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Ergo-Chef betont: „Die klassische Police hat sich überlebt“

Die Ergo stellt als erster Versicherer nach der Allianz die 100-Prozent-Beitragsgarantie für neue Lebenspolicen infrage. Im Interview erklärt Ergo-Chef Rieß die Beweggründe.

Die deutsche Lebensversicherung steht vor einer Zäsur. Nach Marktführer Allianz denkt auch die drittgrößte deutsche Versicherungsgruppe Ergo über einen Abschied von der Beitragsgarantie von 100 Prozent in der privaten Altersvorsorge nach. „Wir können nicht ausschließen, uns mittelfristig von der kompletten Beitragsgarantie bei den Lebenspolicen sukzessive zu verabschieden“, sagte Ergo-Vorstandschef Markus Rieß dem Handelsblatt. Die 100-Prozent-Beitragsgarantie könnte dauerhaft nicht mehr in die Zeit passen.

Ergo ist der zweite große Versicherer, der die 100-Prozent-Garantie bei Lebenspolicen infrage stellt. Bereits Anfang Oktober hatte Marktführer Allianz angekündigt, seine Lebensversicherungen künftig ohne volle Beitragsgarantie zu verkaufen.

Ab Anfang 2021 will der Stuttgarter Lebensversicherer des Münchener Konzerns bei Neuverträgen seines zentralen Vorsorgeprodukts „Perspektive“ standardmäßig eine Garantie von mindestens 90 Prozent der eingezahlten Beiträge anbieten, statt bislang von 100 Prozent. Eine Beitragsgarantie von 100 Prozent bieten die Firmen jedoch weiterhin bei Altersvorsorge-Konzepten an, bei denen dies gesetzlich vorgeschrieben ist, zum Beispiel bei Riester-Verträgen.

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Die anhaltende Zinsflaute belastet die Lebensversicherungsbranche seit Jahren stark. Es fällt den Unternehmen dadurch immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. „In einer Welt ohne positiven Nominalzins muss die Altersvorsorge neu gedacht werden – das gilt auch für Riester und die betriebliche Altersversorgung“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft, Jörg Asmussen, jüngst.

Um Chancen am Kapitalmarkt nutzen zu können, brauche es flexiblere gesetzliche Garantieanforderungen. Die Branche drängt seit geraumer Zeit auf eine Neuregelung unter anderem bei der Riester-Rente, wo derzeit noch 100 Prozent der Bruttobeiträge garantiert werden.

Ergo hatte sich schon 2015 aus dem Geschäft mit Lebenspolicen mit lebenslangen Garantien zurückgezogen und seitdem nur noch Verträge verkauft, die sich stärker an der Entwicklung der Kapitalmärkte orientieren. Einige der neuen Produkte bieten bislang jedoch weiter eine Beitragsgarantie von 100 Prozent an.

Noch immer wählen rund 30 Prozent der Deutschen bei Neuabschlüssen in der Lebensversicherung jedoch einen Vertrag, der eine klassische Garantie beinhaltet. Für die Branche bedeutet der sukzessive Abschied deshalb eine wichtige Richtungsentscheidung. „Die klassische Police hat sich überlebt“, betont Rieß.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Rieß, das US-Wahl-Ergebnis ist knapp ausgefallen, Trump will den Supreme Court anrufen. Was würde eine Hängepartie für die Investoren bedeuten?
Ich glaube, das ist schwierig zu sagen. Es hängt davon ab, wie sich das Verfahren in den nächsten Wochen gestaltet. Ich rechne zunächst mit volatilen Märkten, aber auch damit, dass diese trotz der laufenden juristischen Auseinandersetzungen den Sieg Bidens einpreisen werden. Die Pandemie ist jetzt sicher das größere Risiko für den Finanzmarkt, die Notenbanken bleiben aber die große Stütze.

Die US-Wahl war stark von der Coronakrise überschattet. Was glauben Sie, wie es in den USA in den nächsten Monaten bei der Bekämpfung der Pandemie weitergehen wird?
Der frisch gewählte Präsident Biden hat sofort die Einrichtung einer Corona-Taskforce zur Eindämmung der Pandemie verkündet. Es ist für ihn also eine zentrale Herausforderung, die er vermutlich mit neuen Maßnahmen angehen wird. Wir in Deutschland sind dennoch gut beraten, vor allem auf uns selbst zu schauen. Dazu muss man sagen, dass wir trotz der aktuell steigenden Infektionszahlen bisher vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen sind.

Aber man darf sich nicht täuschen: Es ist eine dramatische Krise, deren Ende auch noch nicht mit Sicherheit abzusehen ist. Aktuell wecken Meldungen über einen offenbar recht wirksamen Impfstoff neue Hoffnungen, das muss man abwarten. Ich denke, dass die deutsche Politik bislang gut auf Corona reagiert hat, sie hat eine kluge Mischung aus Besonnenheit und langfristiger Orientierung an den Tag gelegt.

In Deutschland schlittern wir gerade mit Macht in eine zweite Covid-Welle hinein. Wie gefährlich ist das für die deutsche Wirtschaft?
Was in Deutschland passiert, hängt in erster Linie davon ab, wie sehr die Bevölkerung den Auflagen folgt und wie schnell der medizinische Fortschritt in Sachen Impfung und Therapie gelingt. Man muss die dynamische Entwicklung aufmerksam verfolgen, denn die Situation ist alles andere als entschärft. Wenn wir die wirtschaftliche Seite betrachten und uns die Verschuldungsquoten anschauen, hat Deutschland deutlich mehr finanziellen Spielraum als andere Staaten. Es ist deshalb richtig, dass wir diese Möglichkeiten einsetzen, um die wirtschaftlichen Folgen abzumildern.

Kärcher-Chef Hartmut Jenner fürchtet große Verwerfungen in der Wirtschaft. Ist der neue Lockdown Light die richtige Antwort auf die Pandemie?
Bei dieser Frage werden Sie stets Stimmen finden, die sagen, dass es überzogen ist – und andere, die es für nicht ausreichend halten. Ich persönlich denke, dass die Balance stimmt. Meiner Wahrnehmung nach versuchen die Menschen und die Wirtschaft für den Moment – und da lasse ich die extrem betroffenen Branchen wie Luftfahrt, Veranstaltungen und Gastronomie bewusst außen vor –, sich auf den Status quo weitestgehend einzustellen. Jedoch, je länger die Belastung andauert, desto schwieriger wird es für viele durchzuhalten.

Gerade die erwähnten Gastronomen sind allerdings wegen der Streitigkeiten um die Betriebsschließungspolicen schlecht auf die Versicherer zu sprechen. Vor Gericht hat Ihre Branche die ersten Prozesse verloren. Wie teuer kann das noch werden?
Nun, es wurden auch einige Prozesse gewonnen. Ich würde nicht sagen, dass da schon ein Trend erkennbar ist. Wir sind bestrebt, für unsere Kunden gute Lösungen zu finden. Entsprechend gehen wir davon aus, dass wir aus einem zweiten Lockdown keine gravierenden zusätzlichen Belastungen mehr haben werden.

Die Allianz will alle ihre Betriebsschließungspolicen kündigen und neu aufsetzen. Werden Sie einen solchen Schritt auch unternehmen?
Am Ende sind doch alle gut beraten, insbesondere auch die Kunden, wenn klar ist, was eine Police abdeckt – und was nicht. Auch wir präzisieren nun bei Vertragserneuerungen die Bedingungen. Wenn die Kunden nicht zustimmen, kann es im Einzelfall zu Kündigungen kommen. Die Gespräche beginnen aber mit einem Angebot. Insgesamt betrachtet kann niemand erwarten, dass die Privatwirtschaft allein ein Pandemierisiko schultert.

Viele Ökonomen rechnen mit einer Insolvenzwelle in der deutschen Wirtschaft Anfang nächsten Jahres. Kommt das dicke Ende der Coronakrise erst noch?
Ich wünsche mir sehr, dass die Antwort „Nein“ ist. Aber es hängt natürlich davon ab, wie lange die Krise dauert und wie wir als Gesellschaft weiter mit der Pandemie umgehen. Wenn es uns gelingt, die Anzahl der Infektionen einzudämmen und einen Impfstoff herzustellen, dann ist es möglich, dass wir diese Krise in den nächsten zwölf bis 18 Monaten hinter uns lassen. Eine erhöhte Zahl von Unternehmensinsolvenzen kann aber selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden.

Die Versicherungsbranche ist auch ohne Corona derzeit sehr in Bewegung. Marktführer Allianz verabschiedet sich ab 2021 komplett von einer 100-prozentigen Beitragsgarantie bei Lebenspolicen. Werden Sie diesem Beispiel folgen?
Wir können nicht ausschließen, uns mittelfristig von der kompletten Beitragsgarantie bei den Lebenspolicen sukzessive zu verabschieden. Die 100 Prozent Beitragsgarantie, die wir bei einigen unserer neuen Policen noch anbieten, könnten dauerhaft nicht mehr in die Zeit passen. Es ist also möglich, dass es in die Richtung gehen kann, generell beispielsweise nur noch 80 Prozent der eingezahlten Beiträge bei neuen Lebenspolicen zu garantieren – was mehr Risiko, aber auch mehr Chancen für die Versicherten bedeutet.

Die Versicherungsaufsicht warnt die Lebensversicherer, den Verbrauchern 2021 noch neue Verträge mit Garantien von 0,9 Prozent anzubieten. Wird die klassische Police zum Nischenprodukt?
Wir haben bereits vor einigen Jahren den Verkauf von klassischen Policen eingestellt und uns entschieden, diese effizient zu verwalten – und an dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Die klassische Police hat sich überlebt.

Aber die Deutschen hängen an den Garantien. Rund 30 Prozent schließen weiter solche Verträge ab. Machen Sie die Rechnung nicht ohne den Kunden?
Das ist eine unternehmerische Entscheidung. Wir fühlen uns mit der strategischen Ausrichtung wohl, nur auf neue Produkte zu setzen. Wir beobachten, dass die Garantien zeitgemäß sein müssen. Produkte müssen eine ausgewogene Mischung zwischen Sicherheit und Renditebedürfnissen bieten. Bei uns ist im Neugeschäft das meistverkaufte Produkt nicht mehr das mit einer 100-Prozent-Garantie, sondern ein flexibles Produkt, bei dem der Wechsel zwischen klassischen Sicherungsvermögen und Investmentfonds möglich ist – Kunden können also Garantien an- und abwählen.

Immer mehr Versicherer denken über einen Verkauf ihrer Altbestände nach. Ergo baut eine eigene Abwicklungsplattform auf, die später auch andere Policen betreuen soll. Sind Sie bereits in ersten Gesprächen mit anderen Versicherern?
Ja, wir sind in Gesprächen, aber noch ist es zu früh, um konkret zu werden. Wir übertragen zunächst unsere eigenen klassischen Policen auf die neue Plattform. Im Anschluss sind wir so weit, dass wir Geschäft von Dritten aufnehmen können; voraussichtlich ab 2023 dann auch im Bereich der komplexen betrieblichen Altersvorsorge.

Den Ergo-Mutterkonzern Munich Re hat Corona im laufenden Jahr bereits 2,3 Milliarden Euro gekostet. Wie hoch ist der Anteil, den Ergo davon zu tragen hat?
Der ist natürlich deutlich kleiner. Wenn Sie von einem Nettoschaden im zweistelligen Millionenbereich beim Ergebnis ausgehen, dann liegen Sie ungefähr richtig und sehen, dass dies für die Munich Re nur eine unwesentliche Rolle gespielt hat. Für 2021 ist es noch zu früh, um eine Belastung zu nennen – aber sie wird sicher nicht bei null liegen.

Die Ergo zählt dieses Jahr zu den stabilen Ergebnissäulen des Munich-Re-Konzerns. Ist aus der Problemtochter durch das Sanierungsprogramm ein normales Unternehmen geworden?
Nun, eindeutig Ja (lacht). Wir werden dieses Jahr – trotz Corona – im Wesentlichen alle Indikatoren erreichen, an denen wir unseren Erfolg beim Start des Programms 2016 messen wollten. Ob wir das Ergebnisziel von 530 Millionen Euro genau treffen werden, kann ich angesichts der Umstände nicht versprechen. Aber wir werden nicht weit davon weg liegen.

Wenn wir das in einer der schwersten Krisen schaffen, die Deutschland je gesehen hat, dann unterstreicht das die Effektivität des Ergo-Strategieprogramms. Es hat uns wieder auf die Erfolgsspur gebracht. Unser Ziel ist es nun, diese Entwicklung in den nächsten Jahren kontinuierlich weiterzuführen. Ausruhen dürfen wir uns nicht.

Die Neuausrichtung von Ergo soll auch 2021 weitergehen. Wo sehen Sie perspektivisch noch das größte Wachstum für den Erstversicherer?
Wir wollen vor allem im Ausland noch stark wachsen und unsere Position in Deutschland weiter stärken. Wir haben ein belastbares Standbein im wachsenden Markt Indien und bauen in China unsere gute Position weiter aus. In diesen beiden Ländern lebt beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung – dort müssen wir die Wachstumsopportunitäten wahrnehmen. Für die nächsten fünf Jahre ist das von entscheidender Bedeutung.

Bei Ergo seien auch „Akquisitionen vorstellbar“, deutete Konzernchef Wenning bereits im vergangenen Jahr an. Fassen Sie ab 2021 Zukäufe im Ausland ins Auge?
Wir sind grundsätzlich offen für Zukäufe. Allerdings möchte ich keine zusätzliche Fahne in den Sand setzen, sondern dort stärker werden, wo wir bereits eine Auslandspräsenz haben – Indien und China wären besonders verlockend, aber auch europäische Märkte kommen infrage. Sie können eine strategische Prämie bei einem Zukauf leichter zurückverdienen, wenn sie auf Synergien setzen können. Vor allem die Bereiche Schaden/Unfall und Gesundheit würden uns interessieren.

Wird Ergo mittelfristig zum Global Player?
Nein, dafür müssten wir auch in Südamerika und Afrika präsent sein. Aber ich sehe uns als europäischen und asiatischen Spieler. Und wir haben eine Beteiligung in den USA, die sich noch entwickeln kann.

Noch ist Ergo sehr stark vom deutschen Markt abhängig. Wird bei Ihnen das Ausland in den nächsten Jahren der wichtigere Teil des Geschäfts werden?
Ja. Wir waren 2016 noch bei einem Anteil von 25 Prozent, dieses Jahr könnten es zwischen 30 bis 40 Prozent werden, die unsere internationalen Märkte beisteuern – und ich kann mir in Zukunft auch noch höhere Anteile vorstellen. Die Musik bei Ergo spielt in den nächsten fünf Jahren im Auslandsgeschäft. Wenngleich der Heimatmarkt Deutschland unsere wichtigste Basis bleibt.

Die Munich Re wird Anfang Dezember einen neuen Strategieplan vorstellen, der auch Pläne für Ergo beinhaltet. Wird die Tochter noch enger an die Mutter rücken?
Wir sind bereits sehr eng verzahnt. Als Mitglied des Munich-Re-Vorstands ergibt sich die Zusammenarbeit von selbst. Ich bin mit dem Status quo sehr zufrieden.

Werden Sie sich im Rahmen der neuen Strategie auf ein konkretes Ergebnisziel festlegen?
Das Programm, das wir im Dezember vorstellen, beinhaltet Aussagen für die gesamte Gruppe und damit natürlich auch für Ergo.

Sie sind 54 Jahre alt, Ihr Vertrag läuft noch bis 2025 und Sie wurden schon für Chefsessel von Dax-Firmen gehandelt. Würde Sie ein Branchenwechsel noch einmal locken?
Nein. Ich fühle mich bei Ergo sehr wohl und habe vor, meinen zweiten Vertrag hier voll zu erfüllen. Ich möchte, dass wir auch weiterhin ein stabiler Ertragsbringer für die Gruppe sind und uns aussichtsreich unter den Top-Versicherern in Europa positionieren – das ist mein Ziel.

2026 werden Sie 60 Jahre alt. Wenn Sie sich eine Überschrift für sich in sechs Jahren ausmalen müssten – wie würde diese lauten?
Das ist einfach: Rieß wird 60.

Herr Rieß, vielen Dank für das Interview.