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Es könnte ein heißer Streikherbst im öffentlichen Nahverkehr drohen

Die Gewerkschaft Verdi will mit einem bundesweiten Rahmentarifvertrag die Arbeitsbedingungen verbessern. Rückendeckung kommt von Klimaschützern.

Wochenlang fuhren Busse, Trams und S-Bahnen seit März fast leer durch die Innenstädte – zu groß war die Angst der Fahrgäste vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Erst nach der Ferienzeit wird der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) wohl wieder stärker gefragt sein. Den ohnehin meist mit Defiziten kämpfenden kommunalen Verkehrsbetrieben hat der Fahrgastschwund massive Einnahmeverluste beschert.

Doch die halten die Gewerkschaft Verdi nicht davon ab, von den Arbeitgebern eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen im ÖPNV zu fordern, die richtig ins Geld gehen wird. Sie fordert unter anderem 30 Urlaubs- sowie zusätzliche individuelle Entlastungstage für die Beschäftigten, neue Überstundenregelungen, Weihnachtsgeld in Höhe von 100 Prozent eines Tarifgehalts und eine Neuberechnung von Zulagen.

Weil viele Arbeitnehmer absehbar in den Ruhestand gingen, benötige die Nahverkehrsbranche bis 2030 etwa 100.000 neue Beschäftigte, sagte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin. „Wenn die Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden, wird das Interesse, sich zu bewerben, gering und das dringend benötigte Personal nicht zu finden sein“, warnte sie.

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Die Gewerkschaft hat deshalb die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zu Verhandlungen über einen bundesweiten Rahmentarifvertrag für den Nahverkehr aufgefordert. Die Gespräche, die im August beginnen sollen, laufen unabhängig von der im Herbst anstehenden Tarifrunde für die öffentlich Bediensteten beim Bund und bei den Kommunen.

In allen 16 Bundesländern sind die Tarifverträge für den Nahverkehr einheitlich zum 30. Juni dieses Jahres gekündigt worden. Verdi hatte fünf Jahre lang auf einen synchronen Termin hingearbeitet. Sollte es im Zuge der Tarifrunde zu Arbeitskämpfen kommen, kann die Gewerkschaft so durch Streiks in ganz Deutschland Druck aufbauen. Verhandelt wird für mehr als 87.000 Beschäftigte in 130 kommunalen Verkehrsbetrieben.

Starke Unterschiede von Land zu Land

Von Bundesland zu Bundesland gebe es erhebliche Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen, sagte Behle. So schwanke die Zahl der Urlaubstage zwischen 26 und 30 pro Jahr. Das Einstiegsgehalt eines Bus- oder Bahnfahrers liege in Brandenburg bei knapp 2167 Euro, in Nordrhein-Westfalen bei 2419 Euro.

Der Sparkurs im öffentlichen Nahverkehr, der mit der Öffnung für den europäischen Wettbewerb Anfang der 2000er-Jahre eingesetzt habe, sei lange auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen worden. Laut Behle ist der Anteil der Personalkosten am betrieblichen Gesamtaufwand zwischen 2000 und 2016 von 46,5 auf 37 Prozent gesunken.

Überstunden, Stress und steigende Krankenstände seien die Folgen des Sparkurses und einer zunehmenden Personalknappheit. In einer Beschäftigtenbefragung gaben 71 Prozent der ÖPNV-Mitarbeiter an, regelmäßig bis zu 3,1 Überstunden pro Woche zu leisten. Gut drei von vier Befragten würden gerne ihre Arbeitszeit senken.

Behle weiß aber auch, dass die Kommunen allein die Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht stemmen können: „Wir brauchen dafür Geld von Bund und Land“, sagte sie. Dort dürfte sich die Zahlungsbereitschaft allerdings in Grenzen halten – haben Bund und Länder doch gerade erst einen Corona-Rettungsschirm für den ÖPNV gespannt.

Mitte Juni hatten sie sich darauf verständigt, den öffentlichen Nahverkehr mit einmalig fünf Milliarden Euro zu stützen und so Einnahmeausfälle abzufedern. Die Verkehrsminister hatten zuvor Rückgänge von „70 bis 90 Prozent“ verzeichnet. Dennoch hatten die Unternehmen auf Wunsch von Bund und Ländern „annähernd 100 Prozent der Regelleistung“ erbracht, wie es in einer Beschlussvorlage der Verkehrsministerkonferenz von Mitte Mai hieß.

Behle ist überzeugt, dass der Ausgleich der Einnahmeausfälle dank des Rettungsschirms weitgehend gelingt und Busse und Bahnen zudem bald wieder voll sein werden, etwa wenn der Schulbetrieb wieder startet. Sie sieht deshalb keine Notwendigkeit, wegen Corona Abstriche bei den Gewerkschaftsforderungen zu machen, deren Volumen sie noch nicht beziffern kann.

Fahrgastaufkommen noch deutlich unter Vorkrisenniveau

Nach Angaben des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) lag das Fahrgastaufkommen Ende Juni in den Großstädten und Ballungsräumen erst wieder bei 50 bis 60 Prozent des Vorkrisenniveaus, im ländlichen Raum geringer.

Für Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) kommt die Gewerkschaftsforderung, die bereits Ende März beschlossen worden war und trotz der Pandemie nicht modifiziert wurde, zur Unzeit: „In der aktuellen Corona-bedingten Krise des öffentlichen Verkehrs mit deutlich weniger Fahrgästen muss der Erhalt der Arbeitsplätze erst mal im Vordergrund stehen, sagt Hermann.

Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, die Fahrgastzahlen im öffentlichen Personennahverkehr bis zum Jahr 2030 zu verdoppeln, und dazu eine Expertenkommission eingesetzt, die ein Maßnahmenpaket schnüren soll. „Um unsere Klimaschutzziele und die Verdoppelung der Nutzung des ÖPNV bis 2030 zu erreichen, brauchen wir ein besseres und leistungsfähiges Angebot“, sagt Hermann. „Gute Arbeitsbedingungen und gute Bezahlung gehören dazu.“

Die Klimaziele sind auch für Gewerkschafterin Behle ein Grund, den öffentlichen Nahverkehr zu stärken. „Wir sind fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland dringend eine Verkehrswende brauchen“, sagte sie.

Verdi plant deshalb gemeinsame Aktionen mit der Klimabewegung Fridays for Future. Schon am Freitag werde es Aktionen in zehn Städten geben, kündigte Fridays-for-Future-Aktivistin Helena Marschall bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Behle an. Und im Falle von Arbeitskämpfen werde man sich mit den Beschäftigten solidarisieren.