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Nach fast 50.000 Verhaftungen – Erdogan beendet Ausnahmezustand

Der vor zwei Jahren in der Türkei verhängte Ausnahmezustand ist aufgehoben. Damit verbinden sich große Hoffnungen, doch einige Notstands-Elemente werden wohl beibehalten.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 134.194 Menschen wurden entlassen, 95.458 festgenommen, 47.685 verhaftet – das ist die Bilanz des Ausnahmezustands in der Türkei, den Präsident Erdogan am 19. Juli 2016 eingeführt hatte. Vorangegangen waren Dutzende blutige Terroranschläge in dem Land, ein gescheiterter Putschversuch mit über 250 Toten und ein chaotischer Bürgerkrieg in Syrien, einem Nachbarland der Türkei.

Jetzt soll der Ausnahmezustand nach exakt zwei Jahren auslaufen. Damit könnte sich die politische und gesellschaftliche Lage im Land deutlich stabilisieren. Und auch die Wirtschaft dürfte aufatmen. „Die Aufhebung des Ausnahmezustandes ist ein positives Signal“, meint auch Frank Kaiser von der AHK Istanbul.

Doch es scheint in Mode gekommen zu sein, gewisse Notstands-Elemente beizubehalten. Genau wie in Frankreich will nämlich auch die Führung in Ankara die besonders strengen Anti-Terror-Maßnahmen für mindestens drei weitere Jahre beibehalten.

Das bedeutet nicht nur, dass die Türkei weiter mit äußerst harter Hand gegen tatsächliche und mutmaßliche Kriminelle vorgehen will. Die Anti-Terror-Gesetzgebung hindert das Land auch daran, ein Visaabkommen mit der Europäischen Union zu erreichen. Werden die Gesetze wie geplant noch einmal verschärft, dürfte es mit der Visa-Freigabe für türkische Bürger, die in die EU reisen wollen, auf Dauer nichts werden.

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Seit Amtsinhaber Erdogan am 24. Juni die Präsidentschaftswahlen mit 52,5 Prozent gewann, gilt in dem Land eine neue Verfassung. Diese erlaubt es dem Staatschef nicht nur, künftig die Regierungsgeschäfte zu leiten. Das tat vorher der Ministerpräsident, dessen Amt abgeschafft worden ist.

Darüber hinaus kann der Präsident viele Entscheidungen treffen, ohne vorher das Parlament oder andere Institutionen anzurufen; entweder durch seine Kompetenz qua Gesetz oder gleich per Dekret. In den ersten Tagen nach der Wahl machte Erdogan davon rege Gebrauch, vor allem im Sicherheitsbereich. Nicht alle davon riechen gleich nach Selbstherrschaft. So ist das Militär künftig nicht mehr dem Präsidialamt, sondern dem Verteidigungsministerium unterstellt.

Außerdem wurden Militärgerichte gleich ganz abgeschafft. Auch der Nationale Sicherheitsrat, ein mächtiges Gremium aus Politik und Militär, das seit einem Putsch im Jahr 1960 existiert hatte, gehört ab jetzt der Vergangenheit an.

Mit dem jüngsten Gesetzentwurf, der anders als die Dekrete zuvor im Parlament beraten werden dürfte, geht es um Anti-Terror-Maßnahmen in dem Land, das seit seiner Gründung vor knapp 100 Jahren immer wieder von Terroranschlägen heimgesucht worden ist.

So sollen Verdächtige auch ohne Ausnahmezustand bis zu zwölf Tage ohne Anklage festgehalten werden dürfen. Die Dauer der Festnahme richte sich dem AKP-Gesetzentwurf zufolge danach, wie schwer es sei, Beweise zu sammeln.

Außerdem dürfen Sicherheitskräfte Beamte festnehmen, die im Verdacht stehen, einer Terrorgruppe anzugehören. Sie würden dem Entwurf zufolge sofort vom Dienst suspendiert. „Entscheidet ein Gericht, dass eine Person wiedereingestellt werden soll, werden diese Personen in einem Pool gesammelt und Forschungszentren des Verteidigungs- oder Innenministeriums zugeteilt.“

Kritiker werfen der politischen Führung vor, den Ausnahmezustand für eigene Zwecke genutzt zu haben

Alle drei Monate war der in der Türkei „OHAL“ abgekürzte Ausnahmezustand seit Inkrafttreten am 19. Juli 2016 verlängert worden, insgesamt sieben Mal. Begründet wurde das mit nötigen Maßnahmen, um gegen mutmaßliche Putschisten vorzugehen.

Kritiker werfen der politischen Führung vor, den Ausnahmezustand für eigene Zwecke genutzt zu haben. So konnten Sicherheitskräfte nicht nur mutmaßliche Putschisten einfacher verfolgen, sondern theoretisch auch missliebige Oppositionelle und Politiker zu solchen erklären. Der ehemalige Chef der Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, sitzt seit mehreren Monaten ohne Anklage im Gefängnis, genau wie ein Teil der Abgeordneten seiner Partei.

Außerdem fanden in der Zeit des Ausnahmezustands zwei außerplanmäßige, aber äußerst wichtige Wahlen statt. Am 16. April 2017 entschieden die Türken in einem Volksentscheid über die Einführung des Präsidialsystems. Im April 2018 gab Präsident Erdogan bekannt, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen um fast anderthalb Jahre vorzuziehen. Im Wahlkampf wurde Erdogan dann immer wieder vorgeworfen, den Ausnahmezustand zu seinen Zwecken auszunutzen.

Ob es ihm am Ende genützt hat, lässt sich nicht eindeutig beziffern. Fakt ist, dass Erdogan beide Wahlen nur sehr knapp gewinnen konnte. Fakt ist auch, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung grundsätzlich seit über 30 Jahren eine neue Verfassung wünscht. Die alte stammte von der Militärjunta, die nach einem Putsch im Jahr 1980 kurzzeitig die Macht übernommen hatte.

Der Wirtschaft im Land dürfte ein Stein vom Herzen fallen. Die türkische Wirtschaft wuchs im Jahr 2017 – trotz Ausnahmezustand – um satte 7,4 Prozent, so stark wie in keinem anderen Land der Welt. Das deutet darauf hin, dass der „OHAL“ keine Auswirkungen auf die Wirtschaft gehabt habe. Das wollen auch Regierungsvertreter immer wieder hervorheben.

Doch immer wieder hatten sich führende Industrievertreter über den Ausnahmezustand und die unsteten rechtsstaatlichen Bedingungen beschwert. Zu Beginn des Jahrtausends habe die Türkei eine große Anziehungskraft auf ausländische Investoren ausgeübt, weiß AHK-Türkeiexperte Kaiser.

Aber: „In den vergangenen Jahren wuchsen die politischen Unwägbarkeiten und damit auch die Unsicherheit von Unternehmen.“ Spürbar sei dies vor allem bei der Zurückhaltung kleiner und mittelständischer Unternehmen beim Thema Neuinvestitionen zu sehen gewesen.

Kein Wunder, waren schlussendlich auch missliebige Unternehmer auf der Abschussliste der Regierung, sofern sie mögliche Verbindungen zu Putschisten aufwiesen. So mussten die Geschäftsführer einer türkischen Tochterfirma des Oldenburger Energieversorgers EWE ihre Posten räumen, nachdem ihnen eine zu große Nähe zur Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird, nachgesagt worden war.

Im Juli 2017 soll im Rahmen der Anti-Terror-Ermittlungen eine Liste mit über 700 deutschen Unternehmen aufgetaucht sein, die Terrorgruppen nahestehen sollen. Am Ende hatte es sich wohl um ein Missverständnis gehandelt, doch der Vertrauensschaden blieb: Der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel stellte anschließend Wirtschaftshilfen für die Türkei infrage und verschärfte die Reisehinweise für das Land.

Der deutsche Leuchtenhersteller Trilux zog daraufhin alle Investitionspläne für das Land zurück.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) war lange über den Ausnahmezustand besorgt. Er halte Investoren davon ab, sich stärker in dem ansonsten lukrativen türkischen Markt zu engagieren. Das jährliche Handelsvolumen zwischen beiden Ländern lag zuletzt bei 37 Milliarden Euro. Doch mit der Einführung des Ausnahmezustands und den politischen Spannungen ging der Handel leicht zurück.

Es sei sogar mit einem „Rückgang von bis zu zehn Prozent zu rechnen“, befürchtete DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier im vergangenen Jahr. Teure Kredit- und Konjunkturprogramme, die parallel zum Ausnahmezustand eingeführt worden waren, hatten die Wirtschaft zwar befeuert. Ansonsten liest sich die wirtschaftliche Bilanz für den Zeitraum des Ausnahmezustands jedoch eher wie eine Bankrotterklärung.

Die Lira fällt weiter

So stand der Wechselkurs der Türkischen Lira zum US-Dollar zu Beginn des Ausnahmezustands am 19. Juli 2016 laut der Tageszeitung Cumhuriyet bei 2,98 Lira pro Dollar. Inzwischen sind 4,98 Lira für einen Dollar fällig. Zum Euro hat sich das Verhältnis von anfangs 3,29 auf 5,81 Lira pro Euro verschlechtert.

Die Schulden von Unternehmen in ausländischer Währung haben sich von 206 auf 243 Milliarden US-Dollar erhöht. Und je schwächer die Lira wird, desto teurer werden diese Schulden. Umgerechnet zu den jeweils aktuellen Wechselkursen haben sie sich von etwa 600 Milliarden Lira im Juli 2016 auf nun 1.210 Milliarden Lira verdoppelt.

Auch andere makroökonomische Daten zeigen die wirtschaftliche Misere, die der Ausnahmezustand hinterlässt. So lag das Budgetdefizit im Juli 2016 bei 129 Millionen Lira, inzwischen hat es sich auf 25,6 Milliarden fast verzwanzigfacht. Die Inflation ist von 7,64 auf aktuell 15,39 Prozent angestiegen.

„Inzwischen droht eine Überhitzung der Ökonomie“, lautet die noch sanfte Warnung vieler Ökonomen und Analysten. Die Wirtschaftsexperten des Kreditversicherers Atradius gehen davon aus, dass der Türkei weiterhin wirtschaftlich turbulente Zeiten bevorstehen. Die Produktionsaktivitäten gingen zurück und das private Kreditwachstum flachte ab.

„Für Exporteure bleiben die Unwägbarkeiten im Türkeigeschäft durch den Wertverlust der Lira, die hohe Verschuldung vieler türkischer Abnehmer sowie deren steigende Beschaffungskosten vorerst bestehen“, befürchtet Thomas Langen, Türkeiexperte bei Atradius.

Zudem drohen Kapitalabflüsse, sollten die US-Zinsen weiter steigen. Denn die Türkei leidet obendrein als Schwellenland ganz besonders unter der globalökonomische Lage. Der ehemalige türkische Finanzminister Mehmet Simsek betonte im Interview mit dem Handelsblatt im Juni, einige Probleme der türkischen Wirtschaft seien global bedingt, andere wiederum hausgemacht.

Das türkische Bankenwesen gelte zwar noch als relativ stabil, jedoch könnten auch einzelne Kreditinstitute unter zunehmend ausfallenden Krediten infolge der höheren Schuldenlast der Firmen und einer erschwerten Refinanzierung in Schieflage geraten. Die größten Risiken für Zahlungsausfälle sieht er in den Branchen Bau, Textil, Metall sowie Einzelhandel.

„Sollte die Türkei ihre wirtschaftlichen Probleme nicht in den Griff bekommen, droht nach dem Wachstumsjahr 2017 das Szenario einer harten Landung“, so Atradius-Analyst Langen. Er warnt: „Die Schuldenlast ist bei zahlreichen Abnehmern mittlerweile sehr bedenklich und lässt das Risiko für einen Zahlungsausfall bei Lieferanten und Dienstleistern deutlich ansteigen.“

Der türkischen Führung scheint die desolate ökonomische Lage bewusst. Der Sprecher von Präsident Erdogan, Ibrahim Kalin, erklärte in einer Pressekonferenz am Freitag, die Wirtschaft sei das Topthema der derzeitigen politischen Beratungen in Ankara.

Er ging auch auf Befürchtungen von Marktteilnehmern ein, die im Zuge des Putschversuches und des anschließenden Ausnahmezustandes von einer drohenden Krise in dem Land geredet haben. „Doch Gott sei Dank hat sich keine dieser Prophezeiungen bewahrheitet“, erklärte Kalin.

AHK-Experte Kaiser hofft auf eine Renaissance der Türkei, was Neuinvestitionen aus dem Ausland angeht, will aber angesichts des Endes vom Ausnahmezustand realistisch bleiben: „Es bleibt abzuwarten, inwieweit dies dazu führt, dass das Vertrauen neuer Investoren langfristig zurückkehrt.“

Er ist sich jedoch sicher: „Trotz der bestehenden Herausforderungen bietet der Wirtschaftsstandort Türkei ausländischen Investoren – nicht zuletzt aus Deutschland – noch großes Potenzial.“