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Einmal Dunkel-Deutschland und zurück: Was die ProSieben-Recherche über "neue Rechte" aufdeckte

Schon seit Tagen herrscht Aufregung um eine kurzfristig ins Programm gehobene ProSieben-Sendung: Reporter Thilo Mischke hat für die Doku "Rechts. Deutsch. Radikal." 18 Monate lang in der rechten Szene recherchiert. Hat er dabei wirklich Skandalöses aufgedeckt? Am Montag wurde der zweistündige Film ausgestrahlt.

Er berichtete über "Deutsche an der ISIS-Front", deckte fragwürdige Produktionsbedingungen in der Bekleidungsindustrie in Bangladesh auf, und in Mexiko bekam er es mit beinharten Schwerbrechern zu tun. Doch noch nie hat ProSieben-Investigativreporter Thilo Mischke (39) bereits im Vorfeld einer Ausstrahlung derart für Furore gesorgt wie diesmal mit seiner Recherche über die "neue Rechte" in Deutschland. "ProSieben schockt mit Doku über rechtsextreme Szene", titelte etwa die "Berliner Morgenpost", und die AfD-Bundestagsfraktion sah sich am Montag sogar genötigt, einem ehemals hochrangigen Funktionär im Zusammenhang mit Mischkes Film zu kündigen. Dabei war erst am Freitagabend bekannt geworden, dass ProSieben das Werk mit dem Titel "Rechts. Deutsch. Radikal." ins Programm genommen hat. Schon die bloße Ankündigung traf voll ins Epizentrum der ultranervösen Gemengelage dieser Tage.

Dabei ist Mischkes Doku alles andere als ein Schuss aus der Hüfte, sondern das Ergebnis einer aufwendigen Recherche. Insgesamt 18 Monate lang arbeitete er nach eigener Aussage an dem Film. Dass er den am Montagabend ausgestrahlten Beitrag überhaupt in der Art produzieren konnte, hat viel mit einem darin von ihm selbst formulierten Kernsatz zu tun: "Die rechte Szene in Deutschland versteckt sich nicht mehr!"

Dem Werk mangelte es nicht an freimütigen Gesprächspartnern. Mischke erklärte, er habe die Recherche begonnen, um den Gründen für eine rechte Gesinnung auf die Spur zu kommen, und betonte ausdrücklich, dass er nicht nur über Rechte reden wollte, sondern auch mit ihnen. Um zu verstehen, was sie antreibt und woher diese "Sehnsucht nach Rechts" kommt, hat er persönliche Interviews geführt. Teils war er undercover im Einsatz, um "Verborgenes sichtbar zu machen".

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"Seit 20 Jahren arbeite ich als Journalist, dieser Film ist meine bislang intensivste und längste Recherche", gab Mischke zu Protokoll. "Selten hat mich ein Thema so bewegt, und selten war ich davon überzeugt, dass gerade jetzt die Zeit richtig ist, über Rechtsextremismus zu sprechen", erklärte der ProSieben-Reporter, der am späten Montagabend auch in Klaas Heufer-Umlaufs Sendung "Late Night Berlin" über die Hintergründe seiner Story informierte.

Der politische und gesellschaftliche Hintergrund

Vor fast genau einem Jahr sorgte die Berichterstattung über ein Geheimpapier des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) für Aufsehen: Die Behörde, so hieß es in der Recherche von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung", gehe von einer "Lageverschärfung im Bereich Rechtsextremismus" aus. Die Szene verändere sich "nachhaltig", worauf sich der Inlandsnachrichtendienst einstellen müsse. Damals, ein gutes Jahr nach den schlagzeilenträchtigen Ausschreitungen Rechtsextremer am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz und rund drei Monate nach dem Mord an den CDU-Politiker Walter Lübcke, konnte keiner wissen, was da noch alles kommen würde. Inzwischen sind in Halle und Hanau bei rechtsextremistisch motivierten Straftaten weitere Menschen ums Leben gekommen. Und auf sogenannten "Hygiene-Demos" gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie laufen selbsternannte "Querdenker" aller Couleur neben Neonazis durch die Innenstädte, während im Netz Hass und Verschwörungstheorien immer hemmungsloser Verbreitung finden.

Es braucht kein Geheimpapier mehr, um zu erkennen, dass die Lage nicht mehr nur angespannt, sondern längst brandgefährlich ist. Andererseits ist die Situation stark von subjektiven Wahrnehmungen und Gefühlen geprägt, weshalb sich eine Recherche zu dem Thema zwangsläufig auf dünnes Eis begibt. Thilo Mischke war sich dessen bewusst. Seinem Film merkte man in jedem Moment das Bemühen um eindeutige Zitate, klare Bilder und Fakten an. "Das vom Rechtsterrorismus in Deutschland eine große Gefahr ausgeht, beweisen auch die Zahlen", hob Mischhke an: "mindestens 208 Tote durch rechte Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Mehr als 30.000 Menschen gelten in Deutschland als rechtsextrem - knapp die Hälfte von ihnen als gewaltorientiert."

"Grenze des Sagbaren verschoben"

"Wie rechts ist Deutschland?" - Auf diese Kernfrage potenzierte sich der ganze Beitrag. "Auf jeden Fall rechter als noch vor zehn Jahren", lautete die Antwort, die der Autor Christian Fuchs ("Das Netzwerk der neuen Rechten") gab. Er sprach von neuen Organisationen, die das Land nach rechts verschoben hätten, und davon, dass die Grenze des Sagbaren verschoben worden seien. "Pegida war die Büchse der Pandora", befand Fuchs, der glaubt, dass es viele Jahre dauern würde, "bis diese Grenze des Sagbaren wieder in moralisch vertretbare Linien gebracht" werden könne. Und auch wenn heute vielleicht nicht mehr ganz so viele Menschen bei Pegida mitlaufen würden: "Es ist da: in den Foren, in Chats, im Netz."

Doch was genau ist dieses "Es", woher kommt es? - Mischke machte sich auf eine lange Reise, um dies herauszufinden. Er begann im Sommer 2019 auf einem Rechtsrock-Festival in Ostritz, wo er all das mit der Kamera einfing, was wohl die meisten von einer solchen Veranstaltung erwarten: reichlich stiernackige Typen mit Tattoos und obskurer T-Shirt-Beflockung - ansonsten "viel Gewese", wie Mischke es formulierte, um die Arbeit von Reportern, aber nichts, was man nicht schon in anderen einschlägigen TV-Dokus gesehen hat. Fabian Wiechmann, Ausstiegsberater bei "Exit"-Deutschland", warnte im Gespräch mit Mischke jedoch davor, das Ganze zu unterschätzen. So ein "Happening" gehe über die Musik hinaus und sei ideologisch wie politisch bedeutsam für die sich ausbreitende Szene.

Ein komplett anderes Bild offenbarte sich Mischke bei einer Pegida-Demo im Oktober in Dresden. Statt Tattoos und anderer Klischees war die Szenerie, so wie man das ebenfalls kennt, von in optischer Hinsicht normalen Leuten geprägt. Dennoch musste der Reporter ein "beklemmendes Phänomen" konstatieren. Nicht nur ihm ist es angesichts der kolportierten Pogromstimmung eiskalt den Rücken hinuntergelaufen, denn zu den Sprechchören der Marke "Lügenpresse" oder "Widerstand" gesellten sich einige nicht zitierfähige Tiraden, etwa gegen Kanzlerin Angela Merkel. "Der einzelne Mensch scheint in der Menge zu verschwinden und Hassparolen kommen an die Oberfläche - offen und schamlos artikuliert", brachte es Mischke auf den Punkt.

Junge Influencer und ein neuer Lifestyle

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, woher Hass und Rechtsruck kommen, wurde Mischke zwar auch im Folgenden kaum fündig, doch dafür gelang ihm die Zustandsbeschreibung der rechten Szene in Deutschland umso eindrücklicher. Sein Film leuchtete das Phänomen der neuen Rechten aus allen denkbaren Perspektiven aus. Er blickte etwa auf die Identitäre Bewegung, die die Entwicklung "weg vom Springerstiefelnazi, hin zum rechtsextremen Hipster" forciere. Und auch der AfD wurde viel Raum gegeben. Sie habe "eine krasse Polarisierung unserer Gesellschaft erreicht", sagte Autor Christian Fuchs: "dass tiefe Gräben durch die Familien gehen, dass Menschenfeindlichkeit wieder zum Alltag gehört." Die Siege der AfD (Mischke berichtete von einer Wahlparty zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg) seien für ihn auch ein Erfolg der Medienstrategie, die es schaffe, die Onlinewelt für sich zu nutzen.

In der Tat: Haften bleibt vor allem die Fokussierung einiger rechter Influencer. Zu Wort kamen junge Leute wie ein zum Zeitpunkt des Treffens 17-Jähriger, der auf Mischke wirkte, "wie ein alter Mann, der einer untergegangenen Welt hinterhertrauert". Oder der Dortmunder Rechtsextremist Alexander Deptolla, der die in einschlägigen Kreisen beliebte Kampfsport-Veranstaltungsreihe "Kampf der Nibelungen" organisiert und mit Mischke frank und frei über seine Sozialisierung in der Szene sprach. "Die ganze Ideologie strahlt Stärke aus", findet er. Er werde "immer Patriot und Nationalist bleiben".

Spektakulärste Protagonistin war aber fraglos YouTuberin Lisa Licentia. Die 26-Jährige gehörte beim ersten Interview mit Mischke noch zu den Aufsteigern der Szene, die es mit scharfer Migrationskritik zur Meinungsmacherin mit tausenden Followern geschafft hat. - "Ein Shootingstar der rechtsextremen Szene", fasste der Rechtsextremismusexperte Miro Dittrich (Amadeu Antonio Stiftung) den rasanten Werdegang der Bloggerin zusammen: "Es funktioniert natürlich besser, menschenverachtende Positionen mit einem schönen Gesicht zu verkaufen."

Wenig später wurde deutlich, unter welchem Druck die junge Mutter schon seinerzeit offenbar stand. Unter Tränen gestand sie Mischke am Rande einer Fraktionssitzung der AfD im Bundestag, dass sie zwischen alle Fronten geraten sei, von allen Seiten beschimpft werde und allmählich begriffen habe, in welcher Art sie instrumentalisiert werde. "Ich wollte die ganze Scheiße nie. Bin da so reingeschlittert und häng' total drin", schluchzt sie vor laufender Kamera. "Die Menschen sind so abartig, das hat nichts mehr mit dem zu tun, weshalb ich angefangen habe." Später ist zu erfahren, dass Lisa Licentia an einem Aussteigerprogramm teilnimmt.

Monate nach dieser Wendung war es diese Frau, die Mischke zum Coup verhalf. Sie sei die "permanenten Relativierungsversuche nach verbalen Ausschreitungen leid", erklärte sie, wolle "aufzeigen, dass die AfD weder konservativ noch eine bürgerliche Partei" sei. In einer Berliner Bar traf sie einen ehemals hochrangigen Funktionär der Partei. - Eine versteckte Kamera filmte mit. Der Mann wurde im Film weder namentlich genannt noch wurde er als Person gezeigt, doch der per Gedächtnisprotokoll nachgesprochene Gesprächsinhalt ließ einen erschaudern. Der Satz: "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD", war nur eine der Ungeheuerlichkeiten. "Das ist das Gegenteil von dem, was ich will", lautete Lisa Licentias ernüchtertes Resümee.

Das sagt der Verfassungsschutz

Am Ende gab es kaum neue Erkenntnisse, aber es offenbarte sich ein umfassendes Bild einer erstaunlich komplexen Szene und einer durchaus jungen Bewegung. Die Rechte tritt augenscheinlich immer unverhohlener und selbstbewusster auf. Stephan Kramer, Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, weiß, dass all das Ergebnis eines langen Prozesses ist. Die Entwicklung sei "nicht vom Himmel gefallen", sagte er und sprach von einem rechtsextremistischen Lifestyle, den es für seine Behörde zu "demaskieren" gelte.

Ein umso schwierigeres Unterfangen angesichts der Tatsache, dass sich die Bewegung zur sogenannten "Mosaikrechten" formiert habe: Einst zerstrittenen Gruppierungen agierten nicht mehr gegeneinander, so Kramer, sondern Hand in Hand. Seine Aufgabe sehe er darin, "diese Netzwerke in ihrer Diversität und Breite aufzuklären, und zwar mit Hochdruck". Denn: "Wenn ich mir die Entwicklung der letzten fünf, sechs Jahre anschaue, mache ich mir ernsthaft Sorgen um die Demokratie in unserem Land", konstatierte der Verfassungsschützer.

Thilo Mischke stimmte im Fazit ähnliche Töne an. Man dürfe "die Augen nicht verschließen", müsse "wachsam bleiben", forderte er. Neben Politik und Justiz sei "da auch jeder Einzelne von uns gefragt", betonte der ProSieben-Reporter. "Wir dürfen nicht zu Mitläufern werden, nicht stillschweigen, wenn unsere Sprache verroht und wir die Demokratie in Gefahr sehen." Mischke rief dazu auf, Verantwortung zu übernehmen - "denn wir sind mehr". Und: "Empathie und Mitgefühl sind unsere wichtigsten Werkzeuge. Denn wer mitfühlt, kann nicht gegen andere sein."