzkrise 2008 viele Auslandsbanken zurückzogen, während die einheimischen Häuser ihr Kreditangebot weitgehend aufrechterhielten.

Aber es geht nicht nur um Krisensituationen, sondern um die fundamentale Infrastruktur Deutschlands und Europas. Wir stehen vor einem Jahr voller Veränderungen. Das geopolitische Umfeld ist rauer geworden, der ökonomische Druck wächst. Gleichzeitig werden in diesem Jahr wichtige Schlüsselpositionen in

Europa neu besetzt: So bekommen die EU-Kommission, der Europäische Rat sowie die Europäische Zentralbank neue Präsidenten. Nicht zuletzt wählen die Europäer ein neues Parlament. Es ist also auch politisch ein Schicksalsjahr. Wir alle müssen dazu beitragen, dass dieses Jahr zum Beginn einer Renaissance für die europäische Idee wird – und nicht der Anfang von ihrem Ende.