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Warum Erdogan jetzt auf eine starke Lira setzt

Mit dem Wechsel beim Finanzmanagement läutet der türkische Präsident eine neue Ära ein. Das hat mit der wirtschaftlichen Lage zu tun – und mit Erdogans Außenpolitik.

Wer den türkischen Staatspräsidenten in den vergangenen Wochen beobachtet hat, der konnte zwei Erdogans erleben. Der eine Erdogan sprach von einem „Wirtschaftskrieg“, in dem die Türkei sich befände. Man müsse sich gegen eine Lobby von Zinsverfechtern und Wechselkursspekulanten zur Wehr setzen.

Der zweite Erdogan trat Anfang dieser Woche auf die Bühne. „Die Türkei ist entschlossen, das Risiko zu senken und die Rendite für Anleger zu steigern“, erklärte er und verspricht nun einen Politik-Mix, der den Erwartungen internationaler Anleger wieder mehr Beachtung schenken soll.

Der alte Notenbankchef ist raus, ebenso der Finanzminister. An ihre Stelle traten AKP-Politiker, die mit ihren Aussagen sofort die Lira stärkten – und den ersten, den alten Erdogan eigentlich bloßgestellt hätten.

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Hinter dem Sinneswandel steckt System. Mit der Kehrtwende sichert sich die türkische Führung nicht nur Wählerstimmen, sondern auch die nötige Freiheit in der Außenpolitik.

Die Lira hat seit Jahresbeginn ein Drittel an Wert verloren. Die Inflation ist auf 11,89 Prozent gestiegen. Das hat den Unternehmen zwar viele Exporte und gute Quartalszahlen beschert. Doch immer mehr Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden mit dem Wirtschaftsmanagement der Regierung in Ankara. Und damit potenzielle Wählerinnen und Wähler, die in spätestens drei Jahren ihr Kreuz bei der AKP machen sollen. Erdogan wusste, dass er etwas dagegen unternehmen muss.

Hinzu kommt, dass die schwache Lira zwar die Exporte türkischer Unternehmen beflügelt hat. Je schwächer die Lira ist, desto günstiger werden die Produkte im Ausland, etwa Maschinen, Autos oder Lebensmittel. Doch im Zuge einer zweiten Infektionswelle während der Covid-19-Pandemie dürfte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weltweit wieder sinken. Es würden also ohnehin weniger Güter nachgefragt werden, auch türkische.

Außerdem kann die Lira nicht ewig immer billiger werden. Das würde die Exporte zwar ständig verbilligen, hat aber auch einen Nachteil: Die Auslandsschulden türkischer Unternehmen und des Staates steigen umgekehrt an.

Die Schulden steigen immer weiter an

Die Netto-Auslandsverschuldung der türkischen Volkswirtschaft lag im Juli bei 256,5 Milliarden US-Dollar. Vor vier Jahren waren das umgerechnet rund 800 Milliarden Lira. Inzwischen sind es, wegen des schwächeren Umrechnungskurses, fast zwei Billionen Lira. Die Unternehmen müssen einen immer größeren Teil ihres Umsatzes für die Schuldentilgung aufwenden, wenn die Lira weiter an Wert verliert.

Nach Einschätzung der Commerzbank hätte die Türkei eine weitere Abwertung der Lira um 15 bis 20 Prozent nicht verkraften können, ohne dass dies zu einer Welle von Zahlungsausfällen bei privaten Fremdwährungsverbindlichkeiten geführt hätte.

Das lähmt nicht nur die Wirtschaft des Landes, sondern auch die Außenpolitik aus Ankara. Obwohl es unter den außenpolitischen Prinzipien der Ära der AKP keines gibt, in dem die Wirtschaft direkt zitiert wird, ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu einem der grundlegenden Elemente der türkischen Geopolitik geworden.

Das zeigen Beispiele aus mehreren Branchen. So produzieren türkische Firmen inzwischen eigene Drohnen und andere Waffen. Auch ein eigenes Elektroauto will die Türkei bis 2023 auf die Straße bringen.

Schon die politischen Entscheidungsträger in der ersten Amtszeit der Regierung der AKP vor über 15 Jahren betrachteten die Auslandsverschuldung der Türkei als das bedeutendste Hindernis für eine aktive Außenpolitik. Das beschrieb unter anderem der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in seinem Buch „Strategische Tiefe“.

Der „begrenzende Faktor“ in der Außenpolitik

Dass die Türkei eine Schuldenlast hat, wird dabei in Ankara seit über einem Jahrzehnt als „begrenzender Faktor“ bei der Verfolgung einer aktiven Außenpolitik angesehen. Der Grund: Eine hohe Verschuldung kann die außenpolitische Freizügigkeit einschränken.

Vor allem dann, wenn der Gläubigerstaat diese Schulden als Hebel nutzt, um die Ambitionen der AKP einzuschränken. So drohte der scheidende US-Präsident Trump damit, die türkische Wirtschaft „zu zerstören“, wenn die Türkei einen gefangen genommenen US-Pastor nicht freilasse. Ankara hatte den Mann wohl als Hebel benutzt, um ihrerseits die Auslieferung des mutmaßlichen Rädelsführers eines Putschversuchs, Fetullah Gülen, zu erzwingen.

Trump setzte mit seiner Aussage im Sommer 2018 einen Lira-Schock in Gang. Damals verlor die Lira schnell an Wert. Die Auslandsschulden türmten sich in den Bilanzen der Banken. Daraufhin stieg die Inflation zeitweise auf über 30 Prozent, die Volkswirtschaft rutschte in eine Rezession. Das Resultat: Der US-Pastor durfte in die Heimat zurück, während Gülen immer noch in den USA leben darf. Die Regierung hatte ein politisches Ziel verfehlt, weil die Wirtschaft angreifbar war.

Die Betrachtung der Auslandsverschuldung macht die Wirtschaft zu einem Teil der außenpolitischen Entscheidungsfindung. Nach dem Motto: „Wir müssen selbstbewusst handeln, als ob wir keine Auslandsverschuldung hätten.“

Angesichts einer Währung, die seit Jahresbeginn ein Drittel an Wert verloren hat, musste die Administration in Ankara realistisch genug sein, um zu berechnen, wie sie diese Belastung verringern kann. Eine stärkere Lira ist der Schlüssel dazu. Das scheint Erdogan antizipiert zu haben.