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Die EU-Osterweiterung ist ein Erfolg – trotz wachsender Zweifel

Europa verfolgt die Polen auf Schritt und Tritt. Wer in die Linie 2 der neuen Warschauer U-Bahn einsteigt, die modernistisch bunt gestylte Haltestellen anfährt, kann sie nicht übersehen: die blaue Europaflagge mit den zwölf gelben Sternen und die Aufschrift: „Dieser Zug wurde mit Mitteln des EU-Kohäsionsfonds gekauft.“ An jeder Straßenbahnhaltestelle steht unter den Anzeigen mit den Abfahrtszeiten, dass diese elektronischen Tafeln aus EU-Fördermitteln finanziert wurden. Auch die neuen gläsernen Lärmschutzwände an neu gebauten Straßen ziert das Logo der Europäischen Union.

„Vor unserem Beitritt wurden wir immer ermahnt, unsere Hausaufgaben zu machen“, lächelt Aleksander Kwaśniewski in die Runde des „Bürgerdialogs“. Er findet im futuristischen „Kopernikus-Zentrum“ an der Weichsel statt, das kürzlich als „Europas bestes Wissenschaftszentrum“ ausgezeichnet wurde. „Und schauen Sie sich Polen heute an – wir haben wohl für alle sichtbar unsere Hausaufgaben erledigt“, sagt der heute 64-jährige Sozialdemokrat sichtlich stolz. Kwaśniewski hat Polen im Jahr 2004 als Staatspräsident in die EU geführt – zusammen mit weiteren sieben mittel- und osteuropäischen Staaten.

15 Jahre ist das jetzt her – und kaum jemand würde bestreiten, dass der Beitritt Polens, aber auch der der anderen Länder nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch betrachtet eine große Erfolgsgeschichte war. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Polen seit 2014 von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) regiert wird, die nicht nur Brüssel äußert feindlich gesinnt ist, sondern auch mit europäischen Werten wie Rechtsstaatlichkeit und Offenheit hadert.

Im Jahr 2004 war Polen ökonomisch weit abgeschlagen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag gerade mal bei 49 Prozent des EU-Durchschnitts. Heute sind es mehr als 70 Prozent.

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Auch polenkritische Politiker und Ökonomen halten die ökonomische Entwicklung für „mustergültig“. Etwa Gratian Mihailescu. Der junge Rumäne hat einst als Kellner gearbeitet. Heute forscht er über das Thema europäische Regionalpolitik. Sein Studium finanzierte er mit einem Erasmus-Stipendium der EU.

Polen sei es als einzigem EU-Land gelungen, die weltweite Finanzkrise 2008/09 „ohne Rezession durchzustehen“. Natürlich hätten die EU-Fördermittel geholfen, aber anders als andere osteuropäische Staaten hätte Polen die EU-Mittel vorbildlich verwendet.

Insgesamt sind 365,2 Milliarden Euro in den Jahren von 2004 bis 2020 an die osteuropäischen Neumitglieder geflossen. Inflationsbereinigt ist das deutlich mehr als das Volumen des Marshallplans, den die USA nach dem Zweiten Weltkrieg zur Stützung Westeuropas aufgelegt hatten.

Laut europäischem Statistikamt Eurostat sind die zehn 2004 und 2007 beigetretenen osteuropäischen EU-Länder beim BIP, pro Kopf gemessen, im Schnitt 18 Prozentpunkte näher an den EU-Durchschnitt herangekommen – auf nun durchschnittlich 84 Prozent. Vor allem Tschechien, Slowenien, Litauen und Estland sind in Reichweite des EU-Durchschnitts. Was die Arbeitsproduktivität angeht, liegen die Osteuropäer – bis auf Slowenien — aber bis heute immer noch bei höchstens der Hälfte des Durchschnitts aller 28 EU-Mitgliedstaaten. Die Reallöhne sind im Osten im Schnitt um etwa 50 Prozent gewachsen seither, im Rest gerade einmal um zehn Prozent. Bei der Wettbewerbsfähigkeit liegen die Osteuropäer fast gleichauf mit dem EU-Durchschnitt – Länder wie Estland und Tschechien sogar darüber.

Insgesamt war der Aufholprozess beeindruckend. „Die EU war eine Konvergenz-Maschine für Polen und ganz Osteuropa“, sagt der polnische Ökonom Ignacy Morawski, Direktor des Analysebüros SpotData in Warschau. „Polen erlebt ein goldenes Zeitalter, wir sind von der dritten in die erste Liga aufgestiegen“, schwärmt auch Ireneusz Bi, Direktor der „Amicus Europae“-Stiftung. Etwa die Hälfte des polnischen BIP-Wachstums sei Resultat der EU-Mitgliedschaft und der Fördermittel, schätzt er.

24.400 Kilometer Autobahnen, 3.400 Kilometer neuer oder reparierter Eisenbahnstrecken, 17.000 Forschungsprojekte und Breitband-Internet für 9,6 Millionen Menschen wurden unter anderem mit den Fördergeldern finanziert. Was die Infrastruktur angeht, kann sich Osteuropa durchaus mit dem Westen vergleichen. Beim Ausbau mit Breitbandkabel liegen einige osteuropäische Länder sogar vor den westlichen Staaten.

Wobei selbstverständlich auch der Westen von den Milliarden-Transfers profitierte: „Von jedem in den osteuropäischen Staaten investierten Euro aus den EU-Fonds fließen 80 Cent zurück zu westeuropäischen Firmen“, sagt Polens Wirtschaftsministerin Jadwiga Emilewicz.

Ein Blick auf Warschaus neue Metro bestätigt das: Hier fahren selbstverständlich Siemens-Inspiro-Züge. An den Baustellen entlang der Eisenbahnstrecke von Warschau nach Berlin hängen immer wieder Schilder von Strabag – dem österreichischen Baukonzern, der mit dem gerade gestürzten FPÖ-Chef Strache in der Heimat so viel Ärger hatte. Westeuropa habe stark profitiert, es sei ein großer Absatzmarkt hinzugekommen und Standorte sowie Zulieferer in osteuropäischen Staaten seien inzwischen „unverzichtbarer Bestandteil der Wertschöpfungsketten“ westeuropäischer Unternehmen“, sagt Morawski.

„Demografische Katastrophe“ im Osten

Vergleicht man die Erfolge der EU-Osterweiterung global, so ergibt sich Verblüffendes: Das Wachstum sei „imposant“ gewesen, meint Willem Buiter, früherer Chefökonom der Osteuropaförderbank EBRD und heute Special Economic Advisor bei der Citigroup. Vor dem Beitritt hätten die osteuropäischen EU-Staaten ein BIP pro Kopf auf dem Niveau von 36,5 Prozent der sieben größten Industriestaaten der Welt (G7) gehabt, 2018 seien es bereits 58,1 Prozent gewesen.

Die asiatischen Emerging Markets hätten es vom Jahr 2000 bis 2018 von zehn auf 24,9 Prozent gebracht, Lateinamerika nur von 30,8 auf 33,6 Prozent. Und auch die Exporte gemessen am BIP seien seit 2000 von 40,9 auf 65,7 Prozent gewachsen, während diese in Lateinamerika nahezu gleichgeblieben und in Asien sogar geschrumpft seien.

Allerdings darf ein Effekt nicht unberücksichtigt bleiben: Osteuropa hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen menschlichen Aderlass erlitten. Millionen Polen schaffen als Bauarbeiter, Kellner oder Klempner in Großbritannien, Rumänen als Spargelstecher auf deutschen Feldern oder Lkw-Fahrer in Italien. Von einer „demografischen Katastrophe“ spricht Clare Nuttall vom Fachmagazin „Business New Europe“ sogar.

Trotz aller Fortschritte: Viele Osteuropäer seien „enttäuscht darüber, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse nicht schneller gelungen ist, und die meisten osteuropäischen EU-Länder haben einen großen Teil ihrer Bevölkerung an Westeuropa verloren“, sagt Richard Grieveson vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (Wiiw).

Und der Ost-Experte fügt hinzu: „In letzter Zeit ist der Autoritarismus in der Region auf dem Vormarsch.“ Die Herausforderungen, die sich aus dem demografischen Rückgang und verstärkter Automatisierung und Digitalisierung ergäben, seien „beträchtlich“.

„Die Polen haben sehr viel erwartet und sind enttäuscht“, warnt auch Stiftungs-Direktor Ireneusz Bil. Davon hätte die rechtsnationalistische PIS-Partei profitiert: Während die Vorgängerregierung um den heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk eine liberale Wirtschaftspolitik vollzog und wenig Wert auf Soziales gelegt habe, habe die heute regierende PiS „die Sozialpolitik der Linken übernommen. Mit dem Stopp der Privatisierungen, der Verstaatlichung von Banken und mehr staatlichem Kapital für Konzerne ist die PiS teilweise fast sozialistisch“, meint Bil.

Missbrauch von EU-Mitteln

Tatsächlich ist die Diskrepanz zwischen den reichen städtischen Eliten und der armen Landbevölkerung während des dynamischen Aufholprozesses nicht kleiner, sondern vielleicht sogar größer geworden. Viel zum Frust beigetragen hat freilich auch die nach wie vor grassierende Korruption in vielen osteuropäischen Ländern – mit Ausnahme der Balten. Das gilt auch für den Umgang mit den EU-Mitteln, zum Beispiel in Tschechien.

Ein malerisches Paradies zum Entspannen ist das „Capi Hnizdo“ („Storchennest), 50 Kilometer südöstlich von Prag. In der idyllischen Hotelanlage hatte der Eigentümer an nichts gespart. Ein stilvolles Schwimmbad überdacht, aber auch unter freiem Himmel steht den Gästen zur Verfügung, genauso wie ein kleiner See mit Sandstrand. Auf dem Golfplatz können die Gäste ihr Handicap verbessern oder mit dem Pferd durch die hügelige böhmische Landschaft galoppieren.

Doch was die weitläufige Hotelanlage nicht offenbart: Der Missbrauch von EU-Geldern dort hat den tschechischen Premier und Multimilliardär Andrej Babis in Bedrängnis gebracht. Dem Eigentümer des Agrarkonzerns Agrofert und mehreren seiner Familienangehörigen wird Subventionsmissbrauch beim Bau des Freizeitresorts vorgeworfen. Nach den Ermittlungen der Polizei soll das böhmische Wellness-Resort unrechtmäßig mit EU-Subventionen gefördert worden sein.

Auch in Ungarn gibt es zweifelhafte Geschäfte im familiären Umfeld des Premiers Viktor Orbán. Die EU-Betrugsbehörde Olaf deckte einen Skandal um die Beleuchtungsfirma Elios von Istvan Tiborcz, dem Schwiegersohn von Orbán, auf.

Das allerdings sind Fälle, die die osteuropäischen Bürger kaum den EU-Institutionen anlasten können. Tatsächlich ist die EU-Mitgliedschaft – mit Ausnahme Tschechiens – in der gesamten Region recht populär, so Wiiw-Experte Grieveson. In keinem dieser Länder gebe es signifikante Bewegungen, die auf den Austritt aus der EU drängten. Polens PiS – die im Clinch mit der EU-Kommission wegen ihrer zweifelhaften Justizreform liegt - wirbt bei der Europawahl sogar mit dem Slogan „Polen – das Herz Europas“.

Mehr: Die EU und ihre Baustellen – vier Denkanstöße für die Zukunft Europas.