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Das Diesel-Debakel: Daimler steht vor unangenehmen Zeiten

Im Dieselskandal wehren sich immer mehr Mercedes-Kunden. Daimler droht eine Sammelklage – und eine für die Branche weitreichende Entscheidung durch den EuGH.

Dieter Zetsche war sich seiner Unschuld sicher. Der Dieselskandal war gerade zwei Monate alt, da ließ der damalige Daimler-Chef keinen Zweifel daran, dass sein Unternehmen nichts mit Abgastricks zu tun hatte. „Zum Thema Diesel kann ich mich kurzfassen“, versicherte er im November 2015 auf dem Tag der Automobilwirtschaft in Nürtingen. „Wir haben bei Daimler nie betrügerische Software eingesetzt, und werden das auch nicht tun.“

Vier Jahre später erscheint Zetsches Aussage gewagt. Daimler stehen entscheidende Monate bevor. Sie könnten das Gegenteil dessen ans Licht bringen, was Zetsche behauptete.

Nach Informationen des Handelsblatts wird das Diesel-Thema den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und damit die höchste Justizebene erreichen. Der im Abgasskandal als besonders akribisch bekanntgewordene Stuttgarter Richter Fabian Richter Reuschle hat angekündigt, die wichtigsten Streitpunkte nun in Luxemburg vorzulegen – und hat in einer vorläufigen Analyse deutlich Stellung gegen das Unternehmen bezogen. Seine 74 Seiten lange Stellungnahme liegt dieser Zeitung vor.

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Darin betont Reuschle unter anderem, dass seiner Meinung nach die Abgas-Grenzwerte nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch im Straßenbetrieb grundsätzlich einzuhalten seien. Der Richter, der in den Medien plakativ als „Angstgegner der Autobosse“ bezeichnet wurde, hält zudem einen finanziellen Abzug für die bisherige Nutzung der Fahrzeuge für unrechtmäßig.

Das EuGH-Verfahren könnte damit zugleich zum Desaster für viele andere Hersteller werden. Denn die Fragen, die Reuschle beantwortet haben will, sind konzernübergreifend relevant. „Nicht nur bei Daimler oder VW überschreiten die Abgasgrenzwerte im Normalbetrieb die auf dem Teststand teils um ein Vielfaches“, sagt Klägeranwalt Torsten Krause von der KAP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. „Die Chancen auf Schadensersatz würden sich deutlich erhöhen.“

2000 Klagen in Stuttgart

Schon die Ausgangssituation ist für Daimler problematisch. Aus Sicht des Kraftfahrtbundesamts (KBA) hat der Konzern bei einigen Modellen eine unzulässige sogenannte Abschalteinrichtung verbaut, eine Software, um beim Abgasausstoß zu tricksen. Bislang hat das Flensburger Amt drei Bescheide erlassen, mit denen der Rückruf von mehr als einer Million Mercedes-Fahrzeugen angeordnet wurde.

Daimler steht unter anderem im Verdacht, das Harnstoffgemisch Adblue, das die giftigen Stickoxide neutralisiert, nur in Prüfsituationen, nicht aber auf der Straße in ausreichender Menge eingespritzt zu haben. Dabei soll ein sogenanntes Thermofenster zum Einsatz gekommen sein. Die Abgasreinigung wurde danach in vielen Temperaturbereichen des Motors abgeschaltet.

Daimler will zwar juristisch seine Unschuld beweisen und hat deshalb die KBA-Bescheide angefochten. Gleichzeitig beorderte das Unternehmen jedoch bereits die überwiegende Zahl der betroffenen Fahrzeuge zwangsweise in die Werkstätten zurück. Zugleich rüstet der Konzern freiwillig drei Millionen Autos um. Ein Drittel dieser Arbeit sei bereits erledigt, sagt ein Daimler-Sprecher.

Die bisher aufgelaufenen Kosten sind immens, alleine im ersten Halbjahr 2019 legte der Konzern mehr als zwei Milliarden Euro für Rückrufe und Rechtsverfahren beiseite. Jüngst akzeptierte Daimler ein Bußgeld der Staatsanwaltschaft Stuttgart über 870 Millionen Euro. Die Ermittler im Dieselskandal gehen von einer Verletzung der Aufsichtspflicht zumindest auf Abteilungsleiter-Ebene aus.

Für Klägeranwälte ist das allein schon ein Angriffspunkt. „Entweder Daimler gibt zu, dass sie Mist gebaut haben“, sagt Rechtsanwalt Christoph Lehnen von der Kanzlei Lehnen & Sinnig in Trier. Dann dürfte das Unternehmen die KBA-Bescheide eigentlich nicht anfechten, in denen die Behörde von illegalen Abschalteinrichtungen ausgeht. „Wenn sie aber sagen, sie haben nichts falsch gemacht, dürfen sie eigentlich das horrende Bußgeld nicht akzeptieren.“

Hinter verschlossenen Türen erwägt die Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) deshalb, eine Musterfeststellungsklage gegen Daimler einzureichen. Tausende Aktionäre und Dieselfahrer könnten so gebündelt gegen den Autobauer wegen Schadensersatz vorgehen.

Konkret äußern will sich der Verband dazu nicht. Man prüfe aber, ob auch Verfahren gegen andere Autohersteller in Betracht kommen, so Ronny Jahn vom VZBV. „Die Musterklage eignet sich aber nicht für Schnellschüsse, wir brauchen eine solide Tatsachengrundlage.“ Der Jurist betreut beim VZBV die Musterfeststellungsklage gegen VW, der sich knapp eine halbe Million potenziell Diesel-Geschädigte angeschlossen haben.

Daimler gerät unter Druck

Auch wenn es um individuelle Klagen von Autokäufern geht, gerät Daimler zunehmend unter Druck. Das zeigt eine Untersuchung des Handelsblatts. Dafür wurden zahlreiche Urteile im Fall Daimler durchgesehen. Laut Daimler wurden zwar bisher 928 Klagen abgewiesen und nur 62 stattgegeben. Doch die allermeisten Fälle sind noch nicht entschieden.

Und vor der eigenen Haustür, am Landgericht Stuttgart, bekommt der Hersteller zunehmend Ärger. Dort liegt der Großteil der Klagen. Von den insgesamt mehr als 4000 Prozessen landeten bisher allein rund 2000 in Stuttgart. „Die Welle der VW-Klagen hat in Baden-Württemberg alle Landgerichte gleichermaßen belastet. Demgegenüber ist das Landgericht Stuttgart von den Klagen gegen Daimler so betroffen wie bundesweit kein anderes Gericht“, erklärt Gerichtspräsident Andreas Singer.

Allen voran Richter Reuschle, der gleichzeitig an der 3. und 22. Kammer Dienst tut. Er will jetzt 22 seiner Verfahren bündeln und dem EuGH vorlegen. Reuschle führte in der Verhandlung dazu nicht nur umfassend aus, warum er das Verfahren nach Luxemburg gibt. Er lässt die Beteiligten auch wissen, wie er die Hauptstreitpunkte beurteilt. In allen wesentlichen Punkten negativ für Daimler.

So lässt er wenig Zweifel daran, dass er die europäischen Abgas-Bestimmungen anders beurteilt als die deutsche Autolobby. Autos, so Reuschle, müssten nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch auf der Straße die Emissionsgrenzwerte einhalten. Daimlers Thermofenster sei auch nicht durch Bauteile-Schutz zu rechtfertigen. Die Hersteller hätten ja „eine Versottungsgefahr durch andere Maßnahmen“ verhindern können.

Geht es nach Reuschle, müssen sich klagende Kunden die bisherige Nutzung ihres Fahrzeugs auch nicht auf eine Entschädigung anrechnen lassen. Diese „Risikoverteilung“ sei nur für normale Kaufverträge gedacht. In den Diesel-Fällen aber seien manipulierte Fahrzeuge arglistig an gutgläubige Kunden verkauft worden. „Wir sind davon überzeugt, dass die Ansprüche der Kläger in den potenziellen EuGH-Vorlage-Verfahren beim Landgericht Stuttgart unbegründet sind“, sagte dazu ein Daimler-Sprecher.


Ärger für die ganze Branche

All diese Punkte sind nicht nur unangenehm für Daimler. Auch alle anderen Hersteller, die im Dieselskandal wegen Verwendung von Abschaltvarianten im Fokus stehen, dürften vor Luxemburg zittern. Wie Daimler und auch Volkswagen berufen sich die meisten Autobauer unter anderem darauf, dass die Abgas-Grenzwerte nur für den Teststand galten.

Ein Sieg in Luxemburg, so Klägeranwalt Krause, wäre „ein Durchbruch auch für Dieselkäufer anderer Marken“. Auch der Verbraucherzentrale Bundesverband sieht den Schritt zum EuGH positiv. „Wir halten es für sinnvoll, dass der Richter die Sache dem EuGH verlegen will, weil es um grundsätzliche Fragen geht, die fast die gesamte Autoindustrie betreffen und insbesondere auch für Ansprüche gegen VW relevant sein können“, sagt VZBV-Mann Jahn.

Zuvor müssen sich Kläger weiter vor deutschen Gerichten durchsetzen. Daimler betont auf Nachfrage, sich vor den Oberlandesgerichten bisher durchgesetzt zu haben. Vor wenigen Wochen jedoch durchkreuzte mit dem Oberlandesgericht (OLG) Köln erstmals ein höherrangiges Gericht eine beliebte Prozess-Strategie des Konzerns.

Bislang verweigert Daimler der Justiz nämlich den Einblick in die betroffenen Motoren, was Klägern den Beweis von möglichweise illegalen Abgastricks erschwert. So sträubt sich Daimler etwa dagegen, die KBA-Bescheide, in denen die Abschalteinrichtung genau beschrieben sein könnten, den Gerichten vorzulegen.

Wie das Handelsblatt kürzlich enthüllte, erhält Daimler dabei Schützenhilfe vom Bundesverkehrsministerium. Das hatte seine untergebene Behörde, das Kraftfahrt-Bundesamt, darin unterstützt, auch seinerseits den Gerichten die Bescheide zu verweigern. Begründung: Dadurch würden Geschäftsgeheimnisse von Daimler offenbart.

Das OLG Köln machte dieser Praxis nun indirekt einen Strich durch die Rechnung. Geklagt hatte der Besitzer eines 40.000 Euro teuren Mercedes-Diesels der Abgasnorm Euro 5. Vor dem Landgericht Aachen scheiterte er jedoch mit seiner Schadensersatzklage, weil er nach dortiger Auffassung nicht detailreich genug zur Abschalteinrichtung vorgetragen habe.

Das OLG dagegen fand, dass er genug getan habe. „Gerade die sichere Kenntnis von Eigenschaften einer eingebauten Software ist ohne Einblick in die Prozesse und Produktionsabläufe des Herstellers in der Regel nicht möglich“, so das Gericht. Deshalb sei es zunächst einmal prozessual zulässig, Vortrag hierzu „auf Vermutungen zu stützen“.

Das Landgericht Aachen erhält den Fall nun zurück und muss in die Beweisaufnahme eintreten – sehr zur Freude von Klägeranwälten. „Das Oberlandesgericht hat klargestellt, dass auch die Verwendung des sogenannten Thermofensters eine Täuschung der Behörden und der Kunden bedeuten kann“, sagt Sebastian Steffens von der Berliner Kanzlei von Rueden.

Er vertritt den Mercedes-Besitzer. „Gelingt es dem Kläger, diese Abschalteinrichtung zu beweisen, folgt hieraus sein Anspruch wegen vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigung gegen Daimler“, so Steffens.

Richter Reuschle betont in seiner schriftlichen Analyse, dass Klägern bei der Beweisführung nicht Unmögliches abverlangt werden dürfe. „Ohne Zugang zu den Quellcodes können die potenziell Geschädigten die Motorensteuerung weder auswerten noch weiter zu deren Mechanismus vortragen.“ Vorzutragen, dass eine Abschalteinrichtung eingebaut wurde, reiche daher für ihn aus. Andernfalls würden Dieselbesitzer „rechtlos“ gestellt.

Seine Kammer ist nicht die einzige, die sich am wichtigen Gerichts-Standort Stuttgart gegen Daimler wendet. Auch die 20. Kammer hat kürzlich bei zwei weiteren wichtigen Streitpunkten zulasten des Autoherstellers entschieden. Bei den Fragen, ob Daimler unerlaubt Fahrzeuge verkaufte, die nicht hätten zugelassen werden dürfen; und ob der Konzern sich auf fehlenden Vorsatz und Kenntnis der Führung berufen kann.

Die 20. Kammer sprach dem Fahrer eines rund 51.000 Euro teuren GLC 220d 4 Matic Schadensersatz zu. Begründung: Das Fahrzeug sei ohne wirksame Typengenehmigung in Verkehr gebracht worden. Dadurch sei das Vermögen des Mannes einer „konkreten Gefahr“ ausgesetzt gewesen – da „jederzeit die Zulassung widerrufen werden konnte“.

Außerdem, so die Richter weiter, könne sich die Führungsspitze des Konzerns nicht mit Unwissenheit herausreden. Schließlich seien die Vorgaben für Abgas-Tests „so bedeutsam“, dass diejenigen, die bei Daimler mit deren Einhaltung betraut waren, „als verfassungsmäßiger Vertreter“ des Konzerns anzusehen seien.

Daimler betonte, gegen sämtliche negative Landgerichts-Entscheidungen vorzugehen. „Gegen alle diese Urteile haben wir Berufung eingelegt oder werden Berufung einlegen“, so ein Konzern-Sprecher.

Von Tübingen bis Gladbach

Dazu muss der Konzern allerdings mittlerweile überall in der Republik tätig werden. Zwar bestätigen Anwälte, dass immer noch viele Klagen abgewiesen würden. Aber auch außerhalb Stuttgarts verurteilen mittlerweile zahlreiche Landgerichte Daimler, in Tübingen, Karlsruhe, Heilbronn, Frankfurt, Hanau oder Mönchengladbach.

Dabei geht um viele unterschiedliche Diesel-Modelle des Konzerns. Mal gibt es 30.000 Euro für eine E-Klasse, mal 40.000 Euro für ein C-Klasse-Model oder 55.000 Euro für einen Vito.

Es kommt offenbar nicht jedem Richter darauf an, ob die Fahrzeuge Teil eines verpflichtenden Rückrufs des KBA waren. Zumindest sieht es das Landgericht in Mönchengladbach so. Dort haben die Richter festgestellt, dass ein Autobesitzer auch Schadensersatz bekommen kann, wenn das KBA noch keinen amtlichen Rückruf für sein Fahrzeug erlassen hat.

Schließlich habe Daimler „ein Fahrzeug entwickelt und hergestellt, welches über eine unzulässige Abschalteinrichtung (…) verfügt“. Damit droht dem Kläger im schlechtesten Fall das härteste Los für einen Autobesitzer. Ein nachträglicher Entzug der Zulassung – und damit die Stilllegung seines Gefährts.

Auch Ex-Daimler-Chef Zetsche könnte das alles indirekt wieder einholen. Zwar verließ er das Unternehmen im Mai 2019. Die Folgen des Abgasskandals muss nun Nachfolger Ola Källenius durchstehen.

Doch Zetsches Plan, 2021 als Oberaufseher in den Aufsichtsrat von Daimler einzuziehen, könnte nun am Veto der Aktionäre scheitern. Einige Investoren machen ihn für die Diesel-Misere verantwortlich. „Anzeigen in Tageszeitungen ist zu entnehmen, dass Daimler Kunden 100 Euro Prämie zahlt, wenn sie ihr Auto zum Softwareupdate bringen. Das ist eine Aktion, die es bei der Konkurrenz noch nicht gegeben hat“, kritisiert Michael Muders, Portfoliomanager bei Union Investment, einem der 20 größten Daimler-Aktionäre.

Die hohen Rückstellungen für die Rückrufaktionen seien zudem ein deutliches Zeichen, dass grenzwertige Software eingesetzt worden sei. „Hauptverantwortlicher für die hohen Kosten, die nun fällig werden, um die Schummelsoftware auszutauschen, ist Ex-CEO Dieter Zetsche“, grollt Muders. „Wir fordern, dass Zetsche nicht in den Aufsichtsrat zurückdarf.“