Diese Gründerin macht Kunsthaar aus Pflanzen – und überzeugt damit großes Beauty-Unternehmen als Investor
Für Cosima Richardson sind ihre fein geflochtenen Zöpfe, die ihr in vielen akkuraten Bahnen den Rücken runter fallen, nicht nur Haare. Ihre Braids sind ein Stück ihrer deutsch-nigerianischen Identität, Teil ihrer Geschichte – auch als Gründerin.
Denn die 31-Jährige entwickelt nachhaltiges Kunsthaar, das sich speziell an Frauen mit Afrohaaren richtet. Kynd Hair heißt ihr Startup, das Richardson 2023 in Berlin gegründet hat. Die Besonderheit: Statt Kunststoff verwendet sie den schnell nachwachsenden, biologisch abbaubaren Stoff Cellulose. So landen Haar-Extensions aus Plastik jährlich tonnenweise im Müll und verschmutzen die Umwelt. Die Strähnen können meist nur einmal verwendet werden, nachdem sie von einer professionellen Haarflechterin (Braiderin) in einem Salon gut sechs Stunden lang in mühseliger Arbeit in das eigene Haar gewoben wurden.
Wachsen die Plastik-Extensions nach acht Wochen raus, werden die Zöpfe einfachheitshalber abgeschnitten, erklärt Richardson. Ihr pflanzliches Produkt ließe sich hingegen mehrmals verwenden. „Das hängt immer davon ab, was man damit macht, wie man sie stylt“, sagt die Gründerin. Und wenn sie dann ausgedient haben, zerfielen sie von allein.
Prinzessinnen tragen ihre Haare lang und glatt – oder?
Mit ihren dunklen Locken habe sich Richardson lange Zeit arrangieren müssen. Als Kind wollte sie immer glatte Haare haben – nicht, dass sie jemand für ihren Afro gehänselt hätte. Doch Richardson habe immer gewusst: „Das macht mich anders.“ Bis sie Anfang 20 war, griff sie mitunter zu aggressiven Lotionen, sogenannten „Relaxern“, um ihre Locken chemisch zu glätten. Von außen – durch die Medien und Gesellschaft – wurde ihr vermittelt, dadurch femininer zu sein. „In den ganzen Disney Filmen und Märchen hatten die Prinzessinnen immer langes, glattes, seidiges Haar,“ sagt die Berlinerin. Eine Situation ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Sie war mit ihrer Mutter auf dem Spielplatz und schaukelte, als ein anderes Kind kam, dessen Mutter rief: „Du kannst gleich schaukeln, wenn der Junge fertig ist.“ Heute kann Richardson darüber lachen. Doch damals habe sich in ihr alles zusammengezogen, so weh tat das. „Ich habe das auf meine Haare bezogen, ich habe gedacht, dass es nicht weiblich ist.“ Mit fünf Jahren trug sie dann das erste Mal Braids.
Richardson sieht hinter ihrem Startup somit auch den sozialen Auftrag, die gesellschaftliche Akzeptanz für das Tragen von Locs, Afro und Braids zu erhöhen. Obwohl die 31-Jährige nicht aus einer Unternehmerfamilie stammt, habe sie schon während der Schulzeit den Gedanken gehabt, später eine Firma zu gründen – nur welche, wusste sie lange nicht. Viele Ideen verwarf sie direkt. 2021 habe sie sich intensiver mit den Bestandteilen von Kunsthaar auseinandergesetzt und angefangen, nach pflanzlichen Fasern zu recherchieren. „Das hat für mich alles vereint“, sagt Richardson. „Ich konnte etwas Nachhaltiges, Sinnvolles schaffen und gleichzeitig die Schwarze Kultur mitreinbringen.“ Mit ihrem Haar-Produkt liegt ihr nun ein Milliarden-Markt zu Füßen.
Nach einem Bericht der Datenplattform Worldmetrics.org soll der globale Markt für Black Hair bis 2025 ein Volumen von 90 Milliarden US-Dollar erreichen. Rund fünf Milliarden Dollar machen davon Haarverlängerungen und Perücken für Schwarze Konsumenten aus – die Nachfrage wachse stetig. Obwohl allein in den USA laut Behörden rund 42 Millionen Schwarze leben, was etwa 13 Prozent der Bevölkerung entspricht, hat sich Richardson bewusst dafür entschieden, ihr Startup in Europa zu starten. Hier ist der Markt mit mehr als elf Millionen Menschen mit afrikanischem Hintergrund, die potenzielle Kunden von Kynd Hair sind, zwar bedeutend kleiner, „ich bin hier aber die Erste, die das Thema nachhaltiges Kunsthaar angeht“, sagt die Gründerin. „Außerdem habe ich hier mein Netzwerk, das hilft natürlich mit Word-of-Mouth.“ Künftig hat Richardson vor, schrittweise in die USA, Brasilien und in afrikanische Länder zu expandieren.
Mit Kynd Hair wagt sich Richardson in eine Branche, in der Kunsthaar-Firmen seit Jahrzehnten das gleiche Produkt machen. „Wenn ich in den Afro-Shop gehe, sehen die Packagings aus wie in den 90ern“, sagt die Gründerin. „Ich sehe das als meine Aufgabe, es besser zu machen. Die wenigsten Frauen nutzen Plastik-Kunsthaar gerne, es ist einfach alternativlos.“
Hinzu kommen auch gesundheitliche Bedenken: Zwar ist der synthetische Stoff Kanekalon, aus dem die meisten Kunsthaare bestehen, unschädlich. Die Ursprungsstoffe, die genutzt werden, um Kanekalon herzustellen, sind jedoch toxisch. Es handelt sich um die giftige Flüssigkeit Acrylnitril und das krebserregende Gas Vinylchlorid, die erhitzt werden und sich in einem chemischen Prozess zu haarähnlichen Fasern verbinden. „Das Problem ist, dass bisher nicht bekannt ist, wie sich das auswirkt, wenn ich die Strähnen acht Wochen lang auf meiner Kopfhaut trage, damit schlafe, Sport mache, in die Sauna gehe“, sagt Richardson. Durch die Nutzung reibt sich zudem Mikroplastik ab, das in die Atemwege gelangen kann. „Es gibt zurzeit kaum Forschung dazu“, beobachtet die Gründerin.
Pflanzen-Haar soll noch 2024 auf den Markt kommen
Alles auf eine Karte setzen, wollte Richardson mit Kynd Hair nicht gleich. Sie begann langsam – neben ihrem Job als Brandmanagerin beim Haferdrink-Startup Oatly. Direkt nach dem Aufstehen eine Stunde, nicht mehr, investierte sie anfangs in ihre Idee. „Ich bin ganz gut vorangekommen“, erinnert sie sich. Mit einem Professor der Hochschule Reutlingen habe sie zum Beispiel im Labor gestanden, um mit Fasern zu experimentieren, und habe mit vielen Textil-Experten gesprochen. Auf einer Fachmesse lernte die Gründerin dann Forscher des Thüringischen Instituts für Textil- und Kunststoff-Forschung (TITK) kennen, die an ihrer Idee sofort interessiert waren. Gemeinsam entwickelten sie die ersten pflanzlichen Haarsträhnen aus Cellulose.
Die Vorteile: Das nachwachsende Material ist im Gegensatz zu Erdöl nicht nur in rauen Mengen zu bekommen. „In der Textil-Industrie kommt Cellulose bereits viel zum Einsatz, die Prozesse und Maschinen sind etabliert“, sagt Richardson. Zwar liefen die Haarsträhnen bisher noch langsam und in kleiner Stückzahl vom Band. Um wenige Kilo Pflanzen-Haar herzustellen, benötige die Gründerin mehrere Wochen. „Die Herausforderung, mein Startup irgendwann zu skalieren, ist aber nicht mehr ganz so groß.“
Mit ihrem ersten Prototyp nahm Richardson im vergangenen Jahr an einem Technologiewettbewerb in Thüringen teil und gewann. Als Preis erhielt sie eine Förderung in Höhe von rund 100.000 Euro – ihr Forschungs-Kapital. Erst danach traute sie sich, ihren Kollegen bei Oatly von ihrem Startup-Projekt zu erzählen. „Das war für mich mega aufregend. Bis dato wusste niemand davon, weil ich bis zuletzt Zweifel hatte, ob meine Idee wirklich funktioniert,“ gesteht Richardson. Zwei Monate später reichte sie ihre Kündigung ein, um sich Vollzeit auf Kynd Hair zu konzentrieren.
Bis Ende des Jahres will Richardson ihr Produkt auf den Markt bringen. Erstmal sei der Verkauf über ihren eigenen Onlineshop geplant. Bisher können sich Interessenten dort auf eine Warteliste setzen lassen. Als Preis pro Packung Pflanzenhaar schweben der Gründerin rund 18 Euro vor. Sie wären damit etwa dreimal so teuer wie die Alternative aus Plastik, die es für rund sechs Euro pro Packung zu kaufen gibt. Professionelle Braider hätten die Haarverlängerung der 31-Jährigen bereits ausgiebig getestet – und für gut befunden. Langfristig ist Richardsons Ziel, in den Handel zu kommen. Sie schielt dabei nicht nur auf Haarsalons und Afroshops, die Zubehör wie Haar-Extensions und Kosmetikartikel speziell für die Bedürfnisse der Black-Community anbieten. Nein, Richardson will auch in die Drogeriemärkte.
Makeup-Hersteller Cosnova und frühere CEOs von Oatly-DACH investieren in Startup
Dafür hat die Berlinerin einen wichtigen strategischen Partner gewonnen. Die Gründer des hessischen Kosmetikkonzerns Cosnova, der hinter großen Drogeriemarken wie Essence und Catrice steht und Umsätze über 800 Millionen Euro schreibt, ist im Juli bei Kynd Hair eingestiegen. Sie führen die erste Finanzierungsrunde des Berliner Startups an. Darüber hinaus haben sich Business Angels beteiligt, darunter die ehemaligen CEOs von Oatly DACH, Tobias Goj und Helge Weitz (verantwortet heute das US-Geschäft) sowie die ehemalige Growth Direktorin von Gorillas, Aiste Juknaite.
Ihre ursprüngliche Zielmarke, 500.000 Euro einzusammeln, hat Richardson weit übertroffen. Sie sagt aber auch: "Das erste Mal Fundraising und dann auch noch als Solo-Gründerin war definitiv herausfordernd." Zunächst sei es ihr komisch vorgekommen, Investoren nach viel Geld zu fragen. Auch habe es zum Teil Vorbehalte bei dem Produkt gegeben, trotz des Tech-Bezugs. „Mit einem Consumer-Produkt, das sich vor allem an eine Schwarze, weibliche Zielgruppe richtet, hat man es in einer VC-Landschaft, in der hauptsächlich weiße Männer die Entscheider sind, nicht unbedingt einfach", sagt Richardson. Manche Investoren hätten sie gefragt, ob ihr Produkt nicht nur eine Nische sei und ob Braids ein kurzlebiger Trend seien.
Noch gehört es zur Realität, dass Investoren häufig Gründer bevorzugen, die ihnen soziokulturell näher sind, etwa durch ein ähnliches Aussehen, das gleiche Geschlecht oder denselben Uni-Abschluss. Die Rede ist dann vom sogenannten „implicit bias.“ Die Voreingenommenheit hat mitunter zur Folge, dass weniger als 0,5 Prozent des gesamten Risikokapitals an Startups geht, die von Schwarzen Menschen geführt werden. Das zeigt etwa eine 2023 erhobene Crunchbase-Studie für den US-Markt.
Richardson ist mit ihrer Finanzspritze nun erstmal für die nächsten 18 Monate gerüstet. Dann will sie wieder auf Investorensuche gehen. Das Geld aus der jetzigen Runde will die Gründerin vorrangig in die Produktion und in den Launch stecken sowie erste Mitarbeiter einstellen.
Vorbild Rihanna? Gründerinnen ziehen mit inklusiven Pflege-Produkten nach
Wenn die 31-Jährige das heutige Beauty-Angebot für People of Color in Drogeriemärkten mit dem in den 90ern vergleicht, sieht sie einen Fortschritt. „Beim Aufwachsen gab es kaum Produkte, die mich abgebildet haben. Die Zielgruppe wurde von großen Kosmetikkonzernen bisher nicht beachtet.“ Dass sich das nun ändert, liege hauptsächlich daran, dass es die Community selbst in die Hand genommen habe. „Rihanna war mit Fenty eine der Ersten, die eine inklusive Makeup-Brand rausgebracht hat, indem sie viele Hautnuancen abdeckt. Darauf haben viele Marken reagiert“, sagt Richardson.
Jüngere Kosmetik-Startups wie Topicals, das Cremes gegen Haut-Unreinheiten und Pigmentflecken für alle Ethnien und Hauttöne anbietet, würden in den USA derzeit schnell wachsen. „Der Blick in die USA ist für mich sehr spannend. Das Thema Kultur und Repräsentation wird in Marken ganz anders ausgedrückt“, betont Richardson. Doch auch in Deutschland geht es voran. Seien es Gründerinnen wie Nana Addison mit ihrer Haarpflegemarke Ancient Beauty, Abina Ntim mit der Satinkappe Jona, die Afrohaar vorm Abrechen schützen soll, Sarah Bunne mit Ivy Pow, die Shampoopulver für jeden Haartyp anbietet oder Adelaide Wolters mit ihrer Hautcreme Unrefined Riches – sie alle wollen mehr Diversität in die Beautyregale bringen. Richardson, die sich mit vielen Gründerinnen austauscht, begeistert das. „Ich finde diese Entwicklung super schön.“