Werbung
Deutsche Märkte schließen in 6 Stunden 1 Minuten
  • DAX

    17.670,95
    -166,45 (-0,93%)
     
  • Euro Stoxx 50

    4.896,06
    -40,51 (-0,82%)
     
  • Dow Jones 30

    37.775,38
    +22,07 (+0,06%)
     
  • Gold

    2.397,40
    -0,60 (-0,03%)
     
  • EUR/USD

    1,0660
    +0,0014 (+0,13%)
     
  • Bitcoin EUR

    60.673,05
    +2.969,57 (+5,15%)
     
  • CMC Crypto 200

    1.331,83
    +19,20 (+1,49%)
     
  • Öl (Brent)

    83,36
    +0,63 (+0,76%)
     
  • MDAX

    25.852,93
    -336,51 (-1,28%)
     
  • TecDAX

    3.180,29
    -30,55 (-0,95%)
     
  • SDAX

    13.863,04
    -169,33 (-1,21%)
     
  • Nikkei 225

    37.068,35
    -1.011,35 (-2,66%)
     
  • FTSE 100

    7.824,28
    -52,77 (-0,67%)
     
  • CAC 40

    7.963,91
    -59,35 (-0,74%)
     
  • Nasdaq Compositive

    15.601,50
    -81,87 (-0,52%)
     

Erdogans Türkei will die Evolution abschaffen

Türkische Schüler werden demnächst nichts mehr über die Evolution lernen. Die Islamisierung der Lehrpläne besiegelt das Ende der säkularen Türkei und zerstört die langfristigen wirtschaftlichen Perspektiven.

Recep Tayyip Erdogan, der Herrscher – so kann man ihn wohl mittlerweile durchaus nennen - im „Weißen Palast“ von Ankara sorgt nicht erst seit dem Putschversuch vom 15. Juli für so viele Gründe, an seiner Qualität als lupenreiner Demokrat zu zweifeln, dass man unmöglich alle bei einem einzigen Treffen ansprechen kann. So beließ es die Kanzlerin zumindest in der Außendarstellung bei der sanften Ermahnung, die Gewaltenteilung in der Türkei nicht aufzuheben. Nun weiß Erdogan also von Merkel: „Opposition gehört zu einer Demokratie dazu“. Er weiß aber auch nach dem fünften Merkel-Besuch in Folge (stets vor zwei großen türkischen und einer kleinen deutschen Flagge), dass das für ihn keine konkreten Folgen haben muss.

Die endlose Geduld der Kanzlerin mit Erdogan kann niemanden überraschen. Schließlich ist die politische Glaubwürdigkeit Merkels dank des so genannten Flüchtlingsdeals von der Kooperationsbereitschaft des Bewohners des Weißen Palasts abhängig. Erstaunlich kann man es aber durchaus finden, dass sich die Empörungslust der deutschen Öffentlichkeit derzeit fast ausschließlich auf Washington statt auf Ankara fokussiert.

Dabei sind in den USA bislang weder Hunderte Journalisten und Oppositionsparlamentarier inhaftiert, noch tausende Beamte, Offiziere, und Lehrer fristlos entlassen worden. Man hat auch noch nicht von amerikanischen Asylanträgen in Deutschland gehört. Auch hat die US-Armee noch keine ethnische Minderheit im eigenen Land mit Artillerie und Bombern bekämpft, oder gar eine ganze Altstadt dem Erdboden gleichgemacht, wie es die türkische Armee in den kurdisch geprägten Regionen der Türkei tat und tut.

So gut wie völlig übersehen hat die deutsche Öffentlichkeit die aktuelle Reform der Schullehrpläne in der Türkei. Eine Tat des erdoganschen Staatsapparates, die nicht weniger als die polizeilichen Repressionsmaßnahmen gegen die Vertreter der kemalistischen Eliten in Beamtenschaft, Militär und Medien zeigt, wohin die Reise geht. Nämlich schnurstracks in den Islamismus.

WERBUNG

Fast nur aus österreichischen Medien war in der vergangenen Woche zu erfahren, dass an türkischen Schulen künftig die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt werden wird. Außerdem wird nach den neuen Lehrplänen Atheismus generell zu einer Geisteskrankheit erklärt und im Geschichtsunterricht das Andenken an Mustafa Ismet Inönü (1884-1973) getilgt. Der General, dessen Ehrennamen die beiden siegreichen Schlachten beim Ort Inönü gegen die Griechen 1921 verweist, war Kemal Atatürks engster Mitstreiter bei der Schaffung der türkischen Republik und sein Nachfolger als Staatspräsident (1938-1950). Deutlicher kann die regierende AKP nicht machen, was sie vom säkularen Kemalismus hält. Der nächste Schritt wäre dann die Schleifung des Andenkens von Atatürk selbst.

Eine Petitesse der Bildungspolitik?


Bruch mit den kulturellen Grundlagen des Westens

Keineswegs! Hier wird nicht, wie der Radiosender WDR5 in einem der wenigen Berichte zu der Angelegenheit in aller Naivität meldet, Lehrstoff „entschlackt“. Hier wird die westlich orientierte, moderne Türkei abgewickelt.

Ideologische Bewegungen wie Erdogans AKP wollen im Gegensatz zu traditionellen Parteien westlicher Art, ein Land nicht nur regieren und gestalten, sondern die gesamte Gesellschaft nach ihren Vorstellungen grundlegend und möglichst unumkehrbar verändern. Das entscheidende Politikfeld ist für sie daher nicht Wirtschaft. Sondern eines, das von deutschen Nachkriegspolitikern und Politikjournalisten gleichermaßen traditionell mit betontem Desinteresse behandelt wird: Bildung.

Michel Houellebecq hat das in seinem Roman „Unterwerfung“, in dem er das Szenario eines islamisierten Frankreich entwirft, gezeigt: Die Islamisten sichern sich da zuerst das Bildungsministerium. Es liegt auf der Hand warum. Wer die Macht über die Schulen und Universitäten hat, hat die Macht über das Wissen und Nichtwissen der kommenden Generation.

Das Entfernen der Evolutionsbiologie aus den türkischen Lehrplänen markiert den grundsätzlichen Bruch des Erdogan-Regimes mit den kulturellen Grundlagen des Westens. Und damit letztlich auch den Grundlagen für technischen und ökonomischen Fortschritt.

Denn die Evolutionstheorie ist nicht irgendeine philosophische Lehre von Charles Darwin. Evolutionsbiologie ist eine der wichtigsten Theorien des modernen Weltbildes. Dieses beruht auf der Erkenntnis, dass das Leben sich nach den evolutionären Gesetzen der natürlichen Auslese entwickelt hat. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler bezweifelt noch den berühmten Satz von Theodosius Dobzhansky: „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution“ – „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.“ Jeder Schüler außerhalb der islamischen Welt lernt das heute im Biologieunterricht. Auch die christlichen Kirchen (Dobzhansky war gläubiger Christ) haben sich – von Randfiguren abgesehen – längst mit der Evolution arrangiert. Wer daran zweifelt, macht sich nicht nur in akademischen Kreisen lächerlich.

Die Akzeptanz der Evolution ist so etwas wie der Lackmustest für eine moderne wissenschaftsbasierte Gesellschaft. Ohne Evolutionsbiologie keine freie Naturwissenschaft. Ohne freie Naturwissenschaft auch keine angewandte Forschung, keine Innovation, kein technologischer Fortschritt und keine ökonomische Entwicklung. Das ist eine Binse. Aber eine, die in der internationalen Entwicklungspolitik leider sträflich vernachlässigt wird. Fehlende Offenheit für die Wissenschaftskultur ist ein kaum zu umgehendes Entwicklungshindernis.

Die Türkei ist - bislang - das bei weitem wissenschaftlich leistungsfähigste Land der islamischen Welt. Dazu gehört allerdings auch nicht sehr viel. Denn islamisch geprägte Staaten, vor allem die arabischen, sind weit abgeschlagen, wenn es um wissenschaftliche Veröffentlichungen und technologische Innovationen geht. Bezeichnenderweise gibt es allerdings kaum aktuelle Untersuchungen zu diesem Thema (vgl. auch: Arab Human Development Report 2003: Building a Knowledge Society ).


Wissenschaftsfeindlichkeit als Investitionshemmnis

Der Islamologe Bassam Tibi hat in seiner Theorie der „halben Moderne“ das Dilemma der islamischen Gesellschaften dargelegt: Ihren – unerfüllbaren - Traum von der nur teilweisen Modernisierung durch Übernahme der technologischen Instrumente bei gleichzeitiger Ablehnung der kulturellen Moderne, das heißt der Werte und Weltsicht der wissenschaftlich geprägten westlichen Zivilisation, die diese Instrumente hervorgebracht hat.

Die türkische Republik, die Kemal Atatürk und Ismet Inönü schufen, war der Versuch einer „ganzen“ Moderne in einem islamisch geprägten Land. Dass das ohne autoritären Zwang gegen die vormodernen Kräfte nicht zu schaffen war, war das Dilemma aller Kemalisten bis hin zu Bülent Ecevit, dem letzten Ministerpräsidenten vor Erdogan. Das Böckenförde-Diktum - „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ – zeigte sich in der kemalistischen Türkei besonders tragisch.

Der einst im Westen als Demokrat und Gegner der autoritären Militärs gefeierte Erdogan hat Kemals Werk nun mit zunächst demokratisch erscheinenden Methoden zerstört – und damit auch die Vorbildfunktion der Türkei für alle westlich orientierten Modernisierer in anderen islamischen Ländern. Erdogan und die Reislamisierung der Türkei sind eine Katastrophe, deren Bedeutung weit über das Land hinausreicht.

Die Opfer dieser fatalen Fehlentwicklung sind vor allem die türkischen Kinder. Indem Erdogans Regierung eine der Grundlagen der modernen Wissenschaftskultur mit einem Federstrich beseitigt, versündigt sie sich an allen Kindern, die künftig türkische Schulen besuchen. Es wird eine Generation wissenschaftlicher Ignoranten heranwachsen. Wie sollen junge Türken, die Evolution für eine Irrlehre und Atheismus für eine Krankheit halten, zu mündigen Bürgern einer freiheitlichen Gesellschaft und wettbewerbsfähigen Fachkräften in einer hochtechnisierten Weltwirtschaft werden?

Da eine freie Wissenschaftskultur und wissenschaftlich ausgebildete junge Menschen die wichtigste Voraussetzung für eine Innovationskultur sind, auf der die Wettbewerbsfähigkeit jeder höher entwickelten, modernen Volkswirtschaft beruht, können weitblickende Investoren nur einen Schluss ziehen: Die Türkei der Islamisten kann kein aussichtsreiches Feld für technologische Investitionen sein. Erdogan und die AKP-Islamisten führen ihr Land in einen finsteren Abgrund – auch ökonomisch.

KONTEXT

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Armenien-Resolution

Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.

Militärputsch

Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“

Flüchtlingspakt

Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.

Immunität

Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.

Pressefreiheit

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.

Auslieferung

Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.